Das geheime Netzwerk der Natur (eBook)
224 Seiten
Ludwig (Verlag)
978-3-641-20707-6 (ISBN)
Die Natur steckt voller Überraschungen: Laubbäume beeinflussen die Erdrotation, Kraniche sabotieren die spanische Schinkenproduktion und Nadelwälder können Regen machen. Was steckt dahinter? Der passionierte Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben lässt uns eintauchen in eine kaum ergründete Welt und beschreibt das faszinierende Zusammenspiel zwischen Pflanzen und Tieren: Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Gibt es eine Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Arten? Und was passiert, wenn dieses fein austarierte System aus dem Lot gerät? Anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und seiner eigenen jahrzehntelangen Beobachtungen lehrt uns Deutschlands bekanntester Förster einmal mehr das Staunen. Und wir sehen die Welt um uns mit völlig neuen Augen ...
Peter Wohlleben, Jahrgang 1964, wollte schon als kleines Kind Naturschützer werden. Er studierte Forstwirtschaft und war über zwanzig Jahre lang Beamter der Landesforstverwaltung. Heute arbeitet er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen, hält Vorträge und Seminare und ist Autor von Büchern zu Themen rund um den Wald und den Naturschutz, die sich allein im deutschsprachigen Raum 2,5 Millionen Mal verkauft haben. Für seine emotionale und unkonventionelle Wissensvermittlung wurde Peter Wohlleben 2019 die Bayerische Naturschutzmedaille verliehen. Seine Bücher sind in über 46 Ländern erschienen.
Wie kompliziert Zusammenhänge in der Natur sein können, lässt sich wunderbar am Beispiel der Wölfe zeigen. Die Beutegreifer sind nämlich erstaunlicherweise in der Lage, den Lauf von Flüssen zu verändern und somit Ufer neu zu gestalten.
Die Sache mit den Flussläufen fand im Yellowstone-Nationalpark statt. Dort hatte man im 19. Jahrhundert systematisch damit begonnen, die Wölfe auszurotten. Das geschah vor allem auf Druck von Farmern aus dem Umland hin, die um ihr Weidevieh fürchteten. Um 1926 war das letzte Rudel ausgelöscht, und bis in die 1930er-Jahre wurden nur noch ab und an einzelne Tiere beobachtet, bis auch diese schließlich erlegt waren. Die anderen im Park lebenden Arten blieben verschont oder wurden sogar aktiv unterstützt, wie etwa die Hirsche. Waren die Winter zu hart, wurden sie sogar von den Rangern gefüttert.
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Kaum behelligt von Beutegreifern, wuchsen die Bestände stetig an, und etliche Regionen des Parks wurden regelrecht kahl gefressen. Besonders die Flussufer waren betroffen. Die saftigen Gräser an ihren Rändern verschwanden, ebenso sämtliche Schösslinge von Bäumen. Das verödete Land bot kaum noch Nahrung für Vögel, sodass deren Artenspektrum ebenfalls stark zurückging. Auch die Biber zählten zu den Verlierern. Sie sind nicht nur auf Wasser angewiesen, sondern auch auf Bäume, die nah am Ufer stehen. Weiden und Pappeln zählen zu ihren Leibspeisen. Sie fällen die Bäume, um an die nährstoffreichen Triebe heranzukommen, die sie dann genüsslich verspeisen. Weil nun aber alle jungen Laubbäume entlang der Gewässer in den hungrigen Mägen der Hirsche landeten, hatten die Biber nichts mehr zu beißen und verschwanden.
Die Ufer verödeten, und da kaum noch Vegetation die Böden schützte, konnten immer wieder auftretende Hochwasser mehr und mehr Erdreich mitreißen – die Erosion schritt rasch voran. In der Folge begannen die Flussbetten stärker zu mäandrieren, sich also durch die Landschaft zu schlängeln. Je schutzloser der Untergrund, desto stärker ist dieser Effekt vor allem in flachen Gebieten.
Dieser traurige Zustand hielt sich über Jahrzehnte, genauer gesagt, bis 1995. In diesem Jahr wurden Wölfe in Kanada gefangen und im Yellowstone-Park ausgesetzt, um das ökologische Gleichgewicht wiederherzustellen.
Was in den folgenden Jahren geschah und bis heute andauert, wird von Wissenschaftlern als »trophische Kaskade« bezeichnet. Der Begriff bedeutet so viel wie eine Veränderung des gesamten Ökosystems über die Nahrungskette, von oben beginnend. Oben stand nun der Wolf, und was er auslöste, kann man vielleicht eher als trophische Lawine bezeichnen. Er tat, was wir alle tun, wenn wir Hunger haben: Wir besorgen uns etwas zu essen. In diesem Fall waren es die Hirsche, die sich in großer Zahl und leicht jagdbar präsentierten. Der Ausgang der Geschichte scheint klar: Die Wölfe fressen die Hirsche, deren Zahl drastisch schrumpft, und so bekommen die kleinen Bäume wieder eine Chance. Heißt die Lösung also Wolf statt Hirsch? Solche drastischen Tauschaktionen gibt es in der Natur glücklicherweise nicht, denn je weniger Hirsche, desto länger dauert die Suche nach ihnen, und ab einer bestimmten Restzahl lohnt es sich für die Wölfe nicht mehr; also wandern sie ab oder verhungern.
Im Yellowstone-Nationalpark konnte man jedoch zusätzlich etwas ganz anderes beobachten: Die Wölfe sorgten dafür, dass sich das Verhalten der Hirsche änderte: Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Die Tiere mieden die offenen Bereiche der Flussufer und zogen sich in Areale zurück, die einen besseren Sichtschutz boten. Zwar kamen sie hin und wieder an die Gewässer, doch hielten sie sich dort nicht mehr lange auf – ständig irrte ihr Blick durch die Landschaft in der Sorge, einen der grauen Jäger zu sichten. Dadurch hatten sie kaum noch Zeit, sich nach den Schösslingen von Weiden und Pappeln zu bücken, die nun wieder in großer Zahl entlang der Ufer wuchsen. Die beiden Baumarten gehören zu den sogenannten Pioniergehölzen und können rascher wachsen als die meisten anderen Bäume – Jahrestriebe von einem Meter sind bei ihnen keine Seltenheit.
Innerhalb weniger Jahre befestigten sich die Ufer wieder, sodass die Flüsse ruhiger in ihren Betten flossen und kaum noch Erde abtransportierten. Das Mäandrieren wurde beendet; die Kurven, die die Flüsse bis dato in die Landschaften geschnitten hatten, blieben allerdings erhalten.
Vor allem aber gab es wieder Nahrung für die Biber. Diese begannen, ihre Dämme zu bauen, wodurch das Wasser noch langsamer floss. Es bildeten sich vermehrt Tümpel, die kleine Paradiese für Amphibien bildeten. In dieser aufblühenden Vielfalt nahm auch die Anzahl der Vogelarten wieder kräftig zu (auf der Homepage des Yellowstone-Nationalparks finden Sie dazu ein beeindruckendes Video).1
Es gibt durchaus Kritik an dieser Sichtweise. Denn zeitgleich mit der Rückkehr der Wölfe endete eine mehrjährige Dürre, und mit der Rückkehr stärkerer Regenfälle ging es auch den Bäumen wieder besser – Weiden und Pappeln lieben feuchten Boden. Doch diese Erklärung des Phänomens lässt die Biber außer Acht. Wo sie leben, können auch Schwankungen der Niederschläge kaum etwas bewirken, zumindest nicht in Ufernähe. Die Dämme halten das Flusswasser zurück, bewirken ein Durchfeuchten der Böschungen und helfen somit den Bäumen, an Wasser zu kommen, auch wenn es einmal monatelang nicht regnet. Genau dieser Prozess wurde mit der Rückkehr der Wölfe wieder in Gang gesetzt: weniger Hirsche in Ufernähe = mehr Weiden und Pappeln = mehr Biber. Alles klar?
Ich muss Sie leider enttäuschen, denn die Sache kann sogar noch komplizierter werden. Manche Forscher sehen in der bloßen Anzahl der Hirsche das Problem und nicht in deren Verhalten. Es seien seit der Rückkehr der Wölfe insgesamt weniger Hirsche im Park (weil seither so viele gefressen wurden) und daher logischerweise auch ein paar weniger an den Ufern zu sehen.
Sind Sie jetzt vollends verwirrt? Kein Wunder. Ich muss gestehen, dass ich mir selbst zeitweilig wieder wie der im Vorwort erwähnte Fünfjährige vorkam. Im Falle von Yellowstone beginnt das Uhrwerk allerdings langsam wieder zu ticken, weil die Eingriffe zurückgefahren werden. Und wenn Wissenschaftler diesen Prozess noch nicht bis ins letzte Detail verstanden haben, ist das für sich genommen doch auch schon ein erfreuliches Eingeständnis. Dennoch: Je stärker die Einsicht, dass schon kleinste Störungen zu nicht kalkulierbaren Veränderungen führen können, desto besser sind die Argumente für den Schutz großer Gebiete.
Die Rückkehr der Wölfe half übrigens nicht nur den Bäumen und den Bewohnern der Flussufer, auch andere Beutegreifer haben davon profitiert. Es waren die Grizzlys, denen es in den Jahrzehnten der Überbevölkerung durch Hirsche nicht so gut ging. Bären sind im Herbst auf Beeren angewiesen. Indem sie unermüdlich die kleinen mit Zucker und anderen Kohlehydraten angefüllten Kraftkügelchen futtern, legen sie ordentlich an Gewicht zu. Die kleinen Sträucher mit ihren scheinbar unerschöpflichen Beständen lieferten irgendwann aber nicht mehr genug, oder, besser gesagt, sie wurden geplündert – denn Hirsche lieben ebenfalls kalorienreiche Früchte. Als nun wieder Wölfe Jagd auf die großen Pflanzenfresser machten, blieb zur Erntezeit im Herbst mehr für die Bären übrig, denen es seitdem gesundheitlich wesentlich besser geht.2
Ich habe die Wolfsgeschichte mit der Feststellung begonnen, dass die Ausrottung der Bestände durch den Druck der Rinderzüchter ausgelöst wurde. Die Wölfe verschwanden, die Rinderzüchter nicht. Sie siedeln bis heute rings um das Yellowstone-Gebiet und halten ihr Vieh auf den Weiden bis hart an die Parkgrenze. Die Einstellung hat sich bei vielen von ihnen in den vergangenen Jahrzehnten nicht geändert, und so ist es kein Wunder, dass auf die Wölfe geschossen wird, sobald sie den Park verlassen. Der Wolfsbestand ist in den letzten Jahren erneut stark zurückgegangen, obwohl das Gebiet für eine weitere Ausbreitung sehr gut geeignet wäre. Von einem Höchststand mit 174 Exemplaren im Jahre 2003 ist die Zahl auf rund 100 Tiere gesunken.
Der Grund dafür liegt nicht allein in der Abneigung der Farmer, sondern auch in der verbesserten Technik. Viele Yellowstone-Wölfe tragen inzwischen Senderhalsbänder, mit deren Hilfe Forscher die Rudel orten und erfahren können, auf welchen Wegen die Tiere durch den Park ziehen – oder über seine Grenzen hinaus. Wie mir die Wolfsforscherin Elli Radinger berichtete, machen sich die illegalen Schützen dieselben Signale zunutze, um die Tiere abzupassen, sobald sie das schützende Areal verlassen haben. Effektiver kann man Wölfe nicht bejagen, und scheinbar haben das auch deutsche Wilderer begriffen. So wurde 2016 in Mecklenburg-Vorpommern in der Lübtheener Heide ein junger Wolf getötet, der ebenfalls ein Sendehalsband getragen hatte.3 Es ist schade, dass diese wissenschaftliche Technik so ausgenutzt wird; hilft sie doch, die Wanderbewegungen von Wölfen besser zu verstehen.
Doch trotz der schlechten Nachrichten ist der Wolf gleichzeitig ein Botschafter für den Optimismus im Umweltschutz. Es grenzt an ein Wunder, dass in einer so dicht besiedelten Region wie Mitteleuropa wilde Tiere dieser Größe zurückkehren können – auch und vor allem, weil die Bevölkerung dies nicht nur akzeptiert, sondern regelrecht wünscht. Das ist nicht nur ein Segen für alle Naturfreunde, sondern vor allem für die Natur selbst. Wir sind in weiten...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Technik | |
Schlagworte | Bäume • Beziehungen zwischen Pflanzen und Tieren • eBooks • Förster • Naturlandschaft • Tiere • Veränderungen im Ökosystem • Wald • Waldtiere • Wechselbeziehungen in der Natur • Weihnachten • Weihnachtsgeschichten • Zusammenspiel in der Natur |
ISBN-10 | 3-641-20707-X / 364120707X |
ISBN-13 | 978-3-641-20707-6 / 9783641207076 |
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