Verfressen, sauschnell, unkaputtbar. (eBook)

Das phantastische Leben der Kakerlaken
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
192 Seiten
Refinery (Verlag)
978-3-96048-068-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verfressen, sauschnell, unkaputtbar. -  Hannes Sprado
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Ein Hotel, spätnachts: Hannes Sprado hat eine einprägsame Begegnung - mit Kakerlaken! Plötzlich tauchen sie auf und rennen quer durchs Zimmer. Als er endlich eine erwischt, kann er sie selbst mit roher Gewalt nicht außer Gefecht setzen. Sprado entwickelt immer mehr Respekt für diese Tiere. Denn Kakerlaken sind DAS Erfolgsmodell der Evolution. In 350 Millionen Jahren haben sie sich weder von Eiszeiten noch von Meteoriten beeindrucken lassen. Sie finden Nahrung in allem, was sie umgibt, und würden als Einzige einen Atomschlag überleben. Die amüsante Geschichte einer faszinierenden Spezies.

Hannes Sprado, 1956 geboren, war Redakteur und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften. Seit 2006 ist er Herausgeber der P.M.-Zeitschriftengruppe. Er lebt mit seiner Familie in München.

Hannes Sprado, 1956 geboren, war Redakteur und Chefredakteur mehrerer Zeitschriften. Seit 2006 ist er Herausgeber der P.M.-Zeitschriftengruppe. Er lebt mit seiner Familie in München.

Weiche Schale, weicher Kern


Anatomie eines Monsters


Ein Hauch von modriger Erde, Lakritz und Mäuseleichen hängt in der Luft wie schweres Parfüm, als Dr. Erik Schmolz im Umweltbundesamt (UBA) in Berlin-Dahlem die chromblitzende Tür zur Kakerlaken-Abteilung aufstößt. Rund um die Uhr surren hier die Klimaanlagen. Brutschränke klappern. Luftbefeuchter zischen. Zusammen erzeugen sie eine konstante Geräuschkulisse und Sumpfhitze aus der Steckdose.

Schmolz ist kein kauziger Spinner, der in groß karierten Hosen und mit Schmetterlingsnetz auf die Pirsch geht, um buchhalterisch langweilige Exemplare exotischer Gattungen aufzuspießen. Mit Jeans, Koteletten und T-Shirt wirkt der Insektenspezialist vielmehr wie ein Student im letzten Semester, was ihn sympathisch macht, ohne seine Kompetenz zu schmälern.

Sein ganzes akademisches Leben hat er Insekten und Ungeziefer gewidmet. Besonders interessieren ihn die Kakerlaken, die in den Wärmekammern seines Labortrakts vom Ei bis zum Oldtimer alle Stadien des Werdens und Seins durchlaufen. Schmolz reibt sich an der betrüblichen Erkenntnis: »Insektenforschung hat keinen glamourösen Ruf. Gehirnchirurgie – das klingt gleich ganz anders.« Beirrt hat ihn dies freilich nie. »Ein wahrer Kakerlakenforscher findet die Tierchen ganz und gar nicht abstoßend, selbst wenn sie Müll fressen – was einige von ihnen wirklich tun.«

»Kakerlakenbunker« heißt diese Dienststelle im Kantinenjargon. Offiziell ist es das Fachgebiet Römisch Vier Arabisch Eins Punkt Vier des UBA, untergebracht in einem Neubau. Den darf nur betreten, wer angemeldet ist. Oder hier arbeitet und sich mit »Gesundheitsschädlingen und ihrer Bekämpfung« beschäftigt.

Hinter den Fenstern färbt das Zwielicht die Welt grau in grau, während die langen Schatten der Morgendämmerung sich wie eine dunkle Flüssigkeit über den Boden erstrecken. Dünnes, geisterhaftes Licht dringt in den Raum und vermischt sich mit dem Grell der Neonröhren, die an der Decke flackern. Und mit einem irrsinnigen Anblick: Unmengen von Kakerlaken hausen zwischen schaschlikartig aufgesteckten Pappdeckeln in durchsichtigen Plastikkisten, die sich auf dem weißgekachelten Fußboden stapeln und die Wandregale füllen. Es müssen Tausende sein, die hier wachsen und gedeihen. Vielleicht abertausende. Jedenfalls elendig viele.

Was da in den Kisten wimmelt und wuselt, krabbelt und knabbert, dient der Forschung. An den ausgebufften Überlebenskünstlern testen Schmolz und seine Kollegin Gabi Schrader Gifte und Techniken, die das Getier ins Jenseits befördern sollen. Mit Akribie werden die Kakerlaken gepäppelt, um beim Sterben stark zu sein. Viel Gemüse und frisches Obst halten sie fit und bei Laune. Ihr Lebenszweck – und zugleich ihr Todesurteil – ist festgehalten im Paragraph 18 des Infektionsschutzgesetzes. Auftraggeber sind Chemieunternehmen aus Deutschland und Europa. Das Umweltbundesamt prüft die Wirksamkeit der Anti-Kakerlaken-Mittel für den Gesundheitsbereich. Sind sie tödlich? Effizient? Und sicher?

»Kakerlaken sind echte Aliens«, sagt Schmolz, »und ein Glücksfall der Evolution.« Geht es um Kakerlaken, passen gröbste Beleidigungen und artige Komplimente offenbar in einen Satz. Ebenso wie Tötungsbereitschaft und größte Hochachtung in einen Menschen: »Denken Sie immer daran«, ermahnt mich Frau Schrader, »wenn Sie eine Kakerlake totschlagen, zerstören Sie ein Wunderwerk der Natur.«

Wie recht sie hat. Die Kakerlake ist eine Kreatur, die mehr Erdgeschichte erlebt hat, als ein Menschenhirn sich vorstellen kann. Es gibt sie schon schwindelerregend lange – und sie ist immer noch bestens im Geschäft. Man könnte sagen, sie wird demnächst 350 Millionen Jahre alt. In der Harvard Universität in den USA liegt ein 300 Millionen alter Bernstein, darin eingeschlossen ein Mega-Urahne des Geburtstagskindes. Von frühester Zeit an ist sie dabei – ein Paradebeispiel unbezwingbaren Überlebenswillens. Und doch blieb sie stets ein trauriger Außenseiter.

Zwischen 3500 und 4000 Arten wurden bislang katalogisiert. Die Kakerlake hatte ja auch reichlich Zeit, diese Vielfalt zu entwickeln. Auf eine genaue Zahl können sich die Forscher nicht einigen, manche schätzen sogar, dass es weitere tausend Arten geben könnte, die noch unentdeckt in den letzten Urwäldern der Erde leben, einige vielleicht so riesenwüchsig wie Feldmäuse.

Der Insektenspezialist George Beccaloni betreut als Kurator im weltweit größten Artenarchiv, dem Natural History Museum, London, die Kakerlakenabteilung. Daneben verwaltet er auch Stab-, Spring- und Heuschrecken, Ohrwürmer, Grillen und Termiten, zusammen etwa eine Million Exemplare, die meisten von ihnen sauber aufgespießt in hölzernen Schaukästen. Beccaloni ist davon überzeugt, dass es 8000 Kakerlakenarten gibt.

Um das Image der Schabe in ein besseres Licht zu rücken, hat er zusammen mit dem deutschen Kakerlaken-Guru Ingo Fritzsche aus Wernigerode die Cockroach Studies gegründet, ein zweimonatlich erscheinendes Fachjournal, das zeigen soll, wie interessant, ja aufregend die Tiere sind. Die erste Ausgabe erschien 2006; seither erfreuen sich die Cockroach Studies großer Beliebtheit, bei Profis und Amateuren.

In einer frühen Veröffentlichung hat das Blatt drei Rekordhalter unter den scheuen Geschöpfen aufgelistet:

• Die kleinste ihrer Art ist die Nordamerikanische Kakerlake (Attaphila fungicola). Sie wird nur drei Millimeter lang und lebt im Nest der Blattschneiderameise.

• Die schwerste ist die flügellose Australische Rhinozeros-Kakerlake (Macropanesthia rhinoceros). Sie wiegt bis zu 33,5 Gramm und kann acht Zentimeter groß werden. Mit einer Lebenserwartung von über zehn Jahren gehört sie zu den langlebigsten Insekten; so alt werden sonst nur einige Ameisenköniginnen.

• Die größten Flügel hat die Zentral- und Südamerikanische Kakerlake. Ihre Schwingen erreichen eine Spannweite von bis zu 18,5 Zentimeter. Der Jumbo unter den Kakerlaken wurde erst vor ein paar Jahren auf Borneo entdeckt, einer Insel im Indonesischen Archipel. Zehn Zentimeter kann dieser Bursche lang werden. Nur sein Körper. Die Fühler kommen noch dazu. Zum Glück ist Borneo weit weg. Bis dahin galt eine etwas weniger als zehn Zentimeter lange Kakerlake in Mittelamerika mit dem wissenschaftlichen Namen Megaloblatta blaberoides als größte bekannte Art.

Beherzt greift Schmolz in eine offene Kiste. »Unser Goliath ist die hier«, sagt er, »ein echtes Schätzchen.« Er hält mir ein handtellergroßes Geschöpf vor die Nase, das so bedrohlich aussieht wie Mike Tyson, wenn er seine Beruhigungsmittel nicht genommen hat. Die tückischen kleinen Augen leuchten wie Ofenlöcher; die Schabe zappelt mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Goldhamster.

Das Tier gehört an die Leine, denke ich.

»Eine Fauchkakerlake«, jauchzt Schmolz begeistert. »Aus Madagaskar. Ein erstklassiges Exemplar.«

Für mich ein weißer Hirsch auf der Lichtung. Noch nie gesehen.

»Pusten Sie mal!«, sagt Schmolz.

Ich puste, ohne eine Ahnung, warum. Mal gucken, wie sie das findet.

Sie pumpt heftig Luft durch die Atemlöcher. Der mahagonifarbene Rückenpanzer hebt und senkt sich. Dann zischt sie los – laut, sehr laut. So laut wie eine Katze. Ich zucke zurück. Der schrille Ton lässt mich erschauern.

»Darum trägt sie ihren Namen«, erklärt Schmolz.

Alles klar.

»Möchten Sie sie mal anfassen?«

»Och nö.«

Schmolz wirkt etwas enttäuscht, sagt aber nichts und streichelt die dicke fauchende Schabe.

Dafür ergreift Frau Schrader das Wort: »Fauchkakerlaken sind die Pavarottis unter ihresgleichen. Sie beherrschen sechs bis acht Töne, mit denen sie kommunizieren oder Feinde abwehren. Unglaublich alt werden sie – so zwei bis drei Jahre.«

Der Steckbrief macht mir das zischende Ungetüm nicht sympathischer.

Zufrieden mit seiner Inszenierung setzt Schmolz das exzentrische Prachtstück zurück in die heimische Kiste, wo es sich umgehend in den Schutz und die Dunkelheit einer zerknitterten Pappschachtel verkrümelt.

Verglichen mit der Fauchkakerlake ist die Deutsche Kakerlake (Blattela germanica) das Lieschen Müller ihrer Art. Sie wird weder besonders groß noch besonders schwer, und mit nur 1,5 Zentimetern Länge gehört sie zu den Zwergwüchsigen der Branche. Schön ist sie auch nicht.

Außer ihr haben es sich in Zentraleuropa vier weitere Arten bequem gemacht, die synanthrop, also in unmittelbarer Nähe zu uns Menschen leben: die Orientalische Kakerlake (Blatta orientalis), die Braunbandkakerlake (Supella longipalpa), die Amerikanische Kakerlake (Periplaneta americana) sowie die Australische Kakerlake (Periplaneta australasiae).

»Weltweit lebt vielleicht ein Prozent aller Kakerlaken in direkter Gesellschaft des Menschen, mehr nicht », sagt Schmolz. »Die anderen 99 Prozent leben weit weg von uns, die wollen mit Menschen gar nichts zu tun haben.«

Gabi Schrader öffnet eine weitere Kiste und pflückt zwei schmutzbraune Küchenkakerlaken heraus, lässt sie über ihre Hand krabbeln und betrachtet sie seltsam entrückt.

»Die Stärke der Kakerlake ist das Simple«, sagt sie und sieht den beiden zu, wie sie ihren Unterarm hinauflaufen. »Das hat sie zu einem Erfolgsmodell der Evolution gemacht – obwohl sie ein Wesen ohne Intelligenz ist.«

Doch was ist schon ein hoher IQ gegen einen Körper, der Weltrekorde sprengt?

In den Genen und Konturen des Kakerlakenleibes hat sich die historische Last von Jahrmillionen abgelagert. Alle Gefahren, Epidemien und Krisen ihrer Vorfahren sind in der...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte anderer blickwinkel • Angst • Anpassen • Artenvielfalt • Aussterben • Beinchen • Biologie • Buch 2017 • das dunkle ritual • Das große Krabbeln • Eiszeit • Ekel • Erde • Erfolg • Erfolgsmodell • Evolution • Familie • faszinierend • Feinde • Flucht • Forschung • Fressen • Geheimnis • Geheimnisse • Geräusche • Geschichte • Geschwister • Gesundheit • Gewalt • Gift • Größe • gruselig • Hotel • Humor • Information • Insekt • Insekten • insektenspray • interessant • Jagen • Kakerlaken • Kammerjäger • Kino • körperlänge • Krabbeln • Leben • Lebewesen • Lernen • Liebesleben • Menschen • Meteorit • Nachkommen • Nacht • Nahrung • Name • Natur • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Nutzen • Plage • Psychologie • Respekt • runengrab • sach • Sachbuch • Schabe • Schlagen • Spezies • Sympathie • Talente • Tiere • Tierwelt • Töten • tötungsversuche • Übertragbare Krankheiten • Umwelt • Ungeziefer • Unterschiede • Versteck • Weltherrschaft • Wissenschaft • zäh • Zeichnungen • Zucht
ISBN-10 3-96048-068-7 / 3960480687
ISBN-13 978-3-96048-068-6 / 9783960480686
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