Maloche (eBook)

Eine kurze Betrachtung der Arbeit
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
214 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-561750-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Maloche -  Reg Theriault
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Für die meisten Menschen ist Arbeit etwas, das man möglichst vermeidet. Wir gehen der Arbeit nicht nur aus dem Weg, sondern sorgen, sofern wir genügend Macht oder Geld besitzen, dafür, daß jemand anderer sie für uns tut. Was heißt es, wenn man sein ganzes Leben lang schwere körperliche Arbeit verrichtet? Reg Theriault weiß darüber aus eigener Erfahrung zu berichten - eloquent und unterhaltsam. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Reg Theriault (1924-2014) zog zunächst als Feldarbeiter über die Obstplantagen im Westen der USA, bevor er mehr als 30 Jahre im Hafen von San Francisco arbeitete.

Reg Theriault (1924–2014) zog zunächst als Feldarbeiter über die Obstplantagen im Westen der USA, bevor er mehr als 30 Jahre im Hafen von San Francisco arbeitete.

Das waren die Freuden


Während eines Zeitraums von etwa 80 Jahren, beginnend kurz nach dem Anfang unseres Jahrhunderts, zog eine Gruppe von Nomaden durch die westlichen Staaten Amerikas und brachte Ernten ein. Sie nannten sich Wanderarbeiter, und ich wurde als einer von ihnen geboren.

Ihr Ursprung lag im pazifischen Nordwesten, und die Eisenbahn erschuf sie. Tatsächlich erschuf die Eisenbahn sie in doppeltem Sinne: erstens, indem sie den Kontinent mit Schienen überzog, so einen landesweiten Markt für frisches Obst und Gemüse schuf und damit Megafarmen und riesige Plantagen anstelle der unzähligen kleinen Familienfarmen förderte, die nur lokale Märkte bedienten; und zweitens, indem sie ein Transportmittel bot und Erntehelfern in riesiger Zahl erlaubte, dorthin zu gehen, wo sie benötigt wurden, dorthin, wo die Arbeit war. Die Wanderarbeiter waren Amerikas erste Hobos.

Um 1915 war die Obsternte im Staate Washington die größte in Amerika. Der Kühlwagen, eigentlich nichts weiter als ein isolierter geschlossener Lastwagen mit Eisbehältern an beiden Enden, machte Äpfel und anderes Obst und Gemüse in allen Winkeln Amerikas verfügbar. Jeden Herbst gab es im Staate Washington drei Monate Arbeit für jedermann, der sie wollte. Schwere Arbeit.

Wenn die Plantage angelegt ist und beginnt, Früchte zu tragen, durchläuft die Apfelindustrie jedes Jahr drei Stadien. Im Frühling, nachdem die Blüten abgefallen sind, geht jemand mit einer Leiter jeden Ast an jedem Baum auf der Plantage ab, bricht ein ausgewähltes Drittel der kleinen grünen Fruchtknoten ab und läßt sie zu Boden fallen. Dieses Ausdünnen geschieht, damit die verbleibenden Äpfel größer, ansehnlicher und wertvoller werden. Im frühen Herbst tragen Arbeiter dieselben Leitern wieder auf die Plantage und pflücken die reifenden Früchte in lange Leinwandsäcke, die ihnen von der Brust bis fast zu den Knien herunterhängen. Wenn ein Sack voll ist – er faßt 60 oder 70 Pfund Äpfel –, steigt der Pflücker von der Leiter und schüttet die Äpfel in einen Karren, in dem sie zur Packhalle transportiert werden.

Heute werden die Äpfel lediglich gewaschen, mit einem klaren Plastiküberzug versehen, um sie zu konservieren, und lose in Pappkartons zum Markt geschickt. Bis vor kurzem jedoch wurden Äpfel wie auch Orangen, Tomaten, Pfirsiche, Birnen und bestimmte Melonen einzeln in Seidenpapier gewickelt und sorgfältig in hölzerne Kisten oder Kästen gepackt. Das Seidenpapier verhinderte, daß ein einziger fauler Apfel die ganze Kiste ansteckte.

Wenn die Ernte begann, wurden zuerst alle Ortsansässigen angeheuert, welche die Packhäuser finden konnten. Durchreisende, nicht nur die Leute von den Güterzügen, wurden zur Arbeit erst eingesetzt, wenn man sie brauchte – das heißt wenn die Früchte in solchen Mengen reiften, daß es Äpfel zu »schneien« begann. Dieser Auswahlprozeß verstärkte und vergrößerte die bereits bestehende Animosität zwischen den »Einheimischen« und den Wanderarbeitern und machte es schwer, eine geschlossene Front zu bilden, wenn man sich gegen den Boß erhob, um mehr Geld zu fordern.

Etwa um die gleiche Zeit, zu der Äpfel in Washington zu einer Wachstumsindustrie wurden, begann die Anbaufläche von Zitrushainen in Südkalifornien sich jährlich zu verdoppeln, ebenso wie die Anbaufläche für Pfirsiche, Birnen und Tomaten in anderen Teilen des Staates. Wenn die Apfelernte im November zu Ende war, färbten sich im Süden allmählich die Navel-Orangen. Güterzüge fuhren auch in diese Richtung, und wie zum Teufel konnte man den Winter besser zubringen als im sonnigen Südkalifornien? Was meine Familie betraf – Mutter, Vater, Schwester, Bruder und ich –, so war unser Transportmittel in den Goldenen Staat ein Ford Modell T mit fehlenden Seitenvorhängen und einem Faltdach. All unsere Habseligkeiten wurden auf die Trittbretter gepackt – in Apfelkisten, worin sonst? Zwei Ersatzreifen hingen an der Rückseite des Automobils.

Das vielfältige Klima Kaliforniens erlaubt den Anbau der verschiedensten landwirtschaftlichen Erzeugnisse während des ganzen Jahres – Orangen im Winter und Frühling, Pfirsiche im Mittsommer, Birnen etwas später, Salat und Tomaten fast das ganze Jahr über. Und dann gab es da ja auch noch jeden Herbst die Äpfel in Washington. Dadurch entstand rasch eine Gruppe von Arbeitern, die den Ernten folgten. Es handelte sich immer um Akkordarbeit, und die Schnelligkeit und Geschicklichkeit, welche die Arbeiter beim Packen eines Gutes erwarben, ließen sich leicht auf das nächste übertragen.

Der alleinstehende, rauhe Wanderarbeiter der Anfangszeit wich Familien, als diese Männer Ehefrauen fanden, gewöhnlich aus den Reihen der Einheimischen, Frauen, denen die Wanderarbeiter offenbar gar nicht so übel erschienen. Rasch entwickelte sich eine Identifizierung mit der Gruppe, und ein innerer Zusammenhalt, gefördert durch die Überreste der Hobo- bzw. Wobbly-Ideologie, versetzte die Arbeiter in die Lage, ihre Forderungen durchzusetzen und ihre Löhne so weit anzuheben, daß sie davon leben konnten. Die Spediteure und Erzeuger einerseits und die Wanderarbeiter andererseits blieben jedoch bis zum Schluß Gegner. Die Arbeitgeber hätten es vorgezogen, keine Wanderarbeiter zu beschäftigen, doch wer sonst war, wenn der Schnee kam, schon bereit, tagein und tagaus zwölf oder 14 Stunden zu arbeiten, um die Ernte zu retten?

Für einen heranwachsenden Jugendlichen bedeutete das Leben als Wanderarbeiter, drei- bis fünfmal im Jahr die Schule zu wechseln, in manchen Jahren noch häufiger. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört, wie wir zeitig am Morgen das Imperial Valley oder das tiefergelegene San Joaquin verließen und nach Norden zogen, einen Job hinter uns lassend, um den nächsten zu suchen. Ich war das jüngste von drei Kindern, und mein Platz im Wagen, nun einem geschlossenen Sedan, war die Ablage vor dem Rückfenster, wo ich quer zu liegen und auf den entschwindenden Highway zu starren pflegte.

Die Leute äußern häufig Bestürzung, wenn sie von den Umständen meiner Schulbildung erfahren, aber ich muß gestehen, daß ich mich niemals benachteiligt fühlte, weder als Jugendlicher noch später. Natürlich hatte ich immer meine Befürchtungen, wenn ich mit einer neuen Schule und fremden Menschen konfrontiert war – in einer kleinen Stadt mitten im San Joaquin Valley versuchten die Schulbehörden einmal, drei von uns von den der Mehrheit zugehörigen Kindern abzusondern –, doch häufig konnte ich auch Freundschaften an Schulen erneuern, die ich im Vorjahr besucht hatte. Und da gab es immer noch die anderen Kinder von Wanderarbeitern. Zweifellos war unsere Ausbildung bruchstückhaft. So lernte ich beispielsweise nie, ausführlich zu dividieren; eine Schule verließ ich, bevor die Klasse mit diesem Stoff begann, und in der neuen Schule war man soeben damit fertig geworden. Die Fahrten auf der Ablage unter dem Rückfenster waren größtenteils langweilig, doch ab und an beantworteten Lastwagenfahrer mein Winken und grüßten zurück, wenn wir sie auf dem Highway überholten.

Ich begann ziemlich jung zu arbeiten, meistens im Sommer und, bis ich größer war, immer auf den Feldern oder Plantagen. Kein Wanderarbeiter der alten Schule mit einiger Selbstachtung wollte für seinen Lebensunterhalt irgend etwas ernten, wenn er es einmal bis zu einem Job in einem der Schuppen gebracht hatte. Ich war da keine Ausnahme. Als ich es schließlich schaffte, fühlte ich mich, als hätte ich erfolgreich einen Übergangsritus vollzogen. Ich war angekommen.

Hauptsächlich wegen der unablässigen Beharrlichkeit unserer Mutter schlossen wir alle drei die High-School ab. Später besuchte ich dank der GI-Bill das College und wechselte auch dort von einer Institution zur anderen, bis ich schließlich in Berkeley landete. Mit der Hartnäckigkeit eines Menschen, dem selbst eine Schulbildung verweigert worden war, drängte meine Mutter mich zum Lernen und wählte sogar ein Studienfach für mich aus. Ich sollte Ingenieur werden. Welche Art von Ingenieur, wußte sie eigentlich nicht. Ich denke, sie muß gemeint haben, daß ein Ingenieur so verschieden von einem Wanderarbeiter war wie nur möglich; den Wanderarbeiter sah sie nämlich nicht gerade als Inbegriff des Erfolgs an.

Auf dem Gebiet ihrer Wahl versagte ich jämmerlich. Mit oder ohne ausführliche Division hatte ich keine Neigung zur Naturwissenschaft, und als ich es innerhalb eines Semesters schaffte, in Physik, Chemie und Mathematik durchzufallen, wußte ich, daß diese Studienrichtung für mich hoffnungslos war. Was ich wirklich gern tat, so stellte ich fest, war Lesen. Also zur Hölle mit dem Rechnen; als ich mich an der University of California einschrieb, tat ich es mit Englisch als Hauptfach.

Ich stockte die GI-Bill auf und ernährte mich tatsächlich in relativer Bequemlichkeit den ganzen Winter in Berkeley selbst, indem ich den Sommer über zu den Packschuppen zurückkehrte und mich als Wanderarbeiter verdingte. Ich begann Anfang Juni in Yuma, Arizona, und arbeitete mich dann nach Norden vor. Ich packte Zuckermelonen, bis Mitte September das Wintersemester begann. Nachdem ich das drei Sommer lang gemacht hatte, ertappte ich mich dabei, daß ich mich im folgenden Herbst mit einigem Widerstreben einschrieb. Gegen Mitte des Semesters wußte ich, daß ich genug hatte. Mir reichte die Universität, jede Universität. Alle, mit denen ich studiert hatte, drängten mich, das Studium fortzusetzen, bis auf einen Mann, den leuchtendsten Stern an dem damals sternenreichen Fachbereich für Englisch in Berkeley. Ob er mich als wenig geeigneten Kandidaten für ein eventuelles Lehramt...

Erscheint lt. Verlag 26.5.2017
Übersetzer Elke vom Scheidt
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Arbeit • Autobiographie • Hafen • Plantage • Sachbuch • San Francisco
ISBN-10 3-10-561750-7 / 3105617507
ISBN-13 978-3-10-561750-2 / 9783105617502
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