Grenzen (eBook)

Jüdischer Almanach

Gisela Dachs (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
208 Seiten
Jüdischer Verlag
978-3-633-74246-2 (ISBN)

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Grenzen -
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Grenzen, Vorurteile, Minderheiten - schon immer haben sich Juden diesen Themen stellen müssen. Die jüdische Erfahrung ist zumeist eine der Fremdheit, der Heimatlosigkeit. Ein Leben im Exil bedeutet oftmals auch ein Leben als Teil einer gesellschaftlichen Minderheit, die sich immer wieder Grenzen und Vorurteilen gegenübersieht. Eine Gratwanderung, bei der es gilt, diese Schranken zu überwinden, zugleich aber die eigene Identität zu bewahren, Traditionen zu pflegen und sich von anderen abzugrenzen. In diesem Jüdischen Almanach geht es um die vielfältigen Ausprägungen dieser Grenzlinien - physische und mentale, politische und geographische. Die Autoren dieses Almanachs beschäftigen sich sowohl mit Nobelpreisträgern als auch mit den amerikanisch-jüdischen Erfindern von Superhelden; es geht um die Bedeutung von Pässen und Schleppern im Zweiten Weltkrieg und die Symbolkraft des Eruv, ebenso wie um die Grenzen des modernen Israel, das immer noch mit den Umrissen seiner jüdischen Identität hadert. Mit Beiträgen von Astrid von Busekist, Noah Efron, Zali Gurevich, Peter Jungh, David Newman, Dorit Rabinyian, Natan Sznaider und vielen anderen.

Gisela Dachs ist Publizistin, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Professorin am Europ&auml;ischen Forum der Hebr&auml;ischen Universit&auml;t Jerusalem. 2016 erschien der von ihr herausgegebene <em>L&auml;nderbericht Israel</em> im Auftrag der Bundeszentrale f&uuml;r politische Bildung. Seit 2001 ist sie die Herausgeberin des J&uuml;dischen Almanachs. Sie lebt in Tel Aviv.

ASTRID VON BUSEKIST
DER ERUV


Nur dem Menschen ist es, der Natur gegenüber, gegeben, zu binden und zu lösen, und zwar in der eigentümlichen Weise, dass eines immer die Voraussetzung des anderen ist. Indem wir aus der ungestörten Lagerung der natürlichen Dinge zwei herausgreifen, um sie als »getrennt« zu bezeichnen, haben wir sie schon in unserem Bewusstsein aufeinander bezogen, haben diese beiden gemeinsam gegen das Dazwischenliegende abgehoben. Und umgekehrt: als verbunden empfinden wir nur, was wir erst irgendwie gegeneinander isoliert haben, die Dinge müssen erst auseinander sein, um miteinander zu sein.
Georg Simmel, Brücke und Tür

Nicht alle Grenzen trennen uns


Stellen Sie sich eine Grenze vor, die nur aus Durchgängen und Türen besteht. Eine praktisch unsichtbare Tür, die die Landschaft nicht verunstaltet, von einigen Menschen schweigend errichtet, nahezu ohne Geld und ohne besonderes Werkzeug. Eine private Mauer auf öffentlichem Grund, die die Menschen weder nach innen noch nach außen schützen soll. Man kann sie leicht passieren, denn sie ist durchsichtig, und außer den wenigen, die sie errichtet haben, weiß fast niemand, ob er die Schwelle zwischen beiden Territorien überschreitet.1

In zahlreichen Großstädten existiert eine solche Grenze. Und meist, ohne dass wir ihrer gewahr werden. Man nennt sie Eruv2. Als Begriff und Praxis zugleich erlaubt der Eruv uns, die Grenzen anders zu denken, sie als Gelenk zu sehen, das auf scheinbar paradoxe Weise die drei Möglichkeiten des Vereinigens, des Trennens und des Überschreitens verknüpft. Das unterstreicht auch das hebräische Wort, dessen Stamm ברע »vermischen« bedeutet. Eine Grenze, die vermischt? Wie könnte eine Grenze vermischen, wo sie doch trennen soll? Vermischen, wo sie doch den Unterschied deutlich machen soll? Die Schönheit des Eruv liegt genau darin, dass er all das zur gleichen Zeit bewerkstelligt.

Der Eruv ist eine (fast) körperlose Mauer, die einen öffentlichen Bereich umgrenzt und ihn privat macht. Mit seiner Hilfe können die rabbinischen Juden sich bei gleichzeitiger Beachtung der Shabbatverbote innerhalb des abgegrenzten Gebiets bewegen, denn es wird als Erweiterung des häuslichen Bereichs betrachtet. Da man am Shabbat außerhalb des Hauses beispielsweise keine Bücher, Nahrungsmittel, Schlüssel tragen oder einen Kinderwagen oder Rollstuhl schieben darf, vergrößert der Eruv den privaten Bereich und verwandelt ihn symbolisch in einen Hauskreis oder in ein erweitertes Wohngebiet, indem er die öffentliche Straße und den privaten Raum »vermischt«. »Vierzig Hauptarbeiten weniger eine« sind am Shabbat verboten (mShabbat 73), und die letzte ist »das Tragen von einem Bereich in einen anderen«: Die Bedeutung dieses Verbots ist nicht zu unterschätzen, schließlich gehört es zu den drei in der Tora explizit genannten, nämlich pflügen und ernten sowie Feuer machen. Dieses Gebot könnte bis in die Zeit zurückreichen, als Moses dem Volk untersagte, noch weitere selbst angefertigte Gaben für das (und zum) Heiligtum in der Wüste zu bringen, zur Stiftshütte (Exodus, 35 und 36,6). Davon könnte sich die (rabbinische) Auffassung ableiten, dass die Bereiche nicht vermischt werden dürfen, etwa dadurch, dass etwas von einem profanen an einen heiligen Ort, von einem öffentlichen in einen privaten Bereich und umgekehrt, getragen oder überführt wird (tShabbat 1, 2a). Hier könnte also auch der Ursprung jener seltsamen Erfindung liegen, eben der Verbindung von öffentlichem und privatem Bereich, die in ein neues Gesetz zur Umgestaltung des Raums mündet. Teilweise jedenfalls, denn unabhängig von einem Eruv bleiben bestimmte Objekte untersagt: Generell alles, was im Zusammenhang mit einer am Shabbat verbotenen Tätigkeit steht – Geld, Werkzeug, Federn, Kugelschreiber, Bleistifte, aber auch Regen- und Sonnenschirme, weil sie mit Zelten gleichgesetzt werden. Es gilt der Grundsatz: Will man etwas von einem Bereich in einen anderen tragen, so muss der Bereich als Ganzes von der gleichen »Spezies« sein, in diesem Fall privat.

Dessen ungeachtet verweist der Begriff der Grenze meistens auf eine Beschränkung, einen Spalt im Raum, und in der Regel verstehen wir darunter einen konkreten oder abstrakten Abschluss des geografischen oder sozialen Raums. Wie auf einer Landkarte deutet eine subtile Veränderung der Landschaft darauf hin, dass der Raum durch imaginäre Linien eingegrenzt wird. Ein Departement, ein Stadtviertel, ein Verwaltungsbezirk, eine Stadt, oder noch besser, eine »Banlieue«, eine Vorstadt, sind als Einheiten nicht sichtbar, aber sie ordnen und strukturieren unseren Raum und geben ihm einen Sinn.

Diese unsichtbaren und doch fühlbaren Grenzen können Abkapselung oder Autonomie bedeuten, sie können offen oder geschlossen sein, symbolisch und gesellschaftlich, sie können zur Identifikation einer Gruppe dienen, gegen eine Bedrohung schützen, einen Besitz abstecken, ein Hoheitsgebiet abgrenzen, das Gesetz verkünden, ein Gemeinwesen hervorbringen. Gleichzeitig ist die Grenze aber auch das, was beiden Dingen gemeinsam ist: Welche Farbe hat die Trennungslinie zwischen einem schwarzen Fleck auf einem weißen Grund? Wie sieht die Linie zwischen Nordsee und Ärmelkanal konkret aus? Wem gehört die Grenze zwischen zwei zusammenhängenden Objekten? Dem einen oder dem anderen, oder beiden?

Die Grenzen bilden ein Gelenk, wie Simmel es so schön ausdrückt. Die Tür öffnet sich, aber sie schließt sich auch und »lässt vor der Tür«. Die Tür ist Grenze.

 

Dadurch, dass die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen den Raum des Menschen und alles, was außerhalb desselben ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. Gerade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Abgeschlossenseins gegen alles jenseits dieses Raumes, als die bloße ungegliederte Wand. Diese ist stumm, aber die Tür spricht. (G. Simmel, Brücke und Tür, 3-4.)

 

Die Tür oder vielmehr die Folge von Türen, auf die all das gleichzeitig zutrifft, die vereint und trennt, die das eine und das andere ist, die luftig und massiv, flüchtig und ewig ist – all das ist der Eruv. Er illustriert fast alle soeben genannten Widersprüche. Mit seiner Hilfe können wir neu bewerten, was Grenzen für uns bedeuten. Er benennt die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem, aber auch die Vermischung der Bereiche und Genres. Er verstofflicht das Zulässige und das Unzulässige, das Heilige und das Profane, aber gerade durch seine Struktur erlaubt er die Überschreitung. Er symbolisiert das Innen und das Außen des Hauses, aber auch der Gemeinschaft, des Glaubens, der Stadt, der Vielfalt, des gesellschaftlichen Lebens. Er gestaltet die geteilten, aneinander grenzenden und sich überlagernden urbanen Bereiche, Territorien ohne Hoheitsgewalt, Orte mit vielfältigen Bedeutungen.

Der Eruv ist eine echte Grenze, denn er hält auseinander, er zwingt uns aber auch, bestimmte Trennungen, mit denen wir gedankenlos umgehen, neu zu denken. Das sind einerseits unsere politischen Überzeugungen, andererseits unsere Ansicht von der Relevanz von Grenzen. Wir leben in liberalen Gesellschaften, und der Liberalismus ist eine Kunst der Trennung: zwischen Privatem und Öffentlichem, Gemeinschaft und Gesellschaft, Individuum und Staat. Der Eruv dagegen stellt diese Kategorien auf den Kopf, denn er bringt unterschiedlich geartete Gebilde zusammen: Er bringt die Gemeinschaft in den öffentlichen Raum, er privatisiert den gemeinsamen Raum. Grenzen gegenüber ist unsere Einstellung allerdings ambivalent: Wir wissen, dass sie uns schützen, aber wir lieben sie nicht, denn sie symbolisieren den Ausschluss und behindern den freien Verkehr; von jeher führen sie zu Konfrontationen; und wir wissen nie genau, ob ihr Verlauf wirklich korrekt ist. Wie würde überhaupt eine gute Bezirksgrenze als Bestandteil einer guten Umweltpolitik aussehen? Mit Sicherheit wäre das keine Staatsgrenze. Im Gegenteil – zwei Städte im Norden und Süden der Vereinigten Staaten unterscheiden sich stärker als zwei europäische oder zwei lateinamerikanische Staaten, und dabei gibt es zwischen Städten keinerlei Zollabfertigung.

Der Eruv, der »magic shlepping circle«, der magische Kreis, in dem das Tragen erlaubt ist, und der in Washington beispielsweise den Obersten Gerichtshof und das Weiße Haus einbezieht, ohne das Wesen dieser Bundesgebäude auch nur im Geringsten zu beeinflussen, nennt sich Eruv techumin, das heißt »Eruv für das Reisen«. Die von ihm bewirkte Durchdringung der Bereiche ist uns nicht vertraut und nur im Kontext des jüdischen Gesetzes zu verstehen. Der Eruv ist eine Gestaltung des Hauses. Da ein Haus einige minimale Merkmale enthält, unter anderem eine Tür, die aus zwei vertikalen und einem horizontalen Element, dem Sturz, besteht, kamen die Exegeten und Kommentatoren des Gesetzes zu dem Schluss, dass es theoretisch ausschließlich aus Türen bestehen könnte. Ein Eruv setzt also miteinander verbundene Abgrenzungen voraus, die sich an die urbane oder natürliche Topografie anlehnen (Mauern, Schienenwege, Flüsse, Telegrafenmasten – alles ist geregelt, muss aber verhandelt werden). Einige Bedingungen sind einzuhalten: Vor allem müssen die »Türen« so gestaltet werden, dass die Pfosten durch Schnüre verbunden sind (der Sturz) und dass diese Seile den oberen Abschluss der Pfosten bilden und so den Sturz einer...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Grenzlinien • Judentum • Minderheiten • Vorurteile
ISBN-10 3-633-74246-8 / 3633742468
ISBN-13 978-3-633-74246-2 / 9783633742462
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