Planet der Algorithmen (eBook)

Ein Reiseführer
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2015
Knaus (Verlag)
978-3-641-16793-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Planet der Algorithmen - Sebastian Stiller
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Algorithmen: Die wichtigste Denkweise unserer Zeit unterhaltsam erklärt.
Ob Suchmaschine, Navigationssystem, Datensicherheit, Online-Dating oder Studienplatzvergabe - Algorithmen sind überall. Sie zu verstehen, ist wichtiger denn je. Mit diesem Buch kann das sogar Spaß machen. Denn Sebastian Stiller zeigt den Planeten der Algorithmen, wie wir ihn noch nie gesehen haben: jenseits von Hype und Panik, überraschend und glasklar.

Das Buch versteht sich als Reiseführer, vom Experten für die Allgemeinheit geschrieben. Schließlich gehört der Autor, ein angewandter Mathematiker, zu den Einheimischen auf dem Planeten der Algorithmen. Am Anreisetag der 7-tägigen Tour erleben wir, wie nahe uns der Planet der Algorithmen liegt, ganz egal, ob wir ein Smartphone benutzen oder noch Telefonbücher wälzen. Am 2.Tag nehmen wir uns Zeit für eine schlichte Frage: Was ist ein Algorithmus? Am 3. Tag erleben wir, wie real Komplexität auf unserem Planeten ist. Am 4.Tag erlernen wir ein paar einfache Techniken, um auf die Jagd nach Informationen zu gehen. Für den 5. Tag ist klassisches Touristenprogramm vorgesehen, unter anderem die berühmten kalifornischen Suchmaschinen. Am 6.Tag erkunden wir, wie Algorithmen menschliches Zusammenleben gestalten, und am Abreisetag machen wir die Bekanntschaft von vier alten Meistern des algorithmischen Denkens. Los geht's !

Sebastian Stiller, 1974 in Erlangen geboren, ist angewandter Mathematiker. Er entwirft und analysiert Algorithmen. In Erlangen und Leuven studierte er Mathematik und Philosophie. Später forschte er an der TU Berlin und am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Seit 2015 ist er Professor für Mathematik an der TU Braunschweig.

1. Der Planet

Ganz in unserer Nähe, ob mit Smartphone oder Telefonbuch

Anreise über die Luftbrücke

Er hatte noch keinen Nobelpreis. Die Bundesregierung lehnte es noch ab, ihn am Brandenburger Tor sprechen zu lassen. Dennoch kamen am 24. Juni 2008 über 200 000 Berliner auf die Straße des 17. Juni. Sie blickten nach Westen zum Rednerpult unter der Siegessäule. Die Bühne war leicht aus der Ost-West-Achse herausgedreht, so dass der warme Glanz der Abendsonne Barack Obamas linke Gesichtshälfte ausleuchtete. Hollywood hätte es nicht besser inszenieren können.

Obamas Rhetorik glänzte ebenfalls. Er hatte Zeit und Ort der einzigen Auslandsrede seiner Kandidatur bewusst gewählt. 60 Jahre nach dem Beginn der Berliner Luftbrücke berief sich Obama in seiner Rede auf ihren Geist. Auf ein Denken, durch das im Sommer 1948 Hilfsflugzeuge am Himmel über dieser Stadt erschienen und die Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgten. Es sei an der Zeit, so Obama, dieses Denken wieder zu beleben und neue Brücken zu bauen. Brücken über den Atlantik und Brücken, die den ganzen Planeten umspannen. Das Berliner Publikum hörte es gern, aber bewahrte eine erfahrungsgesättigte Zurückhaltung, einem Politiker nicht auf offener Straße zuzujubeln.

Warum sind so viele Menschen zu Obamas Rede gekommen? {Einen perfekten Sommerabend kann man in Berlin anders verbringen.} In den Worten der Nobelpreiskomitees: Obama schaffte es, »den Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben«. Die wenigsten kamen wegen des hoffnungsvollen Präsidentschaftskandidaten. Die Menschen kamen um die Hoffnung eines ganzen Planeten zu hören:

Now is the time to build new bridges across the globe […]. Now is the time to join together, through constant cooperation, strong institutions, shared sacrifice, and a global commitment to progress, to meet the challenges of the 21st century. It was this spirit that led airlift planes to appear in the sky above our heads, and people to assemble where we stand today.

Für einen kurzen Moment erschien dieses Denken nicht als Naivität, sondern als unsere Verantwortung. Vielleicht wird es einen Planeten mit solchen Brücken, mit dieser Zusammenarbeit, mit derartigen Institutionen und gemeinsamen Anstrengungen oder auch nur gemeinsamen Zielen niemals geben. Aber wenn ein solcher Planet jemals auch nur in Teilen Realität sein wird, dann wird es ein Planet der Algorithmen sein.

Die Luftbrücke entsprang politischer Entschlossenheit und strategischem Augenmaß. Beides Dinge, für die Algorithmen herzlich ungeeignet sind. Aber schon nach wenigen Wochen stieß die Entschlossenheit auf Probleme. Es galt, mehr als zwei Millionen Menschen über mehr als 400 Tage hinweg mit insgesamt über zwei Millionen Tonnen Gütern zu versorgen, ein Großteil davon war Kohle. Der Wille war groß, aber die Mittel knapp. Keinen Tag durfte die Brücke zusammenbrechen. Hunderte von Flugzeugen brauchten Wartung, die Crews Auszeiten. Neue Piloten mussten geschult, die Mengen der Hilfsgüter bestimmt und diese Güter zu den Flughäfen gebracht werden. Die Aufgabe war nur zu bewältigen, indem man den Einsatz der vorhandenen Ressourcen hervorragend plante. Es ging nicht nur um mehr Flugzeuge oder mehr Personal. Es ging darum, bessere Entscheidungen zu treffen. Die Alliierten erkannten, dass ihre Planungsfähigkeit an eine Grenze kam. {Erst gut 20 Jahre später würde man einen klaren Begriff davon haben, dass dies eine der mächtigsten Grenzen des menschlichen Denkens ist.}

Der Mathematiker George Dantzig arbeitete damals für die US-Luftwaffe. Dort entwickelte er ein Verfahren namens Simplex-Algorithmus. Unter Freunden einfach: Simplex. In einem Artikel der Fachzeitschrift Econometrica von 1949 zeigte Dantzig, dass Planungsprobleme wie die der Luftbrücke in vereinfachter Form durch den Simplex gelöst werden können.

Heute gehört der Simplex-Algorithmus weltweit zum Standardstoff für Studenten der Mathematik und Informatik. {Wenn man Glück hat, auch der Wirtschafts- und mancher Ingenieurswissenschaften.} Der Simplex löst sogenannte lineare Programme. Darüber hinaus ist er der wichtigste Baustein für die Lösung der schwierigeren, sogenannten ganzzahligen linearen Programme. Der Ausdruck »Programm« ist dabei irreführend. Es handelt sich nicht um Computerprogramme, sondern um Typen mathematischer Probleme – ähnlich wie Gleichungssysteme. Lineare Programme und ganzzahlige lineare Programme haben sehr vielfältige Anwendungen. Mit dem Simplex und seinen Abkömmlingen kann man Logistiknetze koordinieren, Schweißroboter von Umwegen abbringen, Fahr- und Flugpläne verbessern, Energienetze planen, Bauteile optimieren, Kofferräume packen, Genomsequenzierung beschleunigen, Arbitrage erkennen … die Liste aller Anwendungen würde ein ganzes Buch füllen. Aber all diese Anwendungen zusammen machen nur einen kleinen Teil dessen aus, was heute algorithmisch geplant, konstruiert, entschieden oder gesteuert wird.

Algorithmen und Computer

Algorithmen gab es lange, bevor es Computer gab. Noch der Simplex wurde in seinen ersten Anwendungen nicht von Computern ausgeführt, sondern verschlang Hunderte stumpfsinnige Arbeitsstunden von Buchhaltern. Das große Aufblühen der Algorithmen und die Entwicklung von Rechnern fanden dennoch nicht zufällig gleichzeitig statt. Ein Algorithmus besteht aus einfachen Schritten. Seine Kraft entfaltet er, wenn viele, sehr viele davon nacheinander ausgeführt werden. Viele einfache Schritte auszuführen ist das Handwerk eines Rechners. Dantzig gehörte zu den Pionieren des Zusammenspiels von Rechner und Algorithmus. Anfang der 1950er Jahre arbeitete er bei RAND. Diese Denkfabrik hatte einen der unglaublich teuren ersten Lochkartenrechner. Als Dantzigs Arzt ihm riet, Diät zu halten, fütterte er den Dienstrechner mit Hunderten Lochkarten über Nahrungsmittel und den Empfehlungen des Arztes und ließ den Simplex seine persönliche Diät berechnen. Geldwerter Vorteil, wird man sagen, bis man das Ergebnis hört: 200 Brühwürfel am Tag – mit Beilage. {Auf Rückfrage räumte Dantzigs Arzt ein, keine Schranke für Salz angegeben zu haben, weil Menschen für gewöhnlich davon nicht zu viel äßen.}

Von den Tagen der Lochkartenrechner bis heute hat sich die Leistung von Rechnern beeindruckend entwickelt. Etwa alle ein bis zwei Jahre verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit eines Prozessors. Diese grobe Beobachtung nennt man das Mooresche Gesetz. Es kann nicht immer so weitergehen. Ganz gleich, wie der Rechner gebaut ist, wenn eine Rechenoperation durchgeführt wird, muss sich irgendetwas in dem Rechner verändern. Was sich verändert, kann kleiner und kleiner werden, aber nicht kleiner als die kleinsten Bauteile der Materie. Spätestens dann ist Schluss. De facto sind wir schon heute vor allem aus thermischen Gründen an der Grenze der Verdopplung angelangt.

Zwei Teams: Algorithmischer Fortschritt.

Der Fortschritt der Leistung von Rechnern lässt sich greifen. Gibt es auch einen Fortschritt der Algorithmen? Oder gibt es nur immer neue Anwendungen? Das Simplex-Verfahren und seine Ableger werden stetig weiterentwickelt. Nehmen wir sie für einen Vergleich. Im Jahr 1990 sollen zwei Teams ein und dasselbe ganzzahlige lineare Programm lösen. Beide Teams dürfen kurz in das Jahr 2014 reisen. Team 1 bringt einen aktuellen Laptop von 2014 mit nach Hause und führt darauf das beste Lösungsverfahren von 1990 aus. Team 2 hat sich das beste Lösungsverfahren aus 2014 mitgebracht und führt es auf seinem alten Rechner von 1990 aus. Team 1 löst das Problem 6500-mal schneller, als man es 1990 ohne Zeitreise hätte lösen können – ungefähr Mooresches Gesetz. Team 2, also das Team mit dem alten Rechner und dem neuen Algorithmus, löst das Problem 870 000-mal schneller. Der algorithmische Fortschritt übertrumpft hier den der Rechenleistung um mehr als das Hundertfache. Anders gesagt, während man mit dem Lösungsverfahren von 2014 nach einer Minute einen Plan für die Luftbrücke bekommt, wird das alte Verfahren erst fertig, wenn die Transitstraßen nach Berlin schon wieder offen sind: Das Computerzeitalter ist ein Zeitalter der Algorithmen.

Die Leistungssteigerung eines besseren Algorithmus kommt buchstäblich aus dem Nichts. Sie verbraucht keine zusätzlichen Ressourcen wie mehr Energie oder ausgefallene Werkstoffe. Sie entsteht einfach, weil wir weniger umständlich nach der Lösung suchen, weil wir sehen, wie es einfacher geht.

Es ist die Kunst der Faulheit. Faul sein möchten viele. Aber Gelegenheitsfaulheit erzeugt am Ende oft mehr Aufwand. Im großen Stil faul zu sein erfordert Wissen, Geistesschärfe und die Entschlossenheit, im entscheidenden Moment keine Mühen zu scheuen. Ein Algorithmus glänzt, weil er die ihm gestellte Aufgabe mit makelloser Faulheit erfüllt.

Die Blütezeit des Planeten

Algorithmisches Denken genießt im Augenblick besondere Aufmerksamkeit, weil Möglichkeiten und Herausforderungen unserer Tage ihm entgegenkommen. Die Verbreitung von Rechnern, der Zugang zum Internet und nicht zuletzt die Verfügbarkeit guter und einfach zu nutzender Programmiersprachen verleihen algorithmischen Ideen einen großen Hebel. Gleichzeitig wächst der Bedarf für algorithmische Lösungen. Die Planungsprobleme der Luftbrücke waren ein Vorgeschmack. Heute gilt es, Ressourcen sinnvoll zu nutzen, Metropolen vor dem Verkehrsinfarkt zu retten, globale Kommunikation und weltweites Reisen zu organisieren, Wissen zugänglich zu machen, Epidemien...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2015
Zusatzinfo mit 34 Illustrationen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik
Technik
Schlagworte eBooks • Randall Munroe • spiegel bestseller • What if?
ISBN-10 3-641-16793-0 / 3641167930
ISBN-13 978-3-641-16793-6 / 9783641167936
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