Reise nach Galizien (eBook)

Grenzlandschaften des alten Europa

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560411-3 (ISBN)

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Reise nach Galizien -  Verena Dohrn
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In acht Stationen berichtet Verena Dohrn von den Grenzlandschaften Europas, wo einst jüdische, slawische und deutsche Strömungen aufeinandertrafen und miteinander verschmolzen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Prof. Dr. Verena Dohrn, Slawistin und Historikerin, wurde 1951 in Hannover geboren.

Prof. Dr. Verena Dohrn, Slawistin und Historikerin, wurde 1951 in Hannover geboren.

Zamość – Talis magnanimi visa est fulsisse Zamosci …


Viel haben wir von der polnischen Renaissancestadt Zamość gehört, ehe wir uns auf die Reise machten. Jan Zamojski, Staatsmann und Feldherr des 16. Jahrhunderts, ein zum Katholizismus konvertierter Calvinist, seinerzeit vielleicht der gelehrteste Mann in Polen. Er hatte in Paris, Stuttgart und Padua studiert, war Vertrauensmann des polnischen Königs, ließ in kaum mehr als zehn Jahren von dem italienischen Baumeister Bernardo Morando Zamość errichten, die Stadt za mostem, an der Brücke, an der Kreuzung zweier Handelswege: des Salzwegs von Schlesien nach Wolhynien und des Bernsteinwegs vom Baltikum in die Türkei.

O mors inexpiabilis necessitas

Naturae! Ò stellas! Ô sydera! quae accelerastis

Mortem heu acerbam heröis heu Zamoscii!

(Oh Tod, unversöhnliche Notwendigkeit der Natur!

Oh ihr Sterne! Oh ihr Himmel! die ihr den Tod,

Ach, den schmerzlichen, ach, des Helden Zamoscius herbeigeführt habt!)

dichtet honori herois Zamoscii David Hilchen, Secretario Regiae Maiestatis, Notarius terrae Venden aus Helmstedt nach dem Tode des polnischen Großkanzlers und Großfeldherrn am 3. Juni 1605.

Talis magnanimi visa est fulsisse Zamosci

Virtus, stetitq́; summo honorum culmine,

Inq́ue dies surgens ipsis caput intulit astris.

 

(Groß leuchten sah man die Tugend des hochherzigen Zamoscius;

Sie stand auf dem Gipfelpunkt der Ehren,

Steigerte sich von Tag zu Tag

Und hob das Haupt gar zu den Sternen.)

Von Krakau her sind wir nur über Land gefahren. Kaum vorstellbar, eine Renaissancestadt inmitten der Felder. Unmerklich beginnt die Stadt. Ein Parkplatz ist plötzlich da, ein Stück Stadtmauer, ein Tor, ein Graben. Hinter hohen Bäumen schimmert Mauerwerk weiß. Seitlich erstreckt sich lang, zwei Stockwerke hoch, ein schlichtes, dickwandiges Barockgebäude. Eine Stellwand zeigt das Schema des alten Stadtzentrums. Weiteres Informationsmaterial erhalten wir in einem Touristenbüro in einer der ersten Querstraßen der Altstadt. Wir stehen am nördlichen, dem Lubliner Tor. Der dickwandige, quaderförmige Barockbau, heute ein Polytechnikum, war einst die Akademie von Zamość. 1594 wurde sie von Jan Zamojski als humanistische Hochschule für die Vorbereitung junger Adliger auf den Staatsdienst gegründet, im 18. Jahrhundert wurde ihr dann dieses Haus errichtet. Zamość sollte eine »ideale Stadt« – eine Stadt der Aufklärung, des Welthandels und eine Festung sein. So wurde sie angelegt – das Schema der Altstadt beweist es noch heute. Schachbrettartig sind die Straßen angeordnet. Im Kreuz der Himmelsrichtungen führen die Hauptausfallstraßen von Westen nach Osten, von Norden nach Süden. Drei Tore hatte die Stadt: das Lubliner im Norden, das Lemberger im Südosten und das Szczebrzeszyner im Südwesten. Sternförmig wurde Zamość in den Sumpf gebaut; in sieben Spitzen die Befestigungsanlagen ihr vorgelagert. Drei Marktplätze hatte die Stadt: den Salzmarkt, den Großen Markt und den Wassermarkt. Die Pläne in der Hand, gehen wir von Norden in die Altstadt hinein. Gerade und eng sind die Straßen, nicht höher als zwei Stockwerke die Häuser, lückenlos, in Reih und Glied gebaut. Es ist gegen Abend, wenige Menschen sind unterwegs. Wir überqueren die Zamenhof-Straße. Ludwig Lazar Zamenhof (18591917), Augenarzt und Homöopath, Erfinder des Esperanto, jener Kunstsprache – nach seinem Pseudonym benannt –, die die Welt, wie sie vor der Zerstörung des Babylonischen Turms war, wiederherstellen möchte. Er kam eigentlich aus dem nördlichen Białystok, aber, siehe da, man ehrt den »Doktor Hoffnung« jüdischer Herkunft in Zamość. Wir kommen auf den Salzmarkt, gehen über die Perez-Straße. Zamość war die Heimatstadt von Zamenhofs Zeitgenossen Jizchak Lejb Perez, dem jiddischen Schriftsteller aus Zamość.

Wir kommen auf den Großen Markt. Die Nachmittagssonne fällt goldfarben schräg über die Attiken einer geschlossenen Häuserreihe, erhellt den großen Platz, einhundert Meter im Quadrat, gut möglich einen der schönsten Renaissanceplätze in Europa, umfaßt von prächtigen Bürgerhäusern und ihren Arkadengängen. Jedes Haus hat sein eigenes Gesicht: das Rathaus von 1591 mit seiner geschwungenen Freitreppe, Arkaden rund herum, das sich, so behäbig im Fundament, nach oben hin, von Stockwerk zu Stockwerk, von Gesims zu Gesims zierlich verjüngt und mit dem Glockenturm und dem Blendwerk der Attiken die anderen Häuser majestätisch überragt; die Häuser der armenischen Kaufleute ihm zur Seite, bunt und reich verziert wie keine anderen am Platz. Haus für Haus, lindgrün das erste, safrangelb das zweite, sienarot das dritte, azurfarben das vierte, perlrosa das fünfte, sind ihre Fassaden getüncht und mit feinziselierten Ornamenten, Mustern aus einer stilisierten Tier- und Pflanzenwelt, mit orientalischem Flechtwerk und Figuren geschmückt, die zum Teil Fragmente der ursprünglichen Attiken waren. Ein Löwe, der gegen einen Drachen kämpft, und der Erzengel Gabriel, eine Lilie, das Zeichen der Verkündigung, in der Hand, sind in den Stein gehauen.

Zamość sollte, so der Plan Jan Zamojskis, eine rein polnische, eine katholische Stadt werden. Doch kaufmännisches Kalkül erzwang bald den Zuzug von armenischen, griechischen und jüdischen Händlern. Sephardische Juden aus dem Orient ließ Zamojski ansiedeln in Zamość, nicht aber die in Polen heimischen, die Aschkenasim, und verbot jenen strikt, sich mit diesen zu mischen. Doch schon wenige Jahrzehnte nach der Stadtgründung kamen auch aschkenasische Juden nach Zamość, mischten und mehrten sich. Vor dem Zweiten Weltkrieg, so erzählt uns Jerzy Polański, ein alter Fremdenführer, Stadtrat von Zamość, hätten nur noch zweieinhalb Häuser auf dem Großen Markt Polen gehört und sieben Familien darin gewohnt, in allen anderen Juden. Vierundsechzig Prozent der Stadtbevölkerung seien damals Juden gewesen.

Großväter führen ihre Enkel spazieren. Ein kleiner Junge übt Dreiradfahren auf den glatten Steinplatten, zwischen den Bänken und Blumenrabatten des Platzes. Frucht- und Milchspeiseeis in Waffeln gibt es für ein paar Złoty unter den Arkaden. Wir schlendern über den Großen Markt, nehmen Augenmaß von verschiedenen Seiten. Die Häuser stehen acht zu acht auf jeder Seite, abgesehen von jener, an der das Rathaus steht; zwischen je vieren mündet eine Straße auf den Platz. Dem Rathaus gegenüber finden wir das Haus der Zamojskis, neben ihm das Haus der Morando, der Familie des Baumeisters der Stadt; einige Häuser weiter das Haus der Bürger von Szczebrzeszyn, die an jenem durch Festungsmauern geschützten Ort ihre Kostbarkeiten aufbewahrten. Ganz hinten in der südwestlichsten Ecke des Großen Marktes, von den Barockbüsten der Minerva und des Herkules am Linkowskahaus verdeckt, schon auf halbem Wege zur prunkvollen Kollegiatskirche – sie erlaubte sich, nebenbei gesagt, eine Statue des Papstes auf ihren Kirchenvorhof zu stellen, noch ehe dies auf kommunalem Boden zulässig war –, finden wir das Haus Nummer 37 mit einer schlichten Fassade und einer Tafel, auf der geschrieben steht, daß am 5. März 1870 Rosa Luxemburg hier geboren wurde. Sie war das jüngste, das fünfte Kind des jüdischen Holzhändlers Eliasch Luxemburg – Rosa machte später Eduard daraus – und seiner Frau Lina, geborene Löwenstein. Lina Löwenstein kam aus einer alten Rabbinerfamilie. Eliasch Luxemburg war ein polnisch assimilierter Jude und kein armer Mann, er besaß ein Haus am Großen Markt. Vom Fenster aus konnte die kleine Rosa den Platz nicht sehen. Aber einen Schritt vor die Tür, schon stand sie unter den Arkaden, den Passagen von »Klein-Paris«. So nannte der Freund der Familie Luxemburg, Jizchak Lejb Perez, sein Zamość. Fluchtlinien, weit über den Platz hinaus, würden die Kreuzgewölbe der Bogengänge dem Blick noch heute eröffnen, wenn die Bauzäune am Rande des Platzes nicht wären. In dem hellen, weiten Geviert des Großen Marktes mag Rosa Luxemburg ihre ersten Schritte in die Welt unternommen haben. Die klare Geometrie des Platzes, die Welthäuslichkeit der Arkaden, die scheinbar ins Unendliche weisenden Perspektiven ihrer Bogengänge und die maßvolle Schönheit der Bürgerhäuser mögen nicht ohne Wirkung auf die Weltanschauung des Kindes gewesen sein. Kaum erwachsen, mit sechzehn und lange fort von Zamość, wurde Rosa Luxemburg Mitglied der Sozialistischen Partei, begann gegen die Konventionen, die Enge des jüdischen Elternhauses rebellierend, den unermüdlichen Kampf für die »internationale Befreiung des Proletariats«. Von einer jüdischen Arbeiterbewegung, vom Judentum, erst recht vom Milieu des ostjüdischen Stetl, das Zamość ohnehin nicht repräsentierte, wollte sie nicht viel wissen. Ein Greuel war ihr Nationalismus jeglicher Art, egal ob es jüdischer, deutscher, polnischer, ukrainischer, weißrussischer, litauischer war. Wie die polnisch-jüdische Revolutionärin heute wohl über das Wiedererstarken des nationalen Gedankens in Mittel- und Osteuropa dächte, frage ich mich.

Jiddische Geschichten soll Rosa Luxemburg dennoch geliebt haben. Die kannte sie vielleicht von Jizchak Lejb Perez. Viel später, 1917, siebenundvierzig Jahre war sie alt, im Gefängnis in der preußischen Festung Wronke, erinnert sie sich in einem Brief an ihre Kindheit – Politisches zu schreiben, verbot ihr die Gefängniszensur – und an die Mutter, die nichts anderes tat, als unermüdlich für die Familie zu sorgen, und der, neben...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Apolek • Autoversicherung • Bahngasse • Berditschew • Bernsteingasse • Brachland • Bretterwand • Brody • Bruderkrieg • Bürgerkrieg • Deckenbalken • Erster Weltkrieg • Feldzug • Festung • Fichte • Folter • Freihandelszone • Führerhauptquartier • Galizien • Gartengasse • Gedenkstätte • Glatteis • Grab • Habsburg • Hauptstraße • Helene Deutsch • Holzbalken • Illustrierte • Isaak Babel • Joseph Roth • Judenfriedhof • Kastanienpark • Katzenkopfstein • Kesselflicker • Konflikt • Kopfstein • Korruption • Kosak • Krise • Kupplungsseil • Landkarte • Landstraße • Lemberg • Lisen • Marktplatz • Massaker • Mauer • Militär • Militärkolonne • Nationalsozialismus • Nister • Paul Celan • Pendler • Perestroika • Polen • Reise • Reiterarmee • Reportage • Restaurant • Ringplatz • Rodung • Rosa Luxemburg • Rotunde • Sabbatausgang • Sachbuch • Schitomir • Sonnenuntergang • Sowjetrepublik • Spurensuche • Städtchen • Stanislaw Lem • Stetlkultur • Straßenrand • Südosten • Synagoge • Trasse • Tschernowzy • Türkengasse • Ukraine • Unwegsame • Wassilkogasse • Wehrmachtsplan • Wildnis • Winde • Zackenband • Zamosc • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-10-560411-1 / 3105604111
ISBN-13 978-3-10-560411-3 / 9783105604113
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