Wege ins Ungewisse (eBook)

Eine Kulturgeschichte des Reisens 1500-1800
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
278 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560217-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wege ins Ungewisse -  Holger Th. Gräf,  Ralf Pröve
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In der Frühen Neuzeit war das Reisen noch ein gefährliches Abenteuer. Gleichwohl pulsierte in Europa der Verkehr in einem Ausmaß, von dem man sich heute nur unzureichende Vorstellungen macht. Anhand authentischer Texte und Abbildungen zeichnen die Autoren ein facettenreiches Bild des Reisens in einer Zeit, in der die Wege noch ins Ungewisse führten und die Rückkehr keineswegs sicher war. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Holger Thomas Gräf, geboren 1960, Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg/Lahn.

Holger Thomas Gräf, geboren 1960, Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg/Lahn. Ralf Pröve, geboren 1960, Dr. phil. habil., ist apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam.

Erstes Kapitel Menschen unterwegs


In der Frühen Neuzeit waren Menschen aus allen sozialen Schichten und Ständen allein und in Gruppen aus den verschiedensten Ursachen und Motiven unterwegs. Sie alle trugen zu dem bunten Leben und Treiben auf den europäischen Verkehrswegen zu Lande und zu Wasser bei. Wer sich zum Beispiel am Sonntagmittag, dem 5. September 1599, am Brüsseler Stadttor zusammen mit unserem Chronisten, dem Schweizer Thomas Platter, in der schaulustigen Menge befand, konnte ein beeindruckendes Schauspiel beobachten. Viele Zuschauer waren sogar eigens aus den umliegenden Städten gekommen, um Zeugen einer bunten und exotischen Mischung von Jahrmarkt und Staatsakt zu werden. Zog doch der aus Spanien angereiste allerdurchlauchtigste Erzherzog Albert von Österreich zusammen mit seiner schönen Frau Isabella und einem stattlichen Gefolge unter Glockengeläut in die Stadt ein. Als neuer Statthalter des spanischen Königs war sein Einzug demonstrativ zur Schau gestellte Machtfülle. Nach drei Abteilungen der vornehmen Brüsseler Gesellschaft, die Albert als Empfangskomitee entgegengeritten waren, kam eine Kompanie Kosaken, mehrere Gruppen von Räten, Sekretären, Rechtsgelehrten, Notaren und Amtleuten mit ihrer Dienerschaft, sodann folgte eine Gesellschaft Vornehmer von Adel, köstlich bezieret und wohl beritten, mit welchen viel Edeljungen und Lakeien ritten, bevor die allervornehmsten vom Adel, Herren, Freiherren, Grafen und Herzöge in großer Menge unmittelbar vor dem Statthalterehepaar ritten. Dem Erzherzog folgte auf dem Fuß nach das spanische Frauenzimmer (die Hofdamen), alle Weibsbilder jeweils zwischen zwei Adligen reitend; diese waren nicht besonders schön, damit die Erzherzogin desto schöner scheine, ansonsten waren sie aber sehr kostbar bekleidet. Den Abschluß bildeten einige Einheiten gepanzerter Lanzenreiter, Diener und die leeren Kutschen und Sänften des Erzherzoges und seines adligen Gefolges. Der eigentliche Troß, die Wagen, Maultiere, das Gesinde und zahlreiche spanische Diener waren schon einen Tag zuvor nach Brüssel gekommen.[2] Wenn auch solche aus mehreren hundert Menschen bestehenden fürstlichen Reisegesellschaften nicht das alltägliche Bild der Straße prägten, so gab es doch immer wieder Herrschaftsakte, Fürstenhochzeiten oder Friedens- und Bündniskongresse, die ein derartiges Aufgebot erforderten. Der niederländische Kupferstecher und Graphiker Hendrick van der Borcht hielt zusammen mit seinen Kollegen Anton Mirou und Isaac de Punder den prächtigen Einzug des Kurfürsten Friedrich V. mit seiner englischen Gemahlin Elisabeth am 4. Juni 1613 in der neugegründeten, pfälzischen Exulantenstadt Frankenthal fest. Bemerkenswert sind neben den zahlreichen bewaffneten Eskorten die fünf, mit den Vornehmen des kurfürstlichen Hofstaates besetzten Karossen und mehrere im Troß fahrende Bagagewagen, die sich in einer großen S-Linie über eine kaum erkennbare Straße durch die Landschaft schlängeln.

Weniger spektakulär und bescheidener nahm sich die Reisegesellschaft unseres Gewährsmannes, des dänischen Schriftstellers Jens Baggesen, aus, der 1789 von Kopenhagen aus in die Schweiz unterwegs war. Er setzte sich mit seinem Begleiter morgens um sechs Uhr in den großen Postwagen, der alle Tage von Lübeck nach Hamburg geht, und sah sich zwei mageren Juden, zwei Schneidergesellen und einer dicken Tischlersfrau, die allein ebensoviel Platz im Wagen einnahm wie die anderen sechs, gegenüber. Ähnlich beengte Verhältnisse fand Baggesen auf dem Marktschiff vor, das alle Tage zwischen Mainz und Frankfurt verkehrt. Diese Schmacke (das Schiff) ist überaus merkwürdig gebaut und eingerichtet, sie ist außerordentlich lang und schmal und hat einen kleinen Mast und ein Rahsegel am Bug. Sie wird mit einem ungeheuren Holzlöffel gesteuert und von Pferden gezogen, die bald auf dem Land, bald im Wasser gehen. Unter einem Oberdeck, wie in einer Art Deckskajüte, sitzen die Passagiere holterdiepolter zwischen Kohl, Erbsen, Rüben, allen Arten von Obst, Hühnern und anderen ähnlichen Dingen. Die Gesellschaft bestand aus etwa zweihundert Personen beiderlei Geschlechts, aus verschiedenen Völkerschaften, allen Ständen und allen Religionen. Deputierte, Kaufleute, Soldaten, Bauern, Juden, Rattenfänger, Pfarrer, Werber, Handwerker, Komödianten, Frauen, Mädchen und Kebsweiber waren durcheinander verstaut. Das Fahrzeug glitt von der Brücke ab, die Stadt, die Gärten, die Weinberge verschwanden.[3]

Herzöge, Abenteuerlustige, Gesellen, Kaufleute, Komödianten – bereits diese kurzen Einblicke unterstreichen die Vielfalt und Buntheit des Treibens auf Europas Wegen und Wasserstraßen. Nicht nur Bekleidung und Ausrüstung der Reisenden oder die Wahl des Verkehrsmittels waren je nach Reisekasse verschieden, auch die Motive und der Zweck des Unterwegsseins hingen von der sozialen und wirtschaftlichen Stellung ab und waren deshalb höchst unterschiedlich. Der heute typische Anlaß zum Reisen aus touristischem Interesse war zwar in der Frühen Neuzeit nicht unbekannt, spielte aber nur eine marginale Rolle. Demgegenüber dominierten die unfreiwillig ›Reisenden‹ und die ›Reisenden‹ ohne Ziel, die Vagierenden, das Bild der Landstraße, die heute eher zu den Ausnahmen zählen. Als eine weitere Gruppe sind die beruflich Reisenden zu fassen, all jene also, die auf langen Wegen ihrem Broterwerb nachgingen. Der moderne Berufspendler zwischen Wohnung und Arbeitsplatz war dagegen vor der Industrialisierung, vor dem Eisenbahnbau und der Erfindung des Automobils oder des Fahrrades praktisch unbekannt.

 

Die Gruppe der beruflich Reisenden umfaßt jene, die im Zuge ihrer Berufsausübung bzw. ihres Broterwerbs auf einen, mehrere oder ständige Ortswechsel angewiesen waren. Hierzu gehört neben dem sozial hochstehenden, oft adligen Diplomaten, der für mehrere Jahre quer durch Europa in eine ausländische Residenz reiste, der Bauer, der von seinem Hof aus den nahe gelegenen Markt aufsuchte, ebenso wie der Bote, der Briefe und Nachrichten von Ort zu Ort übermittelte. Auch die Ausbildung zum Handwerksmeister erforderte im Anschluß an die Lehre eine mehrjährige Wanderzeit, die der Vertiefung der handwerklichen Kenntnisse und Fertigkeiten dienen sollte. Es galt die Regel, was du nicht hast erlernet, mußt du erwandern, denn die Erfahrung wächset nicht allein aus der Zeit, sondern auch aus Veränderung der Oerter; derowegen muß ein solcher auch eine Zeitlang von der Stadt wandern. So drückte es in einem Artikel von der Stadt wandern das imposante 68bändige Universallexikon des Leipziger Verlegers Johann Heinrich Zedler Mitte des 18. Jahrhunderts aus. Selbstverständlich sollten die wandernden Gesellen nicht ihre Zeit auf der Straße oder in den Wirtshäusern oder etwa in der Scheune zubringen, sondern bei auswärtigen Meistern, in untadeligen Werkstätten arbeiten, und das, was in den Lehrjahren nicht vorgekommen ist, nachholen, oder von dem, was sie einigermaßen begriffen haben, einige Übung, Erfahrenheit und Vollkommenheit erlangen sollen, forderte Zedler weiter.[4]

Wie in den meisten anderen Gilde- und Zunftbriefen wird auch von den Tischlern im Kurfürstentum Brandenburg 1734 verlangt, daß derjenige, der Meister bei dem Gewerk (Zunft) der Tischler werden will, sich bei dem vom Magistrat dem Gewerke zugeordneten Beisitzer, und dem Altmeister melden solle, und nebst seinem Lehr-Brief, die seines guten Verhaltens wegen erhaltenen Zeugnisse vorzuzeigen, auch zu belegen habe, daß er wenigstens drei Jahre auf das Handwerk gewandert sei.[5] Dieser Wanderzwang führte dazu, daß umherziehende Handwerksgesellen bis weit in das 19. Jahrhundert eine typische Erscheinung auf den Straßen blieben.

Obwohl die großen Kaufherren in der Frühen Neuzeit – etwa die bekannten Fugger und Welser – ihre Waren nicht mehr selbst auf den Landstraßen begleiteten, sondern den Transport aus ihren Kontoren heraus organisierten, bevölkerten ihre weniger bedeutenden Berufskollegen weiterhin die wichtigen Handelsstraßen Europas. Ähnlich den Wanderjahren der Handwerksgesellen verbrachten auch die zukünftigen Kaufherren einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland. So schickte der Nürnberger Kaufmann Friedrich Behaim 1533 seinen Sohn Paul in das Krakauer Kontor der Florentiner Firma Antonio de Nobili, um ihn zu nichts anderem, als was den Handel belangt und für die Schreibstube nötig ist, heranzuziehen. Außerdem soll man ihn in die Handelsgeschäfte sorgfältig und fleißig unterweisen und ihm keine zur Ausübung des Handels notwendigen Praktiken vorenthalten.[6]

Die großen jährlich stattfindenden Messen (etwa in Amsterdam, Nürnberg, Leipzig, Frankfurt/Main, Lyon oder in Mailand) waren nicht nur Schaltstellen internationaler Geschäftskontakte, sondern auch Umschlagplätze für Waren und Güter. Für bestimmte Branchen war der regelmäßige Messebesuch unabdingbar. Ein bekanntes Beipiel sind die ›Druckerverleger‹ und ›Verlegersortimenter‹, also jene rund 200 Buchhändler, die Mitte des 17. Jahrhunderts die Buchmessen in Frankfurt am Main und Leipzig besuchten und zur Erweiterung ihres Sortimentes eigene Druckerzeugnisse bzw. Bücher aus ihrem Bestand mit anderen Buchhändlern austauschten. Die Masse der reisenden Kaufleute bildeten allerdings die vielen Hausierer und fliegenden Händler, die mit einem beschränkten...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Alpen • Andreas Bauer • Anton Reiser • Berlin • Deutschland • England • Frankfurt am Main • Hochgeschwindigkeitsbahn • Louis Carlen • Meilenscheibe • Militär • München • Neuzeit • Reise • Sachbuch • Thomas Platter • Turnpike • Unterkunft • Unwetter • Verkehrsmittel • Verkehrswesen • Verpflegung
ISBN-10 3-10-560217-8 / 3105602178
ISBN-13 978-3-10-560217-1 / 9783105602171
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