Das fremde Kind (eBook)

Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters
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2015 | 1. Auflage
350 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-560199-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das fremde Kind -  Dieter Richter
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Dieter Richters Untersuchung befasst sich mit Kindheitsbildern und ihren historischen Veränderungen, also mit den Vorstellungen, die sich eine bestimmte Gesellschaft vom Kinde und von der Kindheit gemacht hat. Dargestellt wird die allmähliche Entstehung jener literarischen, sozialen und pädagogischen ?Erfindungen? und ?Entwürfe?, die das neuzeitliche Kindheitsverständnis bestimmen und die für die Literatur-, Kultur- und Geistesgeschichte der Moderne so eminent folgenreich waren. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Dieter Richter, geboren 1938 in Hof/Bayern, studierte Germanistik, Altphilologie und Theologie. Er promovierte in Göttingen und war als Professor für Literaturgeschichte an der Universität Bremen tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Kinderkultur, zum Märchen, zur Popularliteratur und zur literarischen Topographie.

Dieter Richter, geboren 1938 in Hof/Bayern, studierte Germanistik, Altphilologie und Theologie. Er promovierte in Göttingen und war als Professor für Literaturgeschichte an der Universität Bremen tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Kinderkultur, zum Märchen, zur Popularliteratur und zur literarischen Topographie.

Kinderkult. Ein Grundmuster

Ich habe die Geschichte der Heiligen Fina von San Gimignano hier vorgestellt, weil ihr, trotz allen lokal-, frömmigkeits- und kulturhistorischen Besonderheiten, ein variables Grundmuster der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte eigen ist: die Verehrung von Kindern, ihre Stilisierung zum Exempel.

Die Verallgemeinerung erscheint vielleicht überraschend. Seit der Veröffentlichung und mehr noch seit der vehementen »Popularisierung« des Buches von Philippe Ariès hat sich die Auffassung verbreitet, ein Bewußtsein für Kindheit habe es im Mittelalter nicht gegeben oder, vergröbert gesagt, Kindheit sei eine Erfindung der Neuzeit.[12] Auch die psychohistorischen Untersuchungen von Lloyd de Mause – in ihrem progressistischen Ansatz dem von Ariès durchaus entgegengesetzt – nehmen ihren Ausgang von der Theorie einer unterentwickelten oder gar fehlenden Sensibilität gegenüber Kindern in früheren Jahrhunderten.[13] Kritik an Ariès’ Auffassung wurde – eher im engeren Kreis von Fachdisziplinen – vor allem von »mikrohistorisch« orientierten Forschern vorgebracht, die sich sehr genau auf einen fest umschriebenen Zusammenhang der mittelalterlichen Kulturgeschichte bezogen. Emmanuel Le Roy Ladurie beispielsweise, der aus dem umfangreichen Material der Inquisitionsprotokolle das dörfliche Leben einer kleinen südfranzösischen Ortschaft bis in die Details des Alltags hinein rekonstruiert hat, fand dort auch zahlreiche Zeugnisse einer hohen individuellen Zuneigung zu Kindern. Und er polemisiert: »Aus alledem ergibt sich, daß die namentlich von Philippe Ariès, aber auch von anderen gemachte Behauptung, derzufolge Kinderliebe eine vergleichsweise neue Erfindung der bürgerlichen Kultur wäre, wenigstens nicht in dem simplistischen Verstande wahr ist, den viele Leser dieser Schriftsteller davon haben.«[14] Was Le Roy Ladurie 1975 exemplarisch für die Sozialgeschichte beschreibt, registriert der französische Kulturhistoriker Jean-Claude Schmitt 1979 in einem anderen Bereich: dem der historischen Volkskultur. In seiner Analyse eines mittelalterlichen Kinder-Nothelferkultes weist er darauf hin, daß die historische Popularkultur (Volksfrömmigkeit, Kult, Legende, Volkserzählung) auch in vor- oder außerbürgerlichem Milieu ein ausgesprochen »nahes« Verhältnis zum Kind gehabt habe: »In Texten über folkloristische Kultur [taucht] plötzlich das Kind auf: es weint, strampelt, wird geschaukelt, gepflegt, gestillt und geliebt, mit einem Wort – es wird anerkannt.«[15] Schließlich hat – ebenfalls in Auseinandersetzung mit Ariès – der Mittelalterhistoriker Klaus Arnold 1980 eine Fülle von Zeugnissen aus mittelalterlichen Quellen zusammengetragen, die die soziale und kulturelle Wirklichkeit des Kindes in dieser Epoche höchst differenziert erscheinen lassen.[16]

Das Bild, das Ariès von der Geschichte der Kindheit gezeichnet hat, scheint also in manchem Punkt korrektur- und ergänzungsbedürftig zu sein. Trotzdem wird man Ariès, was die generelle Linie seiner Untersuchungsführung betrifft (wachsende Bedeutung des sozialen und kulturellen Status Kindheit im historischen Prozeß der Neuzeit), nach wie vor beipflichten müssen. Vor allem aber bleibt sein methodischer Ansatz – die Frage nach der Geschichtlichkeit der Kategorie Kindheit – bedeutsam.

In die Diskussion hat sich bisweilen eine Begriffsverwirrung eingeschlichen, an deren Zustandekommen Ariès selber nicht ganz schuldlos ist: das Verständnis von Kindheit als Kinderleben und von Kindheit als Kindheitsbild. »Kinderleben« meint die gesellschaftliche Wirklichkeit von Kindern, ihr Leben und Treiben in einer bestimmten Epoche und an einem bestimmten Ort; »Kindheitsbild« meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht (und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber ›wirklichen‹ Kindern durchaus beeinflussen können).[17] Wie jeder historisch forschende Wissenschaftler ist auch der an Kindheit interessierte auf Quellen angewiesen: Geschichten, Bilder, Urkunden, Grabsteine, Museumsbestände etc., sie alle reden von Kindern, sie stehen der Wirklichkeit, von der sie berichten, ferner oder näher; niemals sind sie freilich mit ihr identisch. Dieser hermeneutisch an und für sich selbstverständliche Sachverhalt scheint, wo es um Kinder geht, besonders leicht vergessen zu werden. Ein Sujet wie das der Kinderdarstellungen (in historischen ebenso wie in zeitgenössischen Zeugnissen) verleitet offenbar in ganz besonderer Weise zur vorschnellen Identifikation des Dargestellten mit der »Realität«: Projektion im Freudschen Sinne scheint dabei im Spiel zu sein.

Ich will den Unterschied an einem Beispiel illustrieren: Im Jahre 1488 hat der elsässische Prediger Geiler von Kaisersberg einen Predigtzyklus ›Von der artt der kind‹ gehalten, in dem er 15 »Eigenschaften der Kinder« aufzählt und geistlich deutet.[18] Dürfen wir Geilers Charakterisierungen der »artt der kind« für einen Beitrag zur Zustandsbeschreibung elsässischen Kinderlebens am Ende des Mittelalters nehmen? Nur mit Einschränkungen. Der Prediger bietet ein bestimmtes Bild von Kindheit an, und wir können nicht ausschließen, daß es Züge eines Wunschbildes trägt. (Auch hier sind die Kinder Vorbilder, immerhin ist der Predigttext das bekannte »So ihr nicht werdet wie die Kinder …«) Ganz sicher aber ist Geilers Predigtzyklus – ähnlich wie seine ›Kinderspiele‹-Serie – ein Indiz dafür, daß die detaillierte Darstellung des Kinderlebens kanzelwürdig, predigtfähig geworden ist. Die Kinderwelt drängt in die geistliche Rede, die Welt des Populären mischt sich mit der Hochkultur. Darin bekundet sich zweifellos eine geschärfte Aufmerksamkeit des Predigers und der Zeit für »die Kindheit«, ob auch für die lebendigen Kinder selber sei dahingestellt.

Auch in der vorliegenden Arbeit geht es um Kindheitsbilder, im engeren Sinn um bürgerliche Kindheitsbilder der Zeit um 1800. Ich suche sie aus literatur- und kulturhistorischer Interpretation zu gewinnen, wobei die Genese dieser Kindheitsbilder durch charakteristische Verwandlung älterer, vorbürgerlicher Muster den historischen Faden der Untersuchung bildet.

Ariès ist durchaus zuzustimmen, wenn er von der geringeren Ausprägung des sozialen Status Kindheit in der Zeit vor dem 17./18. Jahrhundert spricht. Dennoch ist die abendländische Kultur seit der Spätantike geprägt von den Bildern von Kindern. Sie mögen uns wenig »kindlich« (in modernem Verständnis) erscheinen, und sie werden dies tatsächlich erst zunehmend im Spätmittelalter und in der Renaissance. Gleichwohl sind es Bilder von Kindern. Die Verehrung dieser Kinder, ihre Stilisierung zum Vorbild, zum Exempel, zum Heiligen ist ein charakteristisches Muster, obschon es ursprünglich nicht das (wiederum im modernen Sinne) spezifisch »Kindliche« dieser Kinder war, was Gegenstand der Verehrung wurde.

Die Verehrung des Kindes hat alte religionsgeschichtliche Wurzeln. Im Hellenismus, einer Epoche, die über ausgeprägte Kindheitsbilder verfügte[19], verdichten sie sich in der Vorstellung von der Erneuerung der Welt und der Menschheit durch Erscheinen des »göttlichen Kindes«.[20] Vergils 4. Ekloge prophezeit die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters mit der Ankunft des parvus puer; die interpretatio christiana dieser Ekloge und ihre Verbindung mit der alttestamentarischen Ankündigung des Messiaskindes (Jesaja 9,5) transponieren die Vorstellung in christlicher Form ins Mittelalter.[21]

Kult des Kindes ist das Christentum wie keine andere Religion. Neben dem Bild des toten Mannes am Kreuz steht das der Geburt des Knaben im Mittelpunkt der Verehrung. Ikonographisch ist die Geburtsszene Familienszene, wobei das weibliche, das mütterliche Element (Maria) dominiert. Im Motiv der Anbetung der Hirten und der Könige wird in den Darstellungen seit dem späten Mittelalter die Devotion nochmals hervorgehoben – auch die Alten und die Mächtigen der Erde beugen ihre Knie vor dem Kind. In der »Flucht nach Ägypten« wird dem Kind wunderbare Rettung zuteil. Gleichzeitig fallen die »unschuldigen Kindlein« dem Herodianischen Blutbad zum Opfer. Ihr Gedenktag gibt im Mittelalter alljährlich Anlaß zu einer Reihe von Festen, in denen Kinder und junge Leute im Mittelpunkt stehen, die Ordnung der Welt auf den Kopf stellen und damit wieder ins Gleichgewicht bringen.[22]

Ab etwa 1200 unterliegen die »Kinderszenen« der christlichen Tradition einem auffallenden Prozeß der »Individualisierung« und »Emotionalisierung«. Charakteristisch dafür ist der Bericht von der Feier des Weihnachtsfestes in Greccio durch Franz von Assisi – eine Szene, die auch in die bildende Kunst eingeht und für die Volksfrömmigkeit (Krippenfest, Kindelwiegen) folgenreich wird.[23] Die »Verpersönlichung« der Devotion zieht sich als Leitmotiv durch die religiösen und mystischen Bewegungen des späten Mittelalters. Im nervösen spirituellen Klima der geistlichen Frauengemeinschaften entwickelt sich neben der Passionsmystik auch eine »Weihnachtsmystik«: die Verzückung vor dem Kind durch die...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Schulbuch / Wörterbuch Lexikon / Chroniken
Technik
Schlagworte Berlin • Bilderatlas • Charles Perrault • Deutschland • Erziehungszeitalter • Exempelgeschichte • Flanierende • Frankfurt • Giambattista Basile • Hausmärchen • Jean Paul • Kinderfigur • Kindheitsbild • Märchen • München • Neapel • Popularkultur • Sachbuch • Schwarze Pädagogik • Unglücksgeschichte • Werther • Wilhelm Grimm • Wilhelm Meister
ISBN-10 3-10-560199-6 / 3105601996
ISBN-13 978-3-10-560199-0 / 9783105601990
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