Genetische Erkenntnistheorie (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 6) (eBook)

Schlüsseltexte Band 6

(Autor)

Richard Kohler (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
127 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10685-5 (ISBN)

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Genetische Erkenntnistheorie (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 6) -  JEAN PIAGET
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Die genetische Epistemologie umfasst sowohl eine Erkenntnis- als auch eine Wissenschaftstheorie und erhebt den Anspruch einer empirischen Fundierung in einem interdisziplinären Rahmen. Die vorliegende Studie Jean Piagets zeichnet die Entwicklung der Erkenntniskategorien des Subjekts nach, die nicht einfach vorausgesetzt werden können. Zudem werden die grundlegenden Aspekte und Voraussetzungen der systematischen Objekterkenntnis erörtert. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Konstruktionen des Subjekts mit der (sich ebenfalls verändernden) objektiven Realität zusammenhängen und wie Erkenntnisfortschritte eigentlich möglich werden.

Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf

Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.

EINFÜHRUNG


Kurt Reusser

Im Jahr 1970 sind von Jean Piaget nicht weniger als vier von ihm verfasste Einführungstexte in sein Werk erschienen. Darunter der hier in deutscher Übersetzung (nach 1974) wieder aufgelegte kleine Band, der sich der Darstellung seiner genetischen Epistemologie widmet. Es handelt sich um eine Kurzfassung des Ansatzes, den Piaget bereits zwanzig Jahre zuvor in seinem dreibändigen Hauptwerk Introduction à l’épistémologie génétique (Piaget 1950) systematisch entfaltet hat, und der ihn als Klassiker der Humanwissenschaften ausweist, der über die Psychologie hinaus auch das philosophische Denken beeinflusst hat. Piaget entwickelt darin unter Rückgriff auf Biologie, Logik und Wissenschaftsgeschichte auf mehr als tausend Seiten die Grundfigur einer Verbindung der Ontogenese der Entwicklung mit der Entwicklung des Erkennens in einer historischen und phylogenetischen Perspektive.

Warum Piaget in den frühen siebziger Jahren gleich mehrere Einführungen in sein Werk verfasst hat, dürfte damit zusammenhängen, dass nach dem Erscheinen des für sein Gesamtwerk wichtigen Bandes Biologie et connaissance (Piaget 1967) die systematischen Grundpfeiler seines kognitionstheoretischen Denkgebäudes in ausgearbeiteter Form vorlagen und er das Bedürfnis empfand, Kernpunkte seiner in einen nochmals erweiterten Kontext gerückten Epistemologie in Kurzform verständlich darzustellen. Dazu kommt, dass Piaget sich in Interviews und Publikationen (einschließlich der vorliegenden) mehrfach geäußert hat, seine konstruktivistische Epistemologie sei zu wenig anerkannt und werde auch von erkenntnistheoretisch interessierten Lesern häufig missverstanden. Während ihn die einen für einen Empiristen halten würden, der auf psychologistische Weise philosophische Probleme bearbeite, würden ihn andere für einen biologistischen Reifungstheoretiker und Nativisten halten. Mit dem vorliegenden Band verfolgte Piaget das Ziel, seine genetisch-konstruktivistische Epistemologie einem breiteren, an erkenntnisphilosophischen Fragen interessierten Publikum nahezubringen. Da der Band dies auch heute noch zu tun vermag und Piagets Ansatz einer transdisziplinär angelegten genetisch-konstruktivistischen Wissens- und Erkenntnistheorie bis heute kaum etwas von seiner Anziehungskraft und von seinem Anregungspotential verloren hat, ist die vorliegende Neuausgabe zu begrüßen. Beschäftigt sich das erste Kapitel des Bandes mit einer Darstellung zentraler Konzepte, Mechanismen und Aufbaugesetzlichkeiten der Ontogenese des Erkennens (Piaget spricht von der empirischen Erforschung der Psychogenese), so ist das zweite Kapitel deren biologischen Wurzeln und Quellen gewidmet. In einem dritten Kapitel wendet sich Piaget einigen aus seiner Sicht klassischen Problemen der Erkenntnistheorie zu.

Zentrale Konzepte und Botschaften der von Piaget in diesem »Abriss« behandelten Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die Epistemologie, eine im frankophonen Raum verwendete Bezeichnung dafür, was im deutschsprachigen Raum Erkenntnistheorie heißt, beschäftigt sich mit der Natur und den Bedingungen des Zustandekommens von Erkenntnis und Wissen; im genetischen Begriffsverständnis Piagets mit den biologisch-stammesgeschichtlichen, historischen und individuellen Bedingungen der Entstehung und des Aufbaus begründeten Wissens und der Gewinnung logischer notwendiger Wahrheit. In Opposition zu einer mehr als zweitausendjährigen Tradition, wonach Erkenntnis sub specie aeternitatis, d. h. ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung, als Teilhabe an überzeitlich und statisch gedachten Ideen und Strukturen verstanden wird, vertritt Piaget eine genetische Sicht des menschlichen Denkvermögens und damit der Wandelbarkeit ebenfalls der höchsten und allgemeingültigsten Formen der Vernunft und des logischen Denkens. Seine genetische Erkenntnisauffassung, deren Ausarbeitung sich in zahllosen, über mehrere Jahrzehnte publizierten Werken niedergeschlagen hat, kann als Gravitationszentrum und als Angelpunkt zum Verständnis seines Werks verstanden werden. Piagets monumentales Denkgebäude lässt sich nicht angemessen verstehen ohne Kenntnis jener im Kern philosophischen Frage nach der Hervorbringung und den Wurzeln des Wissens und des rationalen Denkens, welche Piaget während seines langen Forscherlebens beschäftigt hat.

Methodisch hat Piaget sein Forschungsprogramm, auch dies eine zentrale Differenz zur philosophischen Tradition, mit empirischen Mitteln verfolgt. Um die Frage zu klären, vermittelst welcher Leistungen der menschliche Geist zu Erkenntnisfortschritten gelangt bzw. zu neuen Einsichten kommt, hat sich Piaget sehr früh dem Studium der Psychogenese des Menschen – und damit dem Denken von Kindern – zugewandt. Interessiert an den Mechanismen der Hervorbringung und an den ontogenetischen Vorformen begründeten Wissens und Denkens ist Piaget in der Regel so vorgegangen, dass er Kinder unterschiedlichen Alters in »klinischen Interviews« befragte oder mit ihnen unter Verwendung von elegant einfachen Problemsituationen »klinische Experimente« durchführte. Zudem beobachtete er seine drei Kinder während ihrer ersten Lebensjahre intensiv und nahezu täglich. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen und Experimente interpretierte er im Lichte seiner Stufentheorie und seiner erkenntnistheoretischen Fragestellung. Das heißt, einerseits erschloss der Entwicklungspsychologe Piaget aus den beobachteten Konstruktionsleistungen die Entwicklungsstufe, die kognitive Strukturhöhe und Denkqualität, die ein Kind bezüglich einer Aufgabe bzw. einer Wissensform zeigte. Andererseits lieferten die Verhaltensweisen der Kinder dem Epistemologen Piaget das Material zur Rekonstruktion der Denkkategorien und der Wissensformen durch Identifikation ihrer Vorläuferstrukturen.

Im ersten Kapitel des vorliegenden Bandes gibt Piaget einen Einblick in seine Denkwerkstatt und in seine strukturgenetische Arbeitsweise. Er tut dies weniger durch die ausführliche Darstellung konkreter experimenteller Studien zum Werden der Intelligenz als durch die selektive »Beschreibung von Tatsachen […], die eine epistemologische Bedeutung haben« (in diesem Band: 21). Dazu gehören auf der sensomotorischen Denkstufe die aus einer adualistischen Anfangsstruktur hervorgehende Konstruktion eines bewusst erkennenden Subjekts und mit diesem in Wechselwirkung stehende Objekte als den beiden Polen der Erkenntnistätigkeit, auf der präoperativen Stufe die Entwicklung erster logischer Begriffe und Relationen und darauf bezogener Denkformen, auf der konkret-operatorischen Stufe die reversibles Denken (darunter den Zahlbegriff) ermöglichende Ausbildung der Fähigkeit zur reflektierenden Abstraktion, zur Koordination von Beziehungen zu Gesamtsystemen und zur Autoregulation, und schließlich auf der formal-operatorischen Stufe die Fähigkeit, über die vorfindbare Wirklichkeit hinauszugehen und diese in die Gesamtheit des Möglichen und des logisch und kausal Notwendigen einzubetten.

Entgegen einem in der Literatur immer wieder anzutreffenden Bild eines Entwicklungspsychologen, der sich mit der Denkentwicklung von Kindern beschäftigt hat, verstand sich Piaget, der sich seit seiner Jugend leidenschaftlich mit philosophischen Fragen beschäftigte, primär als ein mit empirisch-psychologischen Methoden arbeitender Erkenntnistheoretiker. Obgleich seine Theorie auf der Auswertung von empirischen Beobachtungen des Denkverhaltens von Kindern über eine schier unendliche Vielfalt kognitiver Anforderungen und Bereiche hinweg beruht, interessierten ihn weniger die Denkprozesse und Entwicklungsverläufe individueller Kinder als vielmehr die sich in deren Problemlöseund Denkverhalten widerspiegelnden allgemeinen Denkformen und Entwicklungsmuster, die er für universell hielt. Aus dem Studium der Ontogenese des Erkennens erschloss Piaget die Ursprünge des wissenschaftlichen Denkens und der Wissens- und Erkenntnisentwicklung. Aus dem über sechs Jahrzehnte sich erstreckenden systematischen Bemühen, das rationale Vermögen des Menschen vom Kind her zu verstehen und zu einer »Embryologie der Intelligenz« (Piaget 1966; in seiner Autobiographie) zu gelangen, entstand in interdisziplinärer Vorgehensweise eine universale Theorie der Entwicklung der Wissens- und Denkformen des rationalen Erkennens.

Piaget sah sich dabei in der Tradition Kants. In seiner Antrittsvorlesung zu seinem ersten Lehrstuhl in Neuchâtel formulierte er seine erkenntnistheoretische Position in kritischer Auseinandersetzung mit dem Königsberger Philosophen: »Wir finden eine gewisse Zahl von Prinzipien, Begriffen oder Schemata, bei denen es unmöglich ist, sie nicht zu gebrauchen. Es handelt sich um die formalen Gesetze der Logik, die Begriffe der Zeit und des Raumes, die Ideen von Ursache, Quantität und Klassifikation. Diese Begriffe, denen sich der Geist nicht entziehen kann, sind nach Kant genau jene, die dem Denken selbst zugehörig sind und die dieses der Erfahrung aufzwingt« (Piaget 1925: 195; Übersetzung K. R.). Philosophisch gesehen entspricht Piagets genetisches Programm der Rekonstruktion der Modi und Denkformen rationaler Welterfassung und des logischen Schließens denn auch einem »dynamischen Kantianismus« (Piaget 1974: 3). Wie Kant fragte der empirisch arbeitende Epistemologe Piaget nach den Bedingungen des Zustandekommens sicherer, allgemeiner, logisch notwendiger Erkenntnisse. Beantwortete Kant 1781 die Frage durch Rückgriff auf einen a priori gegebenen, spontan-gesetzgeberisch tätigen Verstand, so antwortete Piaget mit seiner These von der...

Erscheint lt. Verlag 19.3.2015
Zusatzinfo mit Register
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Technik
Schlagworte Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie
ISBN-10 3-608-10685-5 / 3608106855
ISBN-13 978-3-608-10685-5 / 9783608106855
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