Der Strukturalismus (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 5) (eBook)
134 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10684-8 (ISBN)
Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf
Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.
KAPITEL I
EINLEITUNG UND
FRAGESTELLUNG
1. Definitionen
Es ist oft gesagt worden, der Strukturalismus sei kaum genau zu fassen, weil er so vielfältige Formen angenommen habe, dass man dahinter keinen gemeinsamen Nenner mehr erkennen könne, und weil die »Strukturen«, auf die er sich berufe, immer unterschiedlichere Bedeutungen erhalten hätten. Vergleicht man die verschiedenen Formen, die der Strukturalismus in den heutigen Wissenschaften und in den leider immer mehr zur Mode gewordenen Diskussionen angenommen hat, so zeigt sich dennoch die Möglichkeit einer Synthese, unter der Voraussetzung freilich, dass man die beiden faktisch immer miteinander verbundenen, obwohl theoretisch voneinander unabhängigen Probleme auseinanderhält: das positive Ideal, das der Strukturbegriff in den Errungenschaften oder Hoffnungen der verschiedenen Varianten des Strukturalismus beinhaltet, und die kritischen Absichten, die die Entstehung und Entwicklung jeder dieser Spielarten als Gegensatz zu den herrschenden Tendenzen in den verschiedenen Disziplinen begleitet haben.
Man sollte bei dieser Differenzierung nicht vergessen, dass alle »Strukturalisten« dasselbe Ideal der Einsichtigkeit erreichen oder erstreben, dass aber ihre kritischen Intentionen höchst verschieden sind. Für die einen, etwa die Mathematiker, wendet sich der Strukturalismus gegen eine Unterteilung in heterogene Sektionen, indem er durch Isomorphismen die Einheit wiedererlangt; für andere, wie einige Generationen von Linguisten, hat er sich in erster Linie von diachronischen Forschungen zu isolierten Phänomenen distanziert, um in der Synchronie Gesamtheitssysteme zu entdecken; in der Psychologie hat er vor allem die »atomistischen« Tendenzen bekämpft, die die Ganzheiten auf Verbindungen zwischen bestehenden Elementen reduzieren wollten. In den aktuellen Diskussionen wendet er sich gegen den Historizismus, den Funktionalismus und bisweilen auch gegen alle Formen des Rückgriffs auf das menschliche Subjekt im Allgemeinen.
Versucht man, den Strukturalismus im Gegensatz zu anderen Haltungen und insbesondere zu denen, die er bekämpft hat, zu definieren, findet man somit verständlicherweise nur Unterschiede und Widersprüche, die mit all den Wechselfällen in der Wissenschafts- oder Ideengeschichte zusammenhängen. Konzentriert man sich hingegen auf die positiven Inhalte der Strukturidee, stößt man zumindest auf zwei Aspekte, die allen Strukturalismen gemeinsam sind: einerseits das Ideal oder die Hoffnung einer intrinsischen Einsicht, die auf der Forderung beruht, dass eine Struktur sich selbst genüge und zu ihrem Verständnis keinen Rückgriff auf irgendwelche ihr fremde Elemente benötige; andererseits Realisierungen, insofern es gelungen ist, tatsächlich bestimmte Strukturen herauszuarbeiten, deren Verwendung gewisse allgemeine und offensichtlich notwendige Merkmale hervorhebt, die sie trotz ihrer Verschiedenheiten aufweisen.
In erster Annäherung ist eine Struktur ein System von Transformationen, das als System (im Gegensatz zu den Eigenschaften der Elemente) eigene Gesetze hat und sich durch seine Transformationen erhält oder bereichert, ohne dass diese über seine Grenzen hinaus wirksam werden oder äußere Elemente hinzuziehen. Kurz gesagt, eine Struktur umfasst folglich die drei Eigenschaften Ganzheit, Transformationen und Selbstregulierung.
In zweiter Annäherung, wobei es sich dabei um eine spätere oder eine auf die Entdeckung der Struktur unmittelbar folgende Phase handeln kann, muss sich die Struktur für eine Formalisierung eignen. Doch muss man sich bewusst sein, dass diese Formalisierung das Werk des Theoretikers ist, während die Struktur von ihm unabhängig ist, und dass diese Formalisierung unmittelbar in logisch-mathematischen Gleichungen ausgedrückt oder durch ein kybernetisches Modell vermittelt werden kann. Es gibt folglich verschiedene mögliche Formalisierungsstufen, die von den Entscheidungen des Theoretikers abhängig sind, während die Existenzweise der von ihm entdeckten Struktur in jedem besonderen Forschungsbereich zu präzisieren ist.
Der Begriff der Transformation gibt uns die Möglichkeit, das Problem einzugrenzen, denn wenn die Strukturidee alle Formalismen in jedem Sinne des Wortes umfassen müsste, würde der Strukturalismus alle nicht strikt empirischen philosophischen Theorien einschließen, die auf Formen oder Essenzen zurückgreifen, von Platon über insbesondere auch Kant bis Husserl, und zudem gewisse Spielarten des Empirismus wie den »logischen Positivismus«, der die Logik mithilfe syntaktischer und semantischer Formen erklärt. Doch im eben beschriebenen Sinne enthält die Logik selbst nicht immer »Strukturen« im Sinne von Ganzheits- und Transformationsstrukturen: Sie ist in verschiedener Hinsicht in einem recht hartnäckigen Atomismus stecken geblieben, und der logische Strukturalismus steckt noch in den Anfängen.
Wir wollen uns in diesem kleinen Werk auf die Strukturalismen der verschiedenen Wissenschaften beschränken, was schon ein ziemlich gewagtes Unterfangen ist. Am Ende kommen wir auf einige philosophische Bewegungen zu sprechen, die sich in verschiedenem Grade von den aus den Humanwissenschaften hervorgegangenen Strukturalismen haben inspirieren lassen. Doch zunächst müssen wir die vorgeschlagene Definition etwas kommentieren und aufzeigen, wie ein scheinbar so abstrakter Begriff, wie ein in sich selbst geschlossenes Transformationssystem, auf allen Gebieten so große Hoffnungen wecken kann.
2. Die Ganzheit
Die Eigenschaft der Ganzheit der Strukturen versteht sich von selbst, denn der einzige Gegensatz, über den sich alle Strukturalisten (im Sinne der kritischen Haltungen, von denen im ersten Abschnitt die Rede war) einig sind, ist der zwischen den Strukturen und den Aggregaten oder den Gefügen vom Ganzen unabhängiger Elemente. Eine Struktur besteht zwar auch aus Elementen, aber diese sind Gesetzen unterworfen, die das System als solches charakterisieren, und diese sogenannten Kompositionsgesetze beschränken sich nicht auf kumulative Assoziationen, sondern verleihen dem Ganzen als solchem von den Eigenschaften der Elemente verschiedene Gesamteigenschaften. Die ganzen Zahlen zum Beispiel existieren nicht unabhängig voneinander, und man hat sie nicht in einer beliebigen Reihenfolge entdeckt, um sie anschließend zu einem Ganzen zusammenzufassen. Sie treten nur in Funktion der Zahlenreihe in Erscheinung. Diese weist Struktureigenschaften als »Gruppe«, »Körper«, »Kette« usw. auf, die sich unterscheiden von den Eigenschaften jeder Zahl, die ihrerseits gerade oder ungerade, eine Primzahl oder durch n > 1 teilbar sein kann usw.
Doch dieser Ganzheitscharakter wirft zahlreiche Probleme auf. Wir wollen nur auf die beiden wichtigsten eingehen: Das eine bezieht sich auf seine Natur, das andere auf seine Art der Formierung oder Präformierung.
Es wäre falsch zu glauben, dass die erkenntnistheoretischen Haltungen in allen Bereichen auf eine Alternative zurückzuführen seien: entweder die Anerkennung von Ganzheiten mit ihren Strukturgesetzen oder die atomistische Zusammensetzung aus Elementen. Ob es sich um Wahrnehmungsstrukturen oder Gestalten, um soziale Ganzheiten (Gesellschaftsklassen oder ganze Gesellschaften) usw. handelt, man stellt fest, dass in der Ideengeschichte den assoziationistischen Annahmen in Bezug auf die Wahrnehmung und den individualistischen Annahmen in Bezug auf die Soziologie zwei Auffassungsweisen entgegengestellt wurden, von denen nur die zweite dem Geist des zeitgenössischen Strukturalismus zu entsprechen scheint. Die erste begnügt sich damit, die Methode derer umzukehren, denen der Prozess vom Einfachen zum Komplexen als natürlich erscheint, und ohne weiteres Ganzheiten zu postulieren, die von allem Anfang an durch eine Art »Emergenz«, die sie für ein Naturgesetz halten, existieren. Wenn Auguste Comte den Menschen durch die Menschheit und nicht mehr die Menschheit durch den Menschen zu erklären versuchte, wenn Durkheim das soziale Ganze als aus der Vereinigung der Individuen emergierend auffasste, wie die Moleküle aus der Vereinigung der Atome, oder wenn die Gestaltpsychologen in den primären Wahrnehmungen eine unmittelbare Ganzheit, vergleichbar mit den Feldeffekten im Elektromagnetismus, zu erkennen glaubten, so hatten sie zwar das Verdienst, uns daran zu erinnern, dass ein Ganzes etwas anderes als eine einfache Summe bestehender Elemente ist, doch vereinfachten sie sich ihre Aufgabe, indem sie das Ganze als vor den Elementen existierend oder mit deren Kontakt gleichzeitig betrachteten, mit dem Risiko, die zentralen Probleme der Natur der Kompositionsgesetze zu übersehen.
Jenseits der atomistischen Assoziationsschemata und der emergierenden Ganzheiten gibt es die dritte Position der operativen Strukturalismen: Sie nimmt eine relationale Haltung ein, da sie weder das Element noch ein sich als solches auf unbekannte Weise konstituierendes Ganzes fokussiert, sondern die Beziehungen zwischen den Elementen, anders gesagt, die Verfahren oder Kompositionsprozesse (je nachdem, ob man von absichtlichen Operationen oder objektiven Wirklichkeiten spricht), wobei das Ganze nur die Resultante dieser Beziehungen oder Kompositionen ist, deren Gesetze denen des Systems entsprechen.
Doch jetzt stellt sich ein zweites, sehr viel schwerwiegenderes, für jeden Strukturalismus zentrales Problem: Falls die Ganzheiten aus Kompositionen immer schon vorhanden sind, wie oder durch wen wurden sie dann geschaffen, oder sind sie zunächst (oder ständig?) in Entstehung begriffen? Werden die Strukturen, mit anderen Worten, gebildet oder sind sie mehr oder weniger ewig präformiert? Der...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2015 |
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Zusatzinfo | mit Register |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Technik | |
Schlagworte | Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-608-10684-7 / 3608106847 |
ISBN-13 | 978-3-608-10684-8 / 9783608106848 |
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