Das moralische Urteil des Kindes (Schlüsseltexte in 6 Bänden, Bd. 3) (eBook)
477 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10682-4 (ISBN)
Jean Piaget (1896 - 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf
Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt. Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget: https://www.klett-cotta.de/media/35/Buch_Piaget_Schluesseltexte_Biblioraphie.pdf Richard Kohler, Dr., geb. 1962, studierte Pädagogik, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich und promovierte über »Piaget und die Pädagogik«. Er lehrt an der Pädagogischen Hochschule Thurgau und leitet dort das Basisstudium der Sekundarstufe I.
EINFÜHRUNG
Thomas Kesselring
Piagets Buch über das moralische Urteil beim Kinde ist in deutscher Sprache erstmals vor sechzig Jahren erschienen, dreißig Jahre später zum zweiten und nun, nach weiteren dreißig Jahren, zum dritten Mal. Weshalb diese Neuauflage, 82 Jahre nach Erscheinen des Originals? Es gibt dafür mehrere Gründe:
- Piaget ist mit diesem Buch ein Pionierwerk gelungen: Als erster Psychologe entwarf er ein Panorama der Entwicklung des moralischen Urteils und Verhaltens. Das Buch ist leicht zu lesen und von einer strahlenden Frische, als wäre es erst gestern geschrieben worden. Es ist ein Klassiker. Man findet in ihm fast alle Elemente von Piagets späterer Theorie, und es ist zugleich seine ausführlichste Abhandlung darüber, wie soziale Beziehungen die geistige Entwicklung von Kindern beeinflussen.
- Das Buch ist eine Fundgrube an köstlichen Dialogen mit Kindern, originellen psychologischen Beobachtungen und luziden Reflexionen zu Fragen von großer Tragweite: Aus welchen Motiven gehorchen Kinder? Welche Rolle spielen die Anweisungen der Erzieher? Wie lernen Kinder zwischen diesen Anweisungen und moralischen Regeln zu unterscheiden? Woher stammen diese Regeln? Wie bildet sich das Gewissen?
- Die Ergebnisse, zu denen Piaget gelangte, haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Im deutschen Sprachraum begann die Rezeption des Buches allerdings erst gute zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der ersten Übersetzung – auf dem Umweg über die Arbeiten des Amerikaners Lawrence Kohlberg, der als Erforscher des moralischen Urteils bei Kindern und Jugendlichen in Piagets Fußstapfen getreten war und hierzulande vor allem durch den Philosophen Jürgen Habermas (Frankfurt), den Pädagogen Fritz Oser (Fribourg) und den Psychologen Georg Lind (Konstanz) bekannt wurde. Der Höhepunkt dieser Rezeption liegt nun zwei Jahrzehnte zurück. Es spricht aber nichts dagegen, sie jederzeit wieder aufzunehmen.
Piaget konzentrierte sich nicht wie Kohlberg auf die Diskussion moralischer Dilemma-Situationen. Und anders als viele seiner Nachfolger beschränkte er sich nicht darauf, klinische Gespräche mit Kindern zu führen, sondern ergänzte seine Studien zum Regelbewusstsein von Kindern mit Beobachtungen ihres Regelverhaltens. Viele Stunden verbrachte er kniend auf den damals noch autofreien Straßen Genfs und Neuenburgs, vertieft ins Murmelspiel, das er mit den Kleinen spielte, wobei er sich mit ihnen immer auch unterhielt: Woher stammen die Regeln? Kann man auch anders spielen? Darf man die Regeln verändern? Das Murmelspiel eignet sich für das Studium des kindlichen Regelverhaltens und -bewusstseins besonders gut, weil die Regeln von den Kindern selbst stammen. Piaget stellte fest: Die jüngsten Kinder spielen individuell, wie es ihnen gerade einfällt; Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren halten die Regeln für heilig und unveränderlich, folgen ihnen aber nicht, weil sie sie nicht verstehen. Ab einem Alter von sieben, acht Jahren spielen sie kooperativ und mit wachsendem Regelverständnis. Sie wissen, dass sich Regeln durch gemeinsame Absprachen verändern lassen. In einem noch späteren Stadium interessieren sich vor allem die Jungen für die Kodifizierung der Regeln.
Die Ergebnisse des ersten, dem Murmelspiel gewidmeten Kapitels werden in den zwei folgenden Kapiteln durch Studien zum kindlichen Verständnis von Verantwortung (»objektive« versus »subjektive« Verantwortlichkeit), von Lügen, Gerechtigkeit und gerechter Strafe vertieft und ergänzt.
Besonderes Gewicht legte Piaget auf die Beantwortung der Frage, weshalb Kinder ihren Erziehern gehorchen und aus welchen Motiven sie später Regeln und Normen befolgen. Dabei unterschied er zwischen zwei Typen der Achtung, die er aufeinander folgenden Phasen zuordnet. In der ersten manifestiert das Kind den »respect unilatéral«, eine einseitige Achtung gegenüber seinen Eltern, und in der zweiten, ab acht oder neun Jahren, eine Haltung des »respect mutuel«, der gegenseitigen Achtung. Zu dieser gelangt es im Umgang mit anderen Kindern. Piaget hat die Wichtigkeit der Peergroup für die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen immer wieder betont. Wie die Regeln des Murmelspiels hält das Kleinkind auch die Weisungen seiner Eltern für sakrosankt: Man muss gehorchen, darf nichts stehlen usw. Es internalisiert diese Weisungen aber nicht, es befolgt sie bald strikt dem Buchstaben nach und bald überhaupt nicht, weil es sie nicht versteht. Inspiriert von seinem Berufskollegen Pierre Bovet erklärte Piaget diese Haltung mit der einseitigen Achtung den Erwachsenen gegenüber. Wie Bovet führte er diese Haltung auf eine Mischung aus Zuneigung und Furcht zurück – Zuneigung, weil die Eltern für das Wohl des Kindes sorgen, und Furcht, weil sie ihm ihren Willen aufzwingen und es bestrafen können.
In den Augen des Kleinkindes sind Normen und Werte Bestandteile der Wirklichkeit. Fragt man es, was schlimmer sei, ein Kind, das den Eltern erzählt, es habe in der Schule eine gute Note erhalten, obwohl es gar nicht benotet wurde, oder ein Kind, das angibt, über einen Hund erschrocken zu sein, der so groß wie eine Kuh war, so findet es das zweite »schlimmer«: Jeder wisse doch, dass es so große Hunde nicht gibt, während man in der Schule durchaus ab und zu eine gute Note erhalte. Eine Unwahrheit wiegt also umso schwerer, je weiter sie von der Realität abweicht. Kleinkinder unterscheiden auch noch nicht zwischen Regelmäßigkeiten, die naturgegeben sind, und solchen, die sich in menschlichen Gesellschaften durch Konvention herausgebildet haben: »Man muss essen nach dem Spaziergang, schlafen gehen, wenn es Abend wird, baden bevor man zu Bett geht usw., genauso wie die Sonne am Tage und der Mond nachts scheint (…). All dies ist und muss sein, es drängt sich auf wie die Ordnung der Welt und muss einen Grund haben« (in diesem Band: 225).
Den Sinn sozialer Normen erfasst das Kind, sobald es beginnt, mit seinesgleichen Regeln auszuhandeln. Regeln lassen sich als Anweisungen verstehen, die man sich gegenseitig erteilt. Um sie zu verstehen, muss man imstande sein, sich auf den Standpunkt seines Gegenübers zu stellen. Durch diese Fähigkeit unterscheidet sich die gegenseitige von der einseitigen Achtung.
Piagets Le jugement moral chez l’enfant erschien in der Zwischenkriegszeit, 1932, kurz vor Hitlers Machtergreifung. Das Buch wirkt heute wie ein Zeugnis aus einer anderen Welt, einer Welt, in der Entwicklung nur eine Richtung kennt – zu einer Moral des Guten. Piaget assoziierte die Fähigkeit, sich auf den Standpunkt des Gegenübers zu stellen, automatisch mit Rücksichtnahme. Er zitierte auch die Goldene Regel »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!« (ebd.: 371). Jedoch blendete er aus, dass man eine Person, auf deren Standpunkt man sich stellt, auch gezielt ärgern und schikanieren kann. Als Gegenpart zur Goldenen Regel könnte ein Bösewicht ein diabolisches Prinzip erfinden: »Behandle den anderen so, wie du selbst auf keinen Fall behandelt werden möchtest!« Piaget argumentierte, die einseitige Furcht des Kindes vor der Macht der Erwachsenen mutiere bei der gegenseitigen Achtung zur »gänzlich moralischen Furcht, in den Augen des geachteten Individuums zu sinken« (ebd.: 438), und das bewahre die Individuen vor bösen Handlungen.
Die Schattenseiten der intellektuellen Entwicklung blendete Piaget weitgehend aus. Gut möglich, dass dies mit seinem christlichen Engagement in den Jahren vor Abfassung des Moralischen Urteils zusammenhängt (vgl. Band 2: Theologie und Reformpädagogik). Was in einer Publikation von 1928 noch göttliche Normen waren – eine innerpsychische Transzendenz –, sind vier Jahre später, im vorliegenden Buch, moralische Normen, die das Kind in einem jahrelangen Prozess aufbaut.
Man sollte den Einfluss von Piagets früher christlicher Phase nicht überbewerten; ihre Spuren verlieren sich kurz nach 1930 in seinem Werk praktisch völlig. Im vorliegenden Buch ist von der Religion nur noch nebenbei die Rede. Der 36-jährige Piaget konfrontiert im letzten Kapitel die Theorien bedeutend älterer, bekannter Autoren – vor allem des französischen Soziologen Emile Durkheim und des Westschweizers Pierre Bovet – mit seinen Forschungsergebnissen. Der Leser erfährt dort: Das religiöse Bewusstsein ist, wie überhaupt das menschliche Bewusstsein, einer Entwicklung unterworfen – vom furchteinflößend Heiligen, das Durkheim mit der Gesellschaft assoziiert (in diesem Band: 396, 406), bis zum göttlichen Idealwesen, das (laut Pierre Bovet) entsteht, sobald das Kind die Fehler seiner Eltern entdeckt und das Bild der Vollkommenheit, das es zunächst mit ihnen verbindet, in eine höhere Sphäre projiziert (ebd.: 431). Die Gottesvorstellung wird also immer individueller. Man musste, schrieb Piaget, »auf die höchst entwickelten Religionen warten, bis die Menschheit in der Lage war, den Göttern eine moralische Reinheit zuzuschreiben« (ebd.: 436). Damit widerlegte er sowohl Durkheims Auffassung, die soziale Entwicklung laufe zwangsläufig in Richtung einer atheistischen Gesellschaft, als auch dessen These, das Kind lerne hauptsächlich aufgrund des Zwangs durch die Erwachsenengesellschaft. Der Entwicklungsgedanke überstrahlt nun alles Übrige. Das Gute identifiziert Piaget mit einer »dem Gewissen immanenten Gleichgewichtsform« (ebd.: 441), zu der die Entwicklung hinstrebt.
Was sind die zentralen Botschaften des Buches? Wichtig ist sicher die These, dass das Motiv zu gehorchen und Regeln zu befolgen zunächst in der einseitigen Achtung des Kindes gegenüber seinen Erziehern...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2015 |
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Zusatzinfo | mit Register |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Technik | |
Schlagworte | Disziplingeschichte • Entwicklungspsychologie • Erkenntnistheorie • Immanenztheologie • Jean Piaget • Moralbewusstsein • Pädagogik • Piaget • Psychologie • Reformpädagogik • Sozialpsychologie • Strukturalismus • Theologie • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-608-10682-0 / 3608106820 |
ISBN-13 | 978-3-608-10682-4 / 9783608106824 |
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