Animal irrationale (eBook)

Eine kurze (Natur-)Geschichte der Unvernunft
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2013 | 1., Originalausgabe
137 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73198-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Animal irrationale - Franz M. Wuketits
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Der Mensch ist das mit Vernunft begabte Lebewesen, das animal rationale. So will es die philosophische Überlieferung. Geschichte und Gegenwart des Menschen legen jedoch die Vermutung nahe, dass in seinem Denken und Handeln mehr Unvernunft steckt, als ihm selbst lieb sein kann. Zwei Weltkriege und unzählige andere (menschliche) Katastrophen sowie die massive Zerstörung seines Lebensraums lassen den Menschen als »animal irrationale« erscheinen. Der Evolutionstheoretiker Franz M. Wuketits spürt die (natur-)historischen Wurzeln der Unvernunft auf und kommt zu dem Schluss, dass jene Portion Irrationalität, die sich der Steinzeitmensch leisten durfte, seinen Nachfahren in unserer komplexen Welt immer wieder zum Verhängnis wird.

<p>Franz M. Wuketits lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universit&auml;t Wien.</p>

Einleitung: Das Märchen vom animal rationale

»Der Mensch ist von Natur aus ein verwirrtes Lebewesen. Seine Rationalität, seine Politik, seine Wissenschaft, seine Überzeugungen, seine Engagements sind verwirrte Versuche, seiner Verwirrung Herr zu werden. Es ist daher wenig überraschend, daß die Geschichte seines Denkens voller ironischer Ergebnisse ist – Kinder aus der Ehe zwischen einer Zukunft, die er nicht voraussagen, und einer Gegenwart, die er nicht ausloten kann.« Diese Zeilen aus der Feder des amerikanischen Philosophen William W. Bartley (Bartley 1975, S. 64) charakterisieren die menschliche Situation mit seltener Klarheit. Bei so viel Verwirrtheit stellt sich allerdings die Frage, wie es denn kam, dass die Menschheit bisher überlebt hat. Nicht alles kann sie falsch gemacht haben, hin und wieder waren zumindest einigen Individuen dieser Gattung Geistesblitze gegönnt.

Seit der Antike gilt der Mensch als animal rationale, als das mit Vernunft begabte Lebewesen, und Heerscharen von Philosophen haben seither den Menschen als Vernunftwesen begriffen, seine Vernunft als das ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidende Merkmal hervorgehoben (vgl. Schnädelbach 2009). Freilich regte sich dagegen ab und an auch Widerstand, indem etwa – und vor allem – die Gefühlswelt des Menschen herausgestellt und der Mensch als animal emotionale charakterisiert wurde. Auch an Vernunftkritik hat es nicht gefehlt – allein, die setzt ja Vernunft immer schon voraus. Der Fortschrittsoptimismus der Neuzeit, insbesondere seit der Aufklärung, gründete sich ganz entscheidend auf den Glauben an die Vernunft, und der Rationalismus wurde zur beherrschenden Denkweise: Die menschliche Erkenntniskraft ist praktisch unbegrenzt, das Vernunftwesen Mensch kann alle Sphären der Welt geistig erfassen und sich der Natur beliebig bemächtigen.

Der Vernunftbegriff hat allerdings viele Facetten. Er kann sogar als Druckmittel eingesetzt werden. »Sei (seien Sie) vernünftig!« ist ein in unser aller Alltag wohlbekannter Appell, mit dem uns nahegelegt wird, in unserem eigenen Interesse etwas zu tun (oder zu unterlassen). Er beruht auf der stillschweigenden Überzeugung, dass Menschen grundsätzlich vernünftig handeln können, wenn sie nur wollen. Aber der, der diesen Appell befolgt und »vernünftig« handelt, weil ein anderer ihn dazu ermahnt, agiert oft genug bloß im Interesse des anderen. Doch wer will schon als »unvernünftig« gelten! Dem Einzelnen aufgezwungene »Vernunftgründe« können daher seine persönlichen Vorlieben und Wünsche in den Hintergrund drängen und somit sein Wohlbefinden beeinträchtigen. In der Staatsräson schließlich, der »Staatsvernunft«, zählt das Wohl des Einzelnen praktisch nichts mehr, »vernünftig« ist nur, was dem Staatswohl dient (was auch immer das sein mag). Hier tritt uns ein in der Perspektive des Individuums einigermaßen brutaler Vernunftbegriff entgegen. Niccolò Machiavelli hat ihn uns vor fünfhundert Jahren vorgeführt.

Das animal rationale ist – woran wohl von Anfang an niemand ernsthaft gezweifelt hat – ein Wesen aus Fleisch und Blut, aber kraft seiner Vernunft von allen anderen solchen Wesen abgehoben. So entstand ein Dualismus, die Überzeugung, dass der Mensch gleichsam von zweifacher Natur sei, wobei seine zweite Natur (Vernunft, Geist, Bewusstsein) unmöglich aus seiner ersten, fleischlichen Natur »abgeleitet« werden könne (vgl. Flew 1978). Natur und Geist, Natur und Kultur, Körper und Geist wurden zu Widersachern erklärt, ein gespaltenes Menschenbild war die Folge. Die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, leidet bis heute darunter. Sie ist in zahlreiche Disziplinen zersplittert, als ob sie den Menschen als ein in Teile zerrissenes Wesen zu behandeln hätte. Aber das wäre schon ein eigenes Thema.

Mit dem animal rationale (die Betonung liegt hier auf rationale) ist es allerdings nicht weit her, und selbst die auf den Begründer der biologischen Systematik und Klassifikation, den Schweden Carl von Linné, zurückgehende zoologische (!) Benennung des Menschen als Homo sapiens vermag den Wahnsinn nicht zu verdecken, den dieses vermeintlich so vernünftige, weise Lebewesen fortgesetzt hervorbringt. Die Attribute rationale und sapiens, die der Mensch sich verliehen hat – und wer denn sonst könnte sie ihm verliehen haben! –, sollten doch in erster Linie seiner Besänftigung dienen. Sie sollten »ein Geschöpf von starker und unbeständiger Affektivität [besänftigen] …; ein genießerisches, trunkenes, ekstatisches, heftiges, zorniges, liebendes Geschöpf, ein Geschöpft, das vom Imaginären heimgesucht wird; ein Geschöpf, das den Tod kennt und nicht daran glauben kann; ein Geschöpf, das den Mythos und die Magie absondert; ein Geschöpf, das von den Geistern und Göttern besessen ist, das sich von Illusionen und Hirngespinsten nährt« (Morin 1974, S. 132f.). Ein Lebewesen, das sich vernünftig und weise dünkt, muss diese ihm ebenso eigenen Attribute als störend, wenn nicht gar schmerzhaft empfinden, sollte sich aber notgedrungen eingestehen, dass seine Charakterisierung als homo demens, das wahnsinnige Tier (Morin 1974), durchaus auch seine Berechtigung hat.

Der Mensch ist, wie alle anderen Organismenarten, ein Resultat der Evolution durch natürliche Auslese oder Selektion. Daran ist heute nicht mehr zu rütteln. Er ist also tief in der Natur verwurzelt und blickt auf eine lange Naturgeschichte zurück. Deren jüngstes Kind ist seine Vernunft beziehungsweise alles, was man darunter verstehen will, nach Immanuel Kant jedenfalls »das ganze obere Erkenntnisvermögen« (vgl. Kant 1966 [1787], S. 842). Es ist eine hauchdünne »Schicht« in einem Kontinuum von kognitiven Mechanismen, deren Entstehung mit der Entstehung des Lebens auf der Erde vor über drei Jahrmilliarden praktisch zusammenfällt (vgl. Riedl 1980). Denn um existieren zu können, benötigen alle Lebewesen Informationen über ihre Außenwelt, sie müssen imstande sein, auf ihre Außenwelt zweckdienlich, das heißt im Dienste ihres Überlebens zu reagieren. Insoweit lässt sich das Leben insgesamt als ein Erkenntnisvorgang beschreiben (Lorenz 1973). »Erkenntnis« ist dabei in einem sehr weiten Sinn zu verstehen, keineswegs im engen Sinn des Begriffs in der philosophischen Erkenntnistheorie. Alle Wahrnehmungsleistungen, selbst die einfachsten, gehören dazu. Sämtliche Tiere verfügen über Sinnesorgane oder diesen äquivalente Strukturen bei Einzellern. (Da kann der ganze [Zell-]Körper auf bestimmte Reize reagieren, oder abgegrenzte Zellbezirke können der Wahrnehmung von Außeneinflüssen dienen, zum Beispiel ein »Augenfleck« zur Wahrnehmung von Lichtreizen.) Lebewesen befinden sich in ständiger Konfrontation mit ihrer jeweiligen Umwelt, sie müssen diese auf irgendeine Art und Weise »abschätzen« und bewältigen können. Dass das oft genug gründlich danebengeht, steht auf einem anderen Blatt.

Nun erfolgt die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Außenwelt bei den allermeisten Tieren – von Pflanzen dürfen wir hier absehen – auf der Basis unbewusster, über lange Zeiträume »eingespielter« Mechanismen, die von der natürlichen Auslese begünstigt wurden. Der Mensch dünkt sich darüber erhaben, wähnt sich als vernünftiges Wesen, das seine »Instinkte« zu kontrollieren, zu sich selbst in Distanz zu treten vermag. Dass seine Erkenntnisweisen auch von soziokulturellen Faktoren beeinflusst sind, bleibt unbestritten. Doch auch die menschlichen Gesellschaften und Kulturen sind nicht im luftleeren Raum entstanden, sie bleiben über das Gehirn mit der menschlichen Natur untrennbar verbunden. Natur und Kultur stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Die vorliegende kurze Geschichte der Unvernunft wird diesen Wechselwirkungen Rechnung tragen. Vernunfterkenntnis war in unserer Naturgeschichte nicht vorgesehen – in der Naturgeschichte war nichts vorgesehen! –, und so sollte es eigentlich nicht überraschend kommen, dass sie auf eine harte Probe gestellt und von Unvernunft begleitet wird.

Wer sich die Verheerungen vor Augen führt, die der Mensch in seiner vergleichsweise sehr kurzen (Kultur-)Geschichte in der ihn umgebenden Welt – und nicht zuletzt gegen seine eigene Gattung! – schon angerichtet hat, wird sich der Einsicht nicht verschließen können, dass das animal rationale nichts weiter als ein Märchen war. Gewiss, man kann hierbei auch so etwas wie einen Auftrag sehen, den sich der Mensch selbst gegeben hat (oder, besser gesagt, den ihm einige Exemplare seiner Gattung gegeben haben): Er soll Vernunft walten lassen, von seiner Fähigkeit zur Vernunft Gebrauch machen. Aber er kann seine »tierische Vergangenheit« nicht einfach abstreifen. Und manches Verhalten und Handeln, das sich unter steinzeitlichen Existenzbedingungen als vernünftig erwies, schlägt erst in der heutigen, durch sein eigenes Zutun sehr komplex gewordenen Welt in Unvernunft um....

Erscheint lt. Verlag 17.6.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Technik
Schlagworte edition unseld 49 • EU 49 • EU49 • Evolutionstheorie • Mensch • Naturgeschichte • Vernunft
ISBN-10 3-518-73198-X / 351873198X
ISBN-13 978-3-518-73198-7 / 9783518731987
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