Selbst im Spiegel (eBook)

Die soziale Konstruktion von Subjektivität

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
502 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73149-9 (ISBN)

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Selbst im Spiegel - Wolfgang Prinz
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Fragen nach Geist, Subjektivität und freiem Willen beschäftigen seit jeher die Philosophie, aber auch die Psychologie. Mit Selbst im Spiegel legt Wolfgang Prinz eine neue Theorie des Geistes vor. Der menschliche Geist, so Prinz, ist ein radikal offenes System, das keineswegs »fertig« auf die Welt kommt. Vielmehr muss er erst geschaffen und geformt werden - in Interaktion mit anderen geistbegabten Wesen. Erst im Spiegel der anderen verstehen wir, was Denken und Handeln ist. Erst nachdem wir Subjektivität bei anderen entdeckt haben, schreiben wir sie uns selbst zu. Sie ist - wie der freie Wille - ein soziales Artefakt, aber dennoch ebenso real wie eine Naturtatsache.

<p>Wolfgang Prinz, geboren 1942, ist emeritierter Direktor am Max- Planck-Institut f&uuml;r Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sowie Honorarprofessor an den Universit&auml;ten M&uuml;nchen und Leipzig. Er wurde u. a. mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Oswald-K&uuml;lpe-Preis ausgezeichnet.</p>

11PROLOG

Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt

und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt.

Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge,

nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe,

selbst bestimmen.

 

[…]

 

Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch,

weder sterblich noch unsterblich geschaffen,

damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender,

schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst,

die du bevorzugst.

 

Giovanni Pico della Mirandola1

SELBSTBESTIMMUNG ALS GESCHENK DES HIMMELS

Im Jahre 1486, in der Blütezeit des norditalienischen Humanismus der Renaissance, hielt der Edelmann Giovanni Pico della Mirandola eine Rede an die geistige Elite von Florenz mit dem Titel »Über die Würde des Menschen«. Diese Rede sollte ein Manifest des Humanismus werden – ein programmatisches Dokument einer neuen Auffassung der Stellung des Menschen 12in der Welt, das gewissermaßen dessen Landschaft neu kartographiert, um die gesamte Aufmerksamkeit auf die Begabung und die Fähigkeiten des Menschen und die menschliche Perspektive zu konzentrieren. Im Zentrum der neuen Auffassung steht die Vorstellung, daß der Mensch nicht nur Gottes Geschöpf ist, sondern auch sein eigener Schöpfer. Nachdem Gott den Menschen nach Seinem Bilde geschaffen und ihn nach Seinem Ebenbild geformt hatte, gesteht er ihm einen Schöpferstatus zu, um sich selbst zu erschaffen und zu formen, sowie Wahlfreiheit, um sich zu der von ihm bevorzugten Gestalt, welche auch immer das sein mag, zu bilden.

Pico della Mirandola läßt Gott zu Adam sprechen und ihm erklären, daß Er ihn mit der Fähigkeit ausgestattet habe, sich selbst zu erschaffen und sein eigenes Wesen zu bestimmen (»… Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge … selbst bestimmen.«). Gottes Rede versetzt Adam in die Rolle eines Künstlers oder eines Ingenieurs, der sich selbst erfindet und schafft – das ist in der Tat eine gottähnliche Rolle, denn derselbe Text wendet sich an Gott als den obersten Architekten und Handwerker der Welt. Da der Mensch jetzt mit der Fähigkeit ausgestattet ist, sich selbst zu gestalten, müssen demzufolge Tatsachen, die das Wesen des Menschen betreffen, weitgehend Tatsachen mit Bezug auf von ihm selbst geschaffene Gegenstände sein.

Heute, über 500 Jahre später, stellen wir fest, daß Picos Botschaft in unterschiedlichen Lebensbereichen und Zweigen der Gelehrsamkeit, wie zum Beispiel den Künsten, der Literatur, der Politik, der Ökonomie und der Jurisprudenz, allgemein aufgenommen und weithin umgesetzt wurde. In diesen Bereichen sind die moderne Theorie und Praxis äußerst stark in der Vorstellung verankert, daß Menschen autonome Akteure sind, die sich zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst erfinden und erschaffen und ihr Leben gestalten können. Die westliche, nachaufklärerische Moderne nimmt an, daß Menschen das Recht und die nötige Fähigkeit besitzen, ihren eigenen Lebensstil zu 13bestimmen. Solche Rechte und Fähigkeiten schreiben wir nicht nur Individuen, sondern auch Kollektiven wie etwa Familien, Stämmen, Kulturen und Staaten zu. Doch Picos Behauptung deutet darauf hin, daß die Selbstbestimmung der Menschheit tiefer geht, als bloß an der Oberfläche unseres Lebensstils zu kratzen. Sie scheint zu postulieren, daß wir Menschen sogar die Begabungen und Fähigkeiten, durch die wir unseren Lebensstil schaffen und formen, selbst erzeugen können.

Kurz und gut, Picos Auffassung der Selbstbestimmung des Menschen ist ebenso einfach wie radikal: Gott schenkt dem Menschen die Selbstbestimmung, und der Mensch, der mit allen Fähigkeiten ausgestattet ist, die erforderlich sind, um von diesem Geschenk Gebrauch zu machen, nimmt es dankbar entgegen und findet Gefallen daran.

DETERMINISTISCHE WISSENSCHAFT

Die Vorstellung menschlicher Selbstbestimmung wurde zwar weithin übernommen und in unterschiedlichen Zweigen des modernen Lebens und den damit verbundenen Praktiken und Diskursen umgesetzt; andererseits läßt sich mit Recht behaupten, daß Wissenschaftler, die sich mit der Untersuchung des Geistes und seiner Funktionsweise befassen, der Botschaft von Picos Manifest immer schon skeptisch gegenüberstanden und mehr oder weniger immun gegen ihren konstruktivistischen Geist waren. Die Wissenschaft hat Schwierigkeiten damit, der Vorstellung Rechnung zu tragen, daß Menschen dazu in der Lage sind, ihren eigenen Geist zu schaffen und zu entwerfen und ihre eigene Funktionsweise zu gestalten. Eine berühmte Streitschrift des Behaviouristen B. F. Skinner, die ebenfalls die Freiheit und Würde des Menschen behandelt, mag dabei als modernes wissenschaftliches Gegenstück zu Picos Manifest gelten. Für Skinner ist die Vorstellung des autonomen Menschen, wissenschaftlich gesehen, nutzlos und irreführend. Der auto14nome Mensch ist für ihn »ein Zentrum, dem Verhalten entspringt. Er leitet ein, erzeugt und schafft, wobei er das bleibt, was er schon für die Griechen war – nämlich göttlich. Wir behaupten, er sei autonom, das aber bedeutet in bezug auf eine Wissenschaft des Verhaltens ›übernatürlich‹.«2

Anstatt an die Menschen als Schöpfer und Gestalter ihres eigenen Geistes zu glauben – wie Pico nahelegt –, glauben Kognitions- und Verhaltenswissenschaftler, daß die Tätigkeiten des menschlichen Geistes von der Naturgeschichte seines Aufbaus sowie der Kultur- und Individualgeschichte bestimmt werden, durch die sie gebildet werden. Eine derartige deterministische Blaupause liegt implizit allen Zweigen dieser Wissenschaften zugrunde. Dieser Auffassung zufolge wird der menschliche Geist von der Natur und der Kultur geschaffen und geformt, wobei kein Raum übrigbleibt für Erfindung und Schöpfung durch den Besitzer des Geistes selbst. Diese Ansicht ist offensichtlich nicht vereinbar mit dem konstruktivistischen Timbre von Picos Vorstellung des Menschen, der sein eigener Architekt ist. Aus wissenschaftlicher Perspektive mag Picos Behauptung sogar etwas paradox klingen: Wie sollte es möglich sein, daß so etwas wie der Geist sich selbst schafft? Setzt eine solche Selbsterzeugung nicht gerade voraus, was erklärt werden sollte?

Die in diesem Buch vorgestellten Ideen zielen darauf ab, die nüchterne Kognitionswissenschaft mehr für jenen konstruktivistischen Geist, den Picos Vorstellungen verkörpern, zu öffnen. Ich werde keine voll entwickelte Theorie des Geistes anbieten, die sich über unterschiedliche Bereiche geistiger Funktionen erstreckt. Vielmehr werde ich mich auf einen Entwurf einer Theorie menschlicher Agentivität und menschlicher Subjektivität konzentrieren, bei denen es sich als Kerneigenschaften des menschlichen Geistes gewiß um die wesentlichen Kennzeichen der geistigen Funktion des Menschen handelt. Wie entsteht Agentivität und Subjektivität im Geist des Menschen? Wie ent15steht ein geistiges Selbst und wozu könnte es dienen? Und in welcher Beziehung stehen das bewußte Erleben und das Selbstgefühl?

DIE OFFENHEIT DES GEISTES

Das sind die Fragen, die ich im weiteren Verlauf behandeln werde. Die Antworten, die ich anbieten werde, folgen einer zweifachen Verpflichtung: der Entwicklung eines konstruktivistischen Ansatzes innerhalb eines repräsentationalistischen Rahmens.

Was den Konstruktivismus betrifft, so folge ich dem Geist von Picos Manifest, obgleich ich in einer entscheidenden Hinsicht von seiner Inspiration abweiche, die darauf hindeutet, daß die Erschaffung und Erfindung des menschlichen Selbst eine Sache des einzelnen Genies ist, das sein Leben und seinen Geist bildet und gestaltet, wie es ihm beliebt. In dieser Hinsicht folgt das Manifest ganz jener in der Renaissance vertretenen Ansicht, daß Architekten, Ingenieure und Künstler individuelle Träger hervorragender Begabungen seien. Im Gegensatz dazu behauptet der Ansatz, den ich hier entfalten werde, daß Individuen sich nur in und durch die Interaktion und Kommunikation mit anderen schaffen und erfinden können. Anstatt als geschlossenes, individuelles System wirksam zu sein, muß ihr Geist auf eine Weise arbeiten, die eine grundlegende Offenheit für andere geistbegabte Wesen aufweist. Die Perspektive der »Offenheit des Geistes« besagt, daß die Rolle, die Pico einzelnen Genies zuschrieb, tatsächlich von aus Individuen bestehenden Kollektiven gespielt wird – von Kollektiven von Architekten, Ingenieuren und Künstlern, die ihren Geist in und durch wechselseitige Interaktion entwerfen und gestalten.

Was den Repräsentationalismus angeht, so gehe ich von einem konventionellen Rahmen aus, der in der Kognitionswissenschaft allgemein Verwendung findet. Dieser Rahmen betrachtet die eigentliche Funktion des Geistes als das Repräsentieren 16und Steuern ausgewählter Merkmale der Umgebung. Die Mechanismen, die diesen Funktionen zugrunde liegen, lassen sich sowohl bei Verhaltensleistungen als auch beim geistigen Erleben untersuchen. Diesem...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2013
Übersetzer Jürgen Schröder
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Open Minds. The Social Making of Agency and Intentionality
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Technik
Schlagworte Intentionalität • Kognition • Selbst • STW 2169 • STW2169 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2169 • Wille • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-73149-1 / 3518731491
ISBN-13 978-3-518-73149-9 / 9783518731499
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