Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (eBook)

Zur Evolution der Kognition
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2013 | 1. Auflage
307 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73221-2 (ISBN)

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Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens -  Michael Tomasello
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Affen und Menschen teilen noch heute 99 Prozent ihres genetischen Materials.Trotzdem ist es nur der Menschheit gelungen, kognitive Fähigkeiten auszubilden, die so komplexe Gebilde wie etwa sprachliche Kommunikation und soziale Organisationen, Hochleistungsindustrie und entsprechende Technologien hervorgebracht haben. Wie ist das möglich? Gestützt auf zahlreiche Experimente mit Primaten und Kleinkindern, entwickelt Michael Tomasello ein Modell des menschlichen Denkens, das diese Phänomene erklären kann, indem er kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift. Die Ausführung dieser zentralen These wirft ein neues Licht auf zahlreiche Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften und zeigt die Verbindung dieser sonst so strikt getrennten »zwei Kulturen« im Licht der evolutionären Anthropologie auf. Michael Tomasello ist Kodirektor am Max- Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie und am Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum, beide in Leipzig.

<p>Michael Tomasello, geboren 1950, ist Professor f&uuml;r Psychologie und Neurowissenschaft an der Duke University. Von 1998 bis 2018 war er Co-Direktor des Max-Planck-Instituts f&uuml;r Evolution&auml;re Anthropologie in Leipzig. F&uuml;r seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er f&uuml;r sein Gesamtwerk den prestigetr&auml;chtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.</p>

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Ein Rätsel und eine Vermutung

Die großen Errungenschaften des Geistes
übersteigen sämtlich die Kräfte einzelner Individuen.

Charles Sanders Peirce

Irgendwo in Afrika wurde vor etwa sechs Millionen Jahren eine Population von Menschenaffen durch ein unscheinbares Evolutionsereignis von ihren Artgenossen reproduktiv isoliert. Diese neue Gruppe entwickelte sich fort und teilte sich in weitere Gruppen auf, so daß schließlich verschiedene Arten eines zweibeinigen Affen der Gattung Australopithecus entstanden. Alle bis auf eine dieser neuen Arten starben dann aus. Diese eine Art überlebte bis vor zwei Millionen Jahren und hatte sich in der Zwischenzeit so sehr verändert, daß sie nicht nur nach einer neuen Art-, sondern auch nach einer neuen Gattungsbezeichnung verlangte, nämlich Homo. Im Vergleich mit seinen australopithezinen Vorfahren, die etwa 1,20 m groß waren, Gehirne mit einer anderen Affen vergleichbaren Größe hatten und keine Steinwerkzeuge herstellten, war Homo größer, hatte ein größeres Gehirn und machte Werkzeuge aus Stein. Schon bald begann Homo seine weite Reise über den Globus anzutreten, obwohl es keinem seiner frühen Raubzüge von Afrika aus gelang, Populationen zu etablieren, die dauerhaft überlebten.

Vor ungefähr 200000 Jahren und noch immer in Afrika schlug dann eine Population von Homo eine neue und andere Entwicklungslinie ein. Diese Population begründete zunächst eine neue Lebensweise in Afrika selbst und breitete sich dann über die ganze Welt aus, wobei sie alle anderen Populationen von Homo verdrängte und Nachkommen hinterließ, die heute als Homo sapiens bekannt sind (vgl. Abbildung 1.1). Die Angehörigen dieser neuen Art hatten verschiedene neue Körpereigenschaften, darunter etwas größere Gehirne. Aber am auffälligsten waren ihre neuen kognitiven Fertigkeiten und die Gegenstände, die sie herstellten:

13• Sie begannen mit der Herstellung einer Vielzahl neuer Steinwerkzeuge, die jeweils besonderen Zwecken angepaßt wurden, wobei jede Population dieser Art ihre eigene »Industrie« des Werkzeuggebrauchs schuf – mit dem Ergebnis, daß einige Populationen schließlich so etwas wie computergesteuerte Produktionsprozesse erfanden.

• Sie begannen mit der Verwendung von Symbolen zur Kommunikation und zur Strukturierung ihres Soziallebens, unter denen sich nicht nur

Abbildung 1.1 Eine vereinfachte Darstellung des zeitlichen Maßstabs menschlicher Evolution.

14sprachliche, sondern auch künstlerische Symbole in Form von Steingravuren und Höhlenzeichnungen fanden – was schließlich darin mündete, daß einige Populationen Schrift, Geld, mathematische Notationen und Kunst erfanden.

• Sie gründeten neue Arten gesellschaftlicher Praktiken und Organisationen, die alles mögliche – von der zeremoniellen Bestattung der Toten bis zur Domestizierung von Pflanzen und Tieren – umfaßten, so daß einige Populationen schließlich formalisierte Institutionen der Religion, der Regierung, des Erziehungswesens und des Handels schufen.

Das Grundrätsel besteht nun in folgendem: Die sechs Millionen Jahre, die uns Menschen von anderen Menschenaffen trennen, sind, evolutionär betrachtet, eine sehr kurze Zeitspanne, vor allem im Hinblick darauf, daß der moderne Mensch mit dem Schimpansen ungefähr 99 Prozent des genetischen Materials teilt. Es handelt sich dabei um denselben Grad von Verwandtschaft wie zwischen anderen eng verwandten Gattungen, z. B. zwischen Löwen und Tigern, Pferden und Zebras oder Ratten und Mäusen.1 Unser Problem ist also ein zeitliches. Es stand einfach nicht genügend Zeit für normale biologische Evolutionsprozesse, wie genetische Variation und natürliche Selektion, zur Verfügung, um Schritt für Schritt jede der kognitiven Fertigkeiten zu erzeugen, die es modernen Menschen ermöglichen, komplexe Werkzeuggebräuche und Technologien, komplexe Formen der Kommunikation und Repräsentation durch Symbole und komplexe gesellschaftliche Organisationen und Institutionen zu erfinden und aufrechtzuerhalten. Dieses Rätsel wird nur noch geheimnisvoller, wenn wir gegenwärtige Forschungsergebnisse aus der Paläoanthropologie ernst nehmen, aus denen hervorgeht, daß (a) die Entwicklungslinie des Menschen außer in den letzten zwei Millionen Jahren keine weiteren als nur die für Menschenaffen typischen Fertigkeiten aufweist, und (b) die ersten dramatischen Anzeichen für einzigartige kognitive Fertigkeiten erst in den letzten 250000 Jahren mit dem modernen Homo sapiens auftreten.2

Dieses Rätsel hat nur eine einzige mögliche Lösung. Das heißt, 15es gibt nur einen einzigen bekannten, biologischen Mechanismus, der diese Veränderungen im Verhalten und der Kognition in so kurzer Zeit hervorbringen könnte, ob man diese Zeit nun mit sechs Millionen, zwei Millionen oder 250000 Jahren veranschlagt. Dieser biologische Mechanismus besteht in der sozialen oder kulturellen Weitergabe, die auf einer um viele Größenordnungen schnelleren Zeitskala operiert als die Prozesse der organischen Evolution. Im allgemeinen ist die kulturelle Weitergabe ein beinahe gewöhnlicher Evolutionsprozeß, der einzelnen Organismen hilft, viel Zeit und Mühe und vor allem Risiken einzusparen, indem sie das bereits vorhandene Wissen und die Fertigkeiten ihrer Artgenossen nutzen. Kulturelle Weitergabe beinhaltet solche Dinge wie, daß flügge gewordene Vögel den arttypischen Gesang ihrer Eltern imitieren, Rattenjunge nur diejenige Nahrung fressen, die ihre Mütter fressen, Ameisen dadurch Nahrung lokalisieren, daß sie den Pheromonspuren ihrer Artgenossen folgen, junge Schimpansen den Gebrauch von Werkzeugen von den sie umgebenden Erwachsenen lernen und Menschenkinder die sprachlichen Konventionen von anderen in ihren jeweiligen sozialen Gruppen erwerben.3 Trotz der Tatsache, daß sich alle diese Prozesse unter die allgemeine Rubrik kultureller Weitergabe subsumieren lassen, sind doch die genauen Mechanismen des Verhaltens und der Kognition, die in den einzelnen Fällen beteiligt sind, zahlreich und verschiedenartig. Sie beinhalten alles Mögliche vom Auslösen starrer Verhaltensmuster der Nachkommen durch die Eltern bis zur Weitergabe von Fertigkeiten durch Imitationslernen und Unterricht – was die Möglichkeit signifikanter Unterarten von Prozessen kultureller Weitergabe plausibel macht.4 Eine naheliegende Vermutung ist demnach, daß der erstaunliche Satz kognitiver Fertigkeiten und Produkte, den man beim modernen Menschen findet, das Ergebnis einer einzigartigen Weise kultureller Weitergabe ist.

Es gibt überwältigende Belege dafür, daß Menschen tatsächlich einzigartige Formen kultureller Weitergabe benutzen. Insbesondere verändern sich die menschlichen kulturellen Tradi16tionen und Artefakte über die Zeit in einer Weise, die man bei anderen Tierarten nicht antrifft – die sogenannte kumulative kulturelle Evolution. Im Grunde wurden keine der komplexesten Artefakte oder sozialen Praktiken des Menschen, einschließlich der Werkzeugherstellung, der symbolischen Kommunikation und der sozialen Institutionen, ein für allemal zu einem einzigen Zeitpunkt von einem einzelnen oder einer Gruppe von Individuen erfunden. Vielmehr war es so, daß ein Individuum oder eine Gruppe zunächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder »Verbesserung« einführten, die dann von anderen manchmal unverändert viele Generationen lang übernommen wurde. Dieser Prozeß, der manchmal »Wagenhebereffekt« (ratchet effect) genannt wird, setzte sich über einen historischen Zeitraum fort.5 Der Vorgang kumulativer kultureller Evolution erfordert nicht nur Erfindungsgabe, sondern auch und ebenso sehr zuverlässige soziale Weitergabe, die ähnlich wie ein Wagenheber das Zurückfallen verhindern kann, so daß das gerade erst erfundene Artefakt oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt. Es überrascht vielleicht, aber bei vielen Tierarten ist es nicht die Komponente der Erfindung, sondern die stabilisierende »Wagenheberkomponente«, deren Fehlen eine Fortentwicklung verhindert. So bringen nichtmenschliche Primaten zwar regelmäßig intelligente Verhaltensneuerungen hervor, aber die anderen Gruppenmitglieder durchlaufen dann nicht diejenigen Arten sozialer Lernprozesse, die über die Zeit hinweg den kulturellen Wagenhebereffekt realisieren würden.6

Die grundlegende Tatsache besteht also darin, daß Menschen die Fähigkeit besitzen, ihre kognitiven Ressourcen in einer Weise zu bündeln, die anderen Tierarten abgeht. Dementsprechend haben Tomasello, Kruger und Ratner (1993) das menschliche kulturelle Lernen von weiter verbreiteten Formen des sozialen Lernens unterschieden und drei Grundtypen identifiziert: Imita17tionslernen, Lernen durch Unterricht und Lernen durch Zusammenarbeit. Diese drei Typen kulturellen Lernens werden durch eine...

Erscheint lt. Verlag 18.2.2013
Übersetzer Jürgen Schröder
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Entwicklungspsychologie
Technik
Schlagworte Distinguished Scientific Contribution Award 2015 • Klaus J. Jacobs Research Prize 2011 • Kognition • Kognitive Entwicklung • Kultur • Kulturelle Entwicklung • STW 1827 • STW1827 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1827 • The Cultural Origins of Human Cognition deutsch • Wiesbadener Helmuth Plessner Preis 2014
ISBN-10 3-518-73221-8 / 3518732218
ISBN-13 978-3-518-73221-2 / 9783518732212
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