Körper, Seele, Mensch (eBook)

Versuch über die Kunst des Heilens
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
142 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73245-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Körper, Seele, Mensch -  Bernd Hontschik
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Wer über die Medizin im 21. Jahrhundert nachdenkt, hat ein großes Klagen im Ohr: Patienten fühlen sich unverstanden, Ärzte sehen sich von Zwängen umstellt, während Technologie und immer neue alternative Methoden Heilsversprechen machen. Doch wie werden wir wirklich gesünder? Bernd Hontschik, praktizierender Arzt, nimmt sich die Freiheit, über seine tägliche Arbeit - und über sie hinaus - nachzudenken, und plädiert für ein Umdenken in der Medizin. Im ersten Band der neuen Reihe medizinHuman geht es um die Irrwege der hochgerüsteten Medizin und die Wichtigkeit ärztlicher Kreativität. Warum heilen Wunden entgegen aller Logik nicht zu? Warum wirken Medikamente manchmal und manchmal nicht? Seine Antwort: Der Mensch ist weit mehr als eine »triviale Maschine«, und die Kunst des Heilens besteht darin, ihn auch so zu behandeln: als Einheit von Körper und Seele. Körper, Seele, Mensch ist ein Band aus der Reihe medizinHuman im suhrkamp taschenbuch. Bernd Hontschik, geboren 1952, ist Chirurg und Herausgeber der Reihe medizinHuman. Er hat zahlreiche Artikel in Büchern und Zeitschriften veröffentlicht.

<p>Bernd Hontschik, geboren 1952 in Graz, ist Chirurg in Frankfurt am Main. Abitur und Medizinstudium inFrankfurt am Main. 1978 Beginn der chirurgischen Ausbildung, 1987 Promotion über die <em>Theorie und Praxis der Appendektomie</em>, die als Buch veröffentlicht und 1989 mit dem Roemer-Preis des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin ausgezeichnet wurde. Bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt/Main-Höchst, bis 2015 in der Frankfurter Innenstadt niedergelassen in einer chirurgischen Praxis und ambulantem OP-Zentrum.</p> <p>Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.</p> <p>Bernd Hontschik war u.a. Vorstandsmitglied der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin, ist Herausgeber der Taschenbuchreihe »medizinHuman« im Suhrkamp Verlag, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Chirurgische Praxis, wurde in die Betriebskommission der Städtischen Klinik Frankfurt am Main/Höchst berufen undschreibt nach zahlreichen Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften eine regelmäßige Kolumne in einer Frankfurter Tageszeitung.</p>

Cover 1
Informationen zum Buch/Inhalt 2
Impressum 4
Inhalt 5
1. Praxisalltag: Patienten, Operationen, Bürokratie 7
2. Globalisierung, Industrialisierung, Entsolidarisierung: Die Zerstörung der Solidarsysteme 14
3. Ärztliche Ausbildung: Heilkünstler oder Medizintechniker 26
4. Ist der Mensch eine Maschine oder eine Black Box? Konstruktivismus, Biosemiotik und Systemtheorie 38
5. Mein Blinddarm, mein Motorrad und ich: Psychotherapie mit dem Skalpell und Ikarus-Syndrom 49
6. Placebo: Das Geheimnis der Bedeutungserteilung 68
7. Wundheilung: Gerinnungssystem oder Zeichensystem 80
8. Schmerzen: Droge Morphium oder Droge Arzt 101
9. Psychosomatik: Die Notlösung 122
10. Integrierte Medizin: Die Utopie 131
Anhang 139
Literatur 141
Hinweise 144

1. Praxisalltag:
Patienten, Operationen, Bürokratie


Eine Frau kommt in meine Praxis, an Krücken humpelnd. Ihr rechter Fuß ist bandagiert, sie kann kaum auftreten. Man sieht, daß sie Schmerzen hat. Während der Untersuchung ihres dick geschwollenen rechten Sprunggelenks erzählt sie, wie sie bei der Arbeit auf einer Treppe ausgerutscht und mit dem Fuß umgeknickt sei. Sie könne das nicht verstehen: Sie sei schon tausend Mal über diese Treppe gelaufen, nie sei etwas passiert. Beim Röntgen zeigt sich, daß die Knochen unverletzt sind, aber ein Band am Sprunggelenk ist wahrscheinlich angerissen. Schwellung und Schmerzen sind so stark, daß eine Gipsschiene angelegt werden muß, ein Unterschenkelliegegips. So ein Fall kommt mehrmals täglich in meiner Praxis vor – ganz normale Chirurgie, ein häufiges Verletzungsmuster, eigentlich nichts Besonderes.

Die Krankenschwester bereitet alles für den Gipsverband vor. Da die Patientin eine Zeitlang an Krücken gehen wird, werde ich ihr Spritzen gegen die Gefahr der Thrombose, einer Venenverstopfung am Bein, verordnen müssen. Kann ich das überhaupt, habe ich mein Arzneimittelbudget nicht längst überschritten? Vielleicht haben wir ja noch Ärztemuster im Kühlschrank.

Als Chirurg verbringt man mit seinen Patienten manchmal erstaunlich viel Zeit, so zum Beispiel beim Verbandswechsel, beim Gipsen, beim Operieren. Dabei kann man auch ins Gespräch kommen. Ich frage die Patientin nach ihrem Arbeitsplatz, denn ohne Krankmeldung wird es nicht gehen. Die Patientin ist jedoch ganz mit sich selbst beschäftigt, sie schüttelt ununterbrochen den Kopf, wie konnte ihr das nur passieren, es ging alles so schnell. Währenddessen höre ich von der Anmeldung her einen unguten Wortwechsel. Es ist schon der dritte Patient heute, der sich lautstark über die 10 Euro Praxisgebühr ärgert, die er doch gestern schon beim Ärztlichen Notdienst bezahlt habe.

Wir beginnen mit dem Verband. Zuerst zieht die Schwester über den Unterschenkel einen Stoffstrumpf. Die Patientin erzählt dabei von dem Museum, in dem sie arbeite und in dem zur Zeit sehr viel los sei, eine neue Ausstellung werde vorbereitet. – Jetzt werden der Unterschenkel, das Sprunggelenk und der Fuß mit einer dünnen Lage Watte gepolstert. – Sie liebe ihre Arbeit, ihr Chef sei sehr nett, als seine Sekretärin habe sie schon sehr viel gelernt über Menschen, über Künstler, über Kulturgeschichte. – Nun wickeln wir eine Lage Kreppapier auf. Immer wieder zuckt die Patientin vor Schmerzen zusammen, wenn ich das Bein nicht vorsichtig genug halte oder bewege. – Manchmal würde sie gern noch einmal ein Studium anfangen, am liebsten Kunstgeschichte. – Und jetzt kommt der Gips.

Unterdessen habe ich mit der einen Hand drei Rezepte, zwei Krankmeldungen und eine Verordnung für Krankengymnastik unterschrieben, mit der anderen Hand halte ich weiter das Bein, die weiche, nasse Gipsschiene wird mit einer Mullbinde angewickelt. Von der Anmeldung her ruft man mir zu, man habe eine Krankenhausambulanz am Telefon, von dort wolle man noch einen Patienten mit einem Abszeß schicken, ob das zu machen sei? Ich überdenke kurz unseren heutigen OP-Plan und rufe quer durch drei Zimmer zurück: »Kann kommen!« Fast wäre mir in dem Trubel entgangen, daß die Patientin plötzlich schweigt. Ich schaue auf. Sie ist ganz in sich gekehrt, sagt auf einmal: »Natürlich! Das konnte ja nicht gutgehen!« und schüttelt den Kopf.

Der Gips wird jetzt ganz warm, fast heiß, er bindet ab, wie man sagt. Aus dem OP läßt mir mein Kollege ausrichten, ich solle so bald wie möglich kommen, er brauche Assistenz. Aber noch kann ich hier nicht weg, der Gips ist noch nicht fertig. Er wird erst langsam hart. Und meiner Patientin ist unterdessen etwas klargeworden. Ihr Chef hatte überraschend eine Abteilungssitzung angesetzt, weil sich Probleme mit einem Sponsor für die kommende Ausstellung ergeben hatten. Natürlich wollte sie ihrem Chef alles recht machen und bereitete die Unterlagen perfekt vor. Und dann war die Sitzung vorbei, und ihr fiel mit Entsetzen ein, daß ihre Kinder schon seit einer Stunde bei der Tagesmutter darauf warteten, abgeholt zu werden. Sie hastete über die Treppe, sie verpaßte eine Stufe, und es war geschehen.

Mittlerweile ist der Gips endlich hart genug, ich kann das Bein der Patientin loslassen. Ihre Anspannung ist wie weggeblasen. Sie ist jetzt ruhig, fast froh. Die Erklärung für den Fehltritt hat ihr ihre Sicherheit wiedergegeben.

Gleich nach dem Gipsen gehe ich in den OP, Haube und Mundschutz, Händewaschen, Kittel, Handschuhe, kleine Haken einsetzen: Eine vermeintlich kleine Talgdrüse hinter dem Ohr hat sich als immer größer werdender, verwinkelter und stark blutender Lymphknoten herausgestellt. Deswegen hat der Patient inzwischen eine Vollnarkose erhalten. Zu zweit geht uns die Operation rasch und sicher von der Hand. Mein Kollege schimpft dabei leise nicht nur über die versteckten Blutgefäße, sondern auch über die Versicherung des Patienten, die AOK; es ist schon Juni, der dritte Monat im Quartal, unser Budget für AOK-Patienten ist seit Ende Mai erschöpft, die ganze schwierige Operation führen wir, zwei Fachärzte für Chirurgie, wahrscheinlich für null Euro durch. Wenn der angekündigte ›Abszeß‹ aus der Krankenhausambulanz ebenfalls ein AOK-Patient ist, werden wir heute rote Zahlen geschrieben haben.

Bei unserem Patienten mit dem Lymphknoten hinter dem Ohr wird sich später zeigen, daß ein Hodgkin-Lymphom dahintersteckt, eine gefürchtete bösartige Erkrankung, die aber oft mit Erfolg behandelbar, sogar heilbar ist. Ich werde ihn zu Onkologen, den auf die Behandlung von Krebserkrankungen spezialisierten Kollegen, schicken müssen. Als der Patient nach Wochen wieder in meine Sprechstunde kommt, erzählt er mir, daß keiner dieser Ärzte wirklich mit ihm gesprochen habe: »Wir müssen eine Chemo machen« – das war schon fast die ganze Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Überstanden hat er es trotzdem, aber nicht nur sein Körper ist schwer verletzt und wird lange brauchen, bis er sich erholt hat.

Der Arbeitstag ist bereits fortgeschritten, nun ist der Schreibtisch mit all den Formularen an der Reihe. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen verlangt Auskunft über Auskunft, eine Rechtfertigung für diese Verordnung und eine Begründung für jene Operation. Vor jeder Verordnung von Krankengymnastik muß ich neuerdings ein Buch wälzen, um den sechsstelligen Code für die Begründung zu finden. Die Diagnosen und inzwischen auch die Art der Operationen müssen verschlüsselt werden. Die Kontrollpapiere der Kassenärztlichen Vereinigung kann man gar nicht alle aufzählen. Zulassungen müssen erneuert werden. Das Gesundheitsamt meldet sich für eine Hygienekontrolle an. Hausärzte wollen einen Arztbrief von mir. Die Abrechnungsziffern der heutigen Arbeit müssen in den Computer eingegeben werden. Die Gebührenordnungen sind in drei dicken Büchern enthalten, eines für die Krankenkassen, eines für Privatversicherte, eines für Arbeitsunfälle. Für die Operationscodes reicht ein Buch allein nicht aus – es sind gleich zwei. Die Fortbildung, die ich vor kurzem besucht habe, muß mit Punkten auf einem Barcode-Chip registriert werden. Und wieder liegt ein Stapel Anfragen vom Versorgungsamt vor.

Das hatte ich mir so nicht vorgestellt, als ich Arzt werden wollte. Immerhin hatte ich mich für ein Studium der Medizin, nicht der Verwaltung oder Betriebswirtschaft entschieden. Zu allem Überfluß und zu meinem Überdruß erhielt ich außerdem vor kurzem einen Brief von meiner Kassenärztlichen Vereinigung: Man habe durch externe Gutachter festgestellt, daß alle Abrechnungen und Vergütungen der letzten eineinhalb Jahre wahrscheinlich falsch seien und deswegen neu erstellt werden müßten. Das Ganze dauere sicher bis Anfang des nächsten Jahres. Zwei Jahre lang werden nun die betriebswirtschaftlichen Zahlen meiner Praxis auf tönernen Füßen stehen. Das dreizehnte Monatsgehalt muß gestrichen werden, an Neueinstellungen oder Investitionen ist nicht zu denken.

Jeden Tag kommen etwa 60 bis 100 Patienten in meine Praxis. Manche bleiben nur ganz kurz, erhalten innerhalb von wenigen Minuten einen neuen Verband. Andere sind zum ersten Mal da, hatten einen Unfall, oder es schmerzt ein Abszeß. Wieder andere haben eine lange Krankengeschichte, und nicht selten ist eine Stunde Gesprächszeit nötig; der Arzt muß zuhören, fehlende Befunde besorgen, sich ein Bild machen. So wie im Fall der Patientin mit dem umgeknickten Sprunggelenk hat jeder Unfall, jede Krankheit eine eigene, unverwechselbare Geschichte.

Die Arbeit ist abwechslungsreich, sie macht mir Freude. Aber sie wird immer schwieriger. Die Medizin, die Heilkunst, die ich gelernt habe, hilft mir, einen Beruf auszuüben, den ich liebe. Aber die Gesellschaft mit ihrem Gesundheitswesen, in dem ich mich mit meiner Arbeit bewegen muß, macht es mir mit jedem Tag schwerer, meinen Beruf so auszuüben, wie es für meine Patienten am besten wäre. Eine derartige Entwicklung, der man sich zunächst ohnmächtig ausgeliefert fühlt, macht manchmal wütend, manchmal deprimiert, schließlich auch sprachlos. Aus diesem Unbehagen heraus habe ich im vorliegenden Buch meine Geschichte, meine Erfahrungen und meine Utopien im Zusammenhang mit der Medizin aufgeschrieben. Es soll kein neuer Ratgeber für Patienten und Angehörige sein, es sollen nicht noch mehr Fachwissen und »Wie funktioniert das?«-Erklärungen unter die Leute gebracht, nicht eine weitere, noch alternativere Methode vorgestellt werden; nicht noch ein Buch über Kunstfehler, erfundene Krankheiten oder die Medizinmafia, nicht noch ein Arztroman mit dem Sentiment des Schicksalsschlags Krankheit soll...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2012
Reihe/Serie medizinHuman
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie
Technik
Schlagworte Ganzheitsmedizin • Heilen • Körper • Psychosomatik • ST 3818 • ST3818 • suhrkamp taschenbuch 3818
ISBN-10 3-518-73245-5 / 3518732455
ISBN-13 978-3-518-73245-8 / 9783518732458
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