Jung im Kopf (eBook)
368 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-08227-7 (ISBN)
Altern, so der bekannte Hirnforscher und Lernexperte Martin Korte, ist keineswegs gleichbedeutend mit körperlichem und geistigem Verfall. Das mittlere und das höhere Alter sind vielmehr menschliche Entwicklungsphasen mit bestimmten Eigenheiten, Schwächen, aber auch besonderen Fähigkeiten und Stärken, die wir erkennen und nutzen sollten.
Auf der Grundlage neuester Forschung stellt Korte die Alterungsprozesse des Gehirns dar. Er räumt mit dem Mythos auf, dass Denk- und Gedächtnisfähigkeiten im Alter vor allem schwinden, und zeigt, wie wir dem Älterwerden entschlossener begegnen können, und zwar frühzeitig: Denn Altern beginnt weder erst mit der Rente, noch verläuft es in starren, unveränderlichen Bahnen. So wirkt sich zum Beispiel auch die eigene Erwartungshaltung auf die geistige Leistungsfähigkeit im höheren Alter aus. Und das bedeutet: Wir können den Alterungsprozess unseres Gehirns beeinflussen.
Martin Korte, geboren 1964, ist Professor für Neurobiologie an der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die zellulären Grundlagen von Lernen und Erinnern ebenso wie die Vorgänge des Vergessens. Martin Korte ist einer der meistzitierten deutschen Neurobiologen, ein gefragter Experte in den Medien und bereits durch eine Reihe von Fernsehauftritten bekannt. Neben seiner Tätigkeit als Wissenschaftler hält er regelmäßig öffentliche Vorträge vor Schuldirektoren, Lehrern, Eltern, Schülern und Politikern. Bei DVA erschien zuletzt von ihm »Frisch im Kopf. Wie wir uns aus der digitalen Reizüberflutung befreien« (2023).
Einleitung
»Alt werden ist immer noch die einzige Möglichkeit, lange zu leben.«
Hugo von Hofmannsthal
Eigentlich altern wir konstant, vom ersten Tag der Geburt an. Denn Altern heißt sich zu entwickeln. Wir werden größer, kräftiger, schlauer. Und so ist auch unser Gehirn nach der Geburt massiven Umbauprozessen unterworfen: Es lehrt uns laufen, sprechen, denken. In der Pubertät findet abermals ein Neuordnungsprozess im Gehirn statt, um planerisch klug handeln zu können, seine Impulsivität in den Griff zu bekommen und später all das Erlernte umsichtig anzuwenden, so dass wir imstande sind, die Herausforderungen des Lebens – privat und beruflich – zu meistern. Die enorme Fähigkeit des Gehirns, sich ein Leben lang zu verändern, finden wir nicht weiter bemerkenswert, aber nur, solange dies ohne merkliche Beeinträchtigungen vor sich geht, also bis etwa zum 50. Lebensjahr. Manch einer jammert zwar schon ab dem vierten runden Geburtstag, aber das darf man getrost für Koketterie halten. Spätestens ab dem 50. Geburtstag jedoch beklagen die meisten von uns graues oder schütteres Haar, Alterssichtigkeit, lockere Zähne, Falten, ein Bäuchlein, schlaffes Bindegewebe, schmerzende Gelenke und vor allem ein nachlassendes Gedächtnis. Eine milliardenschwere Anti-Altern-Industrie ist bemüht, die Zeichen der Zeit zu minimieren. Manchmal klappt das ganz gut, oft aber auch nicht. Das Klagen über das Älterwerden gehört zu den irrationalsten Auswüchsen unserer Jugendwahn-Gesellschaft. Sollten wir nicht froh sein, älter zu werden, nachdem wir die stürmischen Jugendjahre, den Berufseinstieg oder die Familiengründung hinter uns gelassen haben?
Noch nie in der Menschheitsgeschichte sind die Menschen so alt geworden wie heute. Nur sind wir uns dieses Glücks selten bewusst. Die Angst vor Erkrankungen steigt mit jedem Lebensjahr. Herzinfarkt, Krebs, Demenz. Insbesondere gegen Letzteres, dagegen dass unser Gehirn im Laufe des Lebens an Leistungskraft einbüßt, glauben wir wenig bis gar nichts tun zu können. Und da wir anders als an unserem Äußeren unter der Schädeldecke weder Falten noch graue Haare noch andere Alterserscheinungen sehen können, wollen wir in der Blüte und gefühlten Mitte des Lebens auch nichts vom alternden Gehirn wissen. Wer informiert sich schon über Fußpilz, wenn er glaubt, keinen zu haben?
Also verschieben wir es auf später, uns mit dem Altern des Gehirns zu beschäftigen. Bis wir 80 oder 90 sind? Vielleicht gar in der Hoffnung, dass die Vergesslichkeit uns den Schrecken vor dem Verlust unserer Geisteskraft nimmt? Und genau das ist der große Irrtum, dem wir Menschen in der westlichen Zivilisation so oft erliegen. Das Altern hat hier definitiv ein Imageproblem. Dabei gibt es aus wissenschaftlicher Sicht viel Positives und Neues über das Altern im 21. Jahrhundert zu berichten. Insbesondere folgende Nachrichten habe ich für Sie:
1. Das Gehirn gehört zu den Organen, welche im »abgeschalteten Zustand« schneller altern, also dann, wenn wir fernsehen, dösen, reine Routinen bewältigen und uns, egal in welcher Situation, passiv verhalten. Umso mehr sollten wir das Gehirn und alles, was es kann und uns ein Leben lang ermöglicht hat, schützen und seine Fitness erhalten. Leider kann uns dabei weder ein Schönheitschirurg noch ein Apotheker helfen, aber – und das ist die gute Nachricht – wir können selbst einiges dafür tun. Genau dabei will ich Ihnen helfen. Es ist nämlich gar nicht so schwer und verglichen mit einer Fettabsaugung oder einer kompletten Zahnsanierung auch nicht teuer.
2. Das Gehirn kann Unglaubliches leisten, und das sehr lange – viel länger als die meisten Gelenke in unserem Körper, die früher Verschleißerscheinungen zeigen als unser Gehirn. Man muss nur wissen und verstehen, was die 100 Milliarden Neuronen und die vielen Hilfszellen des alternden Gehirns brauchen, um weiterhin gut zu funktionieren, und was Sie selbst dazu beitragen können, und zwar unabhängig davon, ob Sie 50, 60 oder 75 Jahre alt sind. Wenn Sie die Gründe dafür kennen, warum Sie immer häufiger im Gedächtnis nach dem Namen Ihres Gegenübers kramen, schwindet die Angst davor. Und Sie werden sehen, wenn Ihr Gehirn weiterhin flexibel, intelligent und fit die Anforderungen des Alltags bewältigt, macht Sie das weitaus glücklicher als ein straffer Bauch. Vergeuden Sie keinen Tag, und freuen Sie sich mit jedem Lebensjahr mehr über dieses weise und durch viel Lebenserfahrung gestählte Universum in Ihrem Kopf.
3. Sich geistig fit zu halten ist deshalb noch kein sprudelnder Jungbrunnen für den ganzen Menschen, doch profitieren zwei zentrale Organe unseres Körpers davon: Denn was dem Gehirn nützt, kommt auch dem Herzen zugute und umgekehrt. Das Herz versorgt alle anderen Organe des Körpers mit Blut, vor allem aber das Gehirn, das trotz seines marginalen Gewichts 20 % des Blutsauerstoffs verbraucht.
An dieser Stelle seien zunächst einige positive Beispiele für ein gelungenes, ja außergewöhnliches Altern genannt, denn kein rationales Argument beeindruckt uns so sehr wie ein gutes Vorbild. Kennen Sie Isa Ardey? Sie ist eine bemerkenswerte Frau. Im dritten Anlauf erreichte sie 2011 im Alter von 98 Jahren ihr Ziel: einen Doktortitel in Germanistik. Oder denken Sie nur an Charles Eugster! 2011 wurde er 91 Jahre alt und hat seit zehn Jahren in jeder Altersklasse-Weltmeisterschaft der Ruderer eine Goldmedaille gewonnen. Er hält außerdem weitere Weltmeister-Titel in verschiedenen Disziplinen. Zudem ist der Senioren-Sportstar Gastredner bei großen internationalen Fitness-Tagungen. Er selbst ist überzeugt, ein Vorbote einer Zeit zu sein, in der Leistungssport auch jenseits des 70. Lebensjahres ganz normal sein könnte. Und auch der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, 1918 geboren, begeistert trotz seines hohen Alters noch mit seinen Büchern, Einsichten und Erkenntnissen. Obwohl seit einiger Zeit an den Rollstuhl gebunden, hindert ihn dies nicht daran, rhetorisch gestochen scharf die aktuelle politische Lage zu analysieren und mit viel jüngeren Gesprächspartnern hart ins Gericht zu gehen.
Stecken wir in einem zu starren Korsett der Lebensabschnitte, wenn wir Menschen als alt bezeichnen? Was heißt überhaupt »alt«? Meinen wir damit eine biographische, biologische, gar medizinische oder emotionale Kategorie? Wenn wir stereotyp aufzählen, was ältere Menschen weniger gut können als junge, vergessen wir die lange Liste der Dinge, die sie immer noch gut oder sogar besser können. Wer hat schon so viel Wissen angesammelt oder kann so gut und präzise Geschichten erzählen, hat einen so großen Wortschatz oder eine hohe emotionale Intelligenz wie ältere Menschen? Die obigen drei Lebensbeispiele sollten dies deutlich machen. Zu viele Mythen ranken sich um das Älterwerden, wobei viele der vermeintlichen Fakten längst von der Wissenschaft widerlegt wurden.
Ein Ziel des Buches ist es, die vielen Gesichter des kognitiven Alterns sichtbar werden zu lassen, denn nur so können wir die Chancen, die das Altern bietet, individuell und gesellschaftlich nutzen. Und wenn Sie sich »alt fühlen«, hinterfragen Sie doch einmal, woher dieses Gefühl kommt, sich nicht seinem Lebensabschnitt gemäß zu fühlen, denn genau das heißt: sich »alt fühlen«.
Alterungsprozesse des Gehirns gestalten
Altern ist nicht gleich Altern, und entsprechend ist das Alter im Personalausweis nicht gleich dem kognitiven Alter: Wir altern höchst unterschiedlich. Das betrifft nicht nur ältere Menschen untereinander, sondern auch die eigenen kognitiven Fähigkeiten, von denen es einige gibt, die in keiner Weise vom Alter beeinträchtigt sind, ja sogar besser werden, und andere, deren Leistungen deutlich abfallen. Ein Grund dafür, warum Menschen kognitiv so unterschiedlich altern, ist der, dass wir einen gewichtigen Teil dieses Alterns selbst bestimmen. Und nicht nur wir als Individuen können unseren eigenen Alterungsprozess beeinflussen, auch die Gesellschaft, die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt und die Politik müssen sich den Herausforderungen des Älterwerdens der Menschen stellen. Natürlich sind hier Mediziner und die Gesundheitspolitiker im Besonderen gefragt: Sollte das Gehirn nicht auch von Vorsorgeuntersuchungen profitieren? Es ist eine eigentümliche Entwicklung, dass wir der Prostata des Mannes und der Brust der Frau mehr Altersvorsorge angedeihen lassen als unserem Gehirn. Was nicht heißen soll, dass die Vorsorge bei anderen Organen nicht sinnvoll ist!
Auch wenn das Gehirn nicht direkt schmerzt und keine sichtbaren Alterserscheinungen zeigt, wir sollten es stärker beachten. Warum nicht mit einer Art Präventionsprogramm für kluges Altern? Das könnte für Krankenkassen höchst interessant sein, denn immerhin machen im Gesundheitswesen die Kosten der über 65-Jährigen schon jetzt mehr als 60 % aus und werden zukünftig, wenn sich die Altersstrukturen weiter verschieben, noch steigen. Genauso lohnt es sich, angesichts der demographischen Entwicklung über neue Lebensarbeitszeitmodelle, Altersgrenzenregelungen und flexiblere Arbeitszeitstrukturen nachzudenken, die es einem erlauben, auch jenseits der 65 noch zu arbeiten. Denn auf die Expertise älterer Menschen zu verzichten kann sich eine Gesellschaft eigentlich nicht leisten.
Fakten, Mythen und Erwartungen
Gerade vor dem Hintergrund negativer Altersmythen sei eine erste kontraintuitive Schlussfolgerung über das Altern vorgestellt: Das Alter ist, historisch gesehen, jung, sehr jung sogar – und seine Bedeutung liegt eher in der Zukunft als in der Vergangenheit. Es ist genau genommen eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, dass die Menschen alt werden, während viele unserer Vorstellungen (und Mythen) des Alterns noch aus vorherigen Jahrhunderten stammen. Zwar gab es schon immer einzelne Menschen, die...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2012 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Neurologie | |
Technik | |
Schlagworte | 50plus • Altern • Älterwerden • Demenz • Denken • eBooks • Forschung • Gedächtnis • Gedächtnisprozesse • Gedächtnistraining • Gehirn • Gesundheit • Hirnforschung • Hirngeflüster • Mythos • Psychologie • Vergessen |
ISBN-10 | 3-641-08227-7 / 3641082277 |
ISBN-13 | 978-3-641-08227-7 / 9783641082277 |
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