Der kontrollierte Größenwahn (eBook)
256 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-3222-2 (ISBN)
Umschlag
Impressum
Titel
Magazin
Pflichtlektüre
Appendix
Umschlag
Hilde Léon
MIT VOLLDAMPF INNEHALTEN
Er sei der beste lebende Architekt, soll Frank Lloyd Wright vor Gericht auf die Frage geantwortet haben, welchen Beruf er ausübe. Auf Nachfrage ergänzte er, dass ihm eben nichts anderes übrig bliebe, als gerade einem Richter die Wahrheit zu sagen. Diese Anekdote passt wunderbar in das Klischee über den Architekten: Selbstverwirklichung, Selbstverliebtheit, Hybris, wenn nicht sogar Größenwahn. Überhaupt wird der Begriff Größenwahn mit der Architektur dann direkt in Verbindung gebracht, um alles Maßlose, Anmaßende, Unangemessene zu beschreiben. Kontrolle ist in seiner Bedeutung auch nicht besser: Zwanghaft, misstrauisch, prüfend sind per se keine positiv konnotierten Eigenschaften. Ganz im Gegenteil kann Kontrolle pathologische Züge annehmen und damit selbst eine Form von Größenwahn werden.
Größenwahn und Kontrolle, auf ihre Art negative und zumindest ambivalente Begriffe, verschmelzen hier zu einem neuen, zunächst vielleicht befremdlich anmutenden Konglomerat. Das Rationale steht hier nicht kontraproduktiv dem Unvernünftigen gegenüber. Stattdessen erwächst aus der Gleichzeitigkeit von Kontrolle und Größenwahn der Mut, frei und anders zu denken als bisher, weil die Reflexion als Hinterfragung des eigenen Handelns mit einbezogen ist. »Kontrollierter Größenwahn« deutet den Prozess des architektonischen Entwurfs als eine radikale Denkweise, dessen vorpreschende, hochfahrende Ideen durch die Reflexion eines kontrollierten Geistes und das Korsett des Bestehenden zum eigenwilligen, sensiblen Handeln aufrufen. Die Kontrolle ist so eigentlich ein Instrument von Selbstdisziplin und Reflexion, von Selbstbeschränkung und Rücksichtnahme.
Im kreativen Prozess sind Kenntnis und Einschätzung des Vorhandenen genauso wichtig wie der Anspruch, alles neu erfinden zu können. Bewahren und Erneuern bedingen sich gegenseitig, um nicht im Stillstand zu verharren oder im Chaos zu versinken. »Wer Visionen habe, solle den Psychiater aufsuchen anstatt Architektur zu machen« — damit, in Anlehnung an einen bekannten Spruch von Helmut Schmidt, brachte Oswald Mathias Ungers seinen Unwillen gegenüber überbordender Individualität zum Ausdruck. Die architektonischen Konzepte basieren auf eigenen Thesen, die sich aus der Ratio ableiten ließen, so könnte man Ungers Ansatz interpretieren. Auch die Texte von Aldo Rossi zeugen von einer Suche nach rationaler Vernunft und historischer Kontinuität. Immerhin hat er die autobiografische Sicht im eigenen Werk betont, die Ungers zwar theoretisch abstritt, aber letztendlich in seinen Konzepten umsetzte. Nur deswegen ist seine Architektur auch authentisch. Die Regeln, die zu einer rationalen Begründung dem eigenen Schaffen voranschreiten, dienen dazu, die Fantasieproduktion anzuregen und gleichzeitig zu bändigen, oder manchmal auch dazu, das eigene Schaffen einzuordnen. Die Balance von Rationalität und individuellem Ausbruch durchzieht die Geschichte der Architektur und vielleicht sogar die aller Künste.
Gerne wird zitiert, dass sich der Mensch von allen Künsten abwenden und dem Betrachten entziehen kann, nur eben von der gebauten Umwelt nicht. Gerade weil eine so große Verantwortung auf dem Schaffen von Architektur ruht, werden hier beide Aspekte, die radikale Kreativität und die prüfende Verantwortung, hervorgehoben. Letztere meint Zügelung, Bremsung, Beschränkung und Lenkung durch Selbstreflexion. Nicht umsonst verweist die Ermahnung »Zügele dich!« auf Reiter und Pferd als eine Einheit von wildem Davon-Stürmen und lenkender Beherrschung, vereint in einem gereiften Charakter. Auch in Albrecht Dürers Stich Melencolia I wird das Wechselspiel von Aktion und Kontemplation, dem Innehalten und Hinterfragen des lustvollen Handelns, als der Grundwesenszug des kreativen Menschen definiert. Architektur ist im Gegensatz zur freien Kunst ein Prozess, der auf Bedürfnissen, Bedingungen und Möglichkeiten basiert. Architektur steht immer im Kontext zu etwas Bestehendem, auch wenn gar nichts da zu sein scheint. Am spannendsten wird es, wenn die Bedingungen eng geknüpft sind und der Rahmen kaum noch Raum lässt. Dann muss man die Ausgangsposition präzise ausloten, um den Ansatzpunkt zu finden, gleichzeitig eine eigene Sprengkraft zu entwickeln und so den Rahmen zu entgrenzen.
Der Sturz in den Malstrom von Edgar Allan Poe zeigt, dass am absoluten Ende, in der aussichtslosen, lebensbedrohenden Situation, die ruhige, nüchterne Beobachtung im Getöse, die Konzentration auf das Eigentliche, zu einem radikalen Gedanken führt, in diesem Falle zur Lebensrettung. Die Rezeption deutet diesen Text als Symbol für das moderne, entgrenzte Leben, in dem man sich auf nichts Bekanntes mehr verlassen kann und in dem alle bisher bekannten Regeln nicht mehr gelten. Genau darin liegt der neue Ansatz. Der Text liest sich als Appell, sich nicht auf die bewährten Sichtweisen zu verlassen und dem bekannten Trott zu folgen, sondern immer wieder den Versuch zu starten, neu zu sehen und zu lesen. Leider ist es gar nicht so einfach, das andere, das Gegenteil zu denken. Es ist immer ein Ausbalancieren zwischen der Hinwendung zum Vorhandenen und dem Verwerfen des Bekannten.
Auf wie viel Bekanntes muss sich das Neue stützen? Das ist eine Frage, die man sich in jedem kreativen Schaffen bewusst stellt oder unbewusst mit einbezieht. Alles Neue trägt auch ein zerstörerisches Moment in sich, eine Überformung dessen, was vorher gedacht und getan wurde. »Bauen heißt zerstören«, meinte Tadao Ando in einem Interview und leitete daraus für sein eigenes Schaffen den allerhöchsten Anspruch ab, nämlich besser als das Gewesene zu sein. Keiner agiert im gesellschaftsfreien Raum, und wir wissen auch nicht, wie sich die Rezeption eines Werkes im Verlauf der Geschichte verändert und sich von der Absicht des Autors entfernt. Insofern gehen die Kreativen ein hohes Maß an Risiko und Verantwortung ein. Dabei lastet die Welt auf einem, und vor lauter Last mag man erst gar nicht mehr zu denken und zu entwerfen anfangen. Da erscheint das Risiko geringer, sich auf das Anerkannte, nicht Aneckende zu berufen. Denn: Allein schon das Suchen nach eigenem Ausdruck sei anrüchig und stehe zerstörerisch dem Bekannten gegenüber, so eine der prägenden Debatten in der heutigen Architekturdiskussion. Die Klage über zu wenig Innovation und zu viel Repetition steht dem Vorwurf des zerstörenden und verschlechternden Neuen gegenüber. Dabei ist die enge Beziehung zwischen Bekanntem und Neuem altbekannt: »Nulla — in nessun genere — non viene dal nulla«, schreibt Quatremère de Quincy in seinem Lexikon der Architektur (italienische Ausgabe 1835), was man salopp mit »von nichts kommt nichts« übersetzen könnte. Es zeigt auf, wie das Neue stets aus dem Bekannten herausgeschöpft wird.
Dieser kreative Wandlungsprozess des Vorhandenen zum Neuen wird auch in der Spanne zwischen Finden und Erfinden, der Frankfurter Poetikvorlesung von Peter Härtling, deutlich. Man kann es als eine Grundempfehlung betrachten, Vorhandenes umzudeuten und in der Analogie Möglichkeitsräume aufzuspannen, weil es eben keine konkrete Handlungsanweisung darstellt. Die Assoziation schärft in ihrer Bildhaftigkeit den Blick und eröffnet den eigenen Aktionsraum. Hier wird deutlich, wie das Neue nicht nur dem Bekannten entwächst, sondern das Bekannte geradezu als Sprungbrett für neue Gedanken dient.
Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist in diesem Zusammenhang als Leselektüre zu empfehlen, erscheint befremdlich. Doch die Betrachtung der ambivalenten Wechselbeziehung von Bewusstem mit Unbewusstem führt zur Beschreibung des schmerzhaften Weges, von den Mühen des kreativen Prozesses wieder auf eine anmutige Leichtigkeit zurückzukommen. »Werdet wie die Kinder!« ist eine Bibelweisheit, an der man sich regelrecht abarbeiten kann. Hierfür bedarf es radikalen Mutes sowie der Besessenheit und Leidenschaft, die ausgetretenen Pfade der Erwachsenen zu verlassen.
Sicher sind diese drei Texte vielen bekannt, doch aus unserer Sicht lohnt es sich, sie in diesem neuen Zusammenhang zu versammeln. Die Textauswahl betrachten wir als eine andere Art von »Pflichtlektüre« jenseits des bekannten Kanons der Fachliteratur. Den Architekten wird von den Geisteswissenschaftlern immer wieder vorgeworfen, dass sie sich an der Geistesgeschichte, an deren Begriffen und den dort entwickelten Denkzusammenhängen munter bedienen, ohne ihnen wirklich auf die Spur kommen zu wollen. Das mag sogar stimmen, aber auch die Geisteswissenschaftler müssen die Rezeption der Werke frei lassen, um — unabhängig davon, wie vordergründig es erscheinen mag — in der Transferleistung wieder Neues entstehen zu lassen.
Die folgenden Beiträge sind für uns im besten Sinne eine interdisziplinäre Kooperation, die aus verschiedenen Blickwinkeln zu einem Thema Betrachtungen vornimmt. Dabei wird Interdisziplinarität nicht in der Hoffnung auf einen gemeinsamen Nenner eingefordert, der bekanntermaßen immer kleiner wird, je mehr Beteiligte hinzukommen. In den 1970er-Jahren war es weit verbreitet, dass die Gruppe als gemeinsamer Denkapparat zur besten Lösung führt. Das ist inzwischen nicht mehr überzeugend. Heute meinen wir, dass das Vielfache und gleichzeitig Parallele die Sicht auf die Dinge öffnet, indem es ausgearbeitete Ansätze vergleichbar macht. Deswegen vertrauen wir erst einmal auf die eigenen Ideen, die sich dann im Zusammenspiel der unterschiedlichen Kräfte beweisen müssen.
Klaus Behnke stellt mit seiner psychoanalytischen...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2011 |
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Reihe/Serie | E-Books | E-Books |
Co-Autor | Peter Piller, Klaus Behnke, Stephan Berg, Hilde Léon, Friedrich Meschede, Martin Weller |
Mitarbeit |
Designer: Reichwald Schultz |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Technik ► Architektur |
Schlagworte | Architektur • Architekturtheorie • Literatur • Philosophie |
ISBN-10 | 3-7757-3222-5 / 3775732225 |
ISBN-13 | 978-3-7757-3222-2 / 9783775732222 |
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Größe: 17,4 MB
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