Leben im Schwäbisch-Fränkischen Wald: Auf den Spuren von Familie Semet oder Sammet (eBook)
218 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-7212-0 (ISBN)
Wolfgang Semet wurde 1954 in Ulm geboren und war 40 Jahre als Ingenieur in der Motorenentwicklung tätig. Das Interesse an Geschichte und speziell an seiner Familiengeschichte war die Motivation für umfangreiche Recherchen nach dem Ende seiner Berufstätigkeit. Die interessantesten Ergebnisse seiner Nachforschungen sind in diesem Buch zusammengefasst, das die Familiengeschichte der Semets vor dem Hintergrund der Geschichte von Schwaben, Deutschland und Europa zeigt.
2 Der Viehtriebsstreit von Murrhardt
Die Verhandlung
Man schreibt das Jahr 1503. Das Kloster und die angebaute Stadt Murrhardt liegen in der Morgensonne im Tal des kleinen Flusses Murr zwischen den bergigen Ausläufern des westlichen Welzheimer Waldes. Im Kloster findet eine Verhandlung des Schiedsgerichts zu einem seit längerer Zeit schwelenden Streit zwischen der Stadt Murrhardt und den Bauern aus den umliegenden Weilern statt.
Der Abt des Klosters, Lorenz Gaul, sitzt in seinem Arbeitszimmer an dem langen dunklen Tisch, vor ihm liegt die Bibel mit den bronzenen Beschlägen an den Buchdeckeln. Links neben ihm sitzen der Vogt von Backnang, Konrad Steiger, und der Forstmeister von Reichenberg, Wilhelm Belz. Rechts von ihm haben der Schultheiß Hans von Weissach und der Backnanger Bürger und Richter Jos Ulin auf den Stühlen mit den unbequemen hohen Lehnen Platz genommen.
Diese Streitigkeiten um den Viehtrieb sind mehr als ärgerlich. Er hatte dem Herzog Ulrich von Württemberg doch bereits geschrieben, dass sich die streitenden Parteien - weder der Rat der Stadt Murrhardt noch die Bauern aus den umliegenden Weilern - bisher an seine Schiedssprüche gehalten hätten. Sollte doch der Herzog für Ordnung sorgen, schließlich war er der Schutzvogt des Klosters, der Stadt und aller Hintersassen. In seinem Antwortschreiben hatte der Herzog leider nicht die Angelegenheit an eines seiner anderen Gerichte übergeben, sondern ihn angewiesen, ein erneutes Verhör zur Ermittlung des Sachverhalts durchzuführen und dann ein für beide Seiten verbindliches Urteil zu sprechen. Da er ihm allerdings nach den schlechten Erfahrungen aus der Vergangenheit offensichtlich keine erfolgreiche Verhandlungsführung mehr zutraute, wurden die vier Männer rechts und links von ihm mit der Führung des Verfahrens beauftragt. Alle vier honorige Männer, herausragende Vertreter der württembergischen Gesellschaft im Murrtal und ausgewiesene Verwaltungsfachleute. Er kommt sich sehr klein vor in dieser Gruppe.
Das einzige Geräusch im Zimmer ist das Kratzen der Feder auf dem Papier, Peter Ziegler schreibt an einem Schreibpult neben dem Sitzungstisch die einleitenden Sätze ins Protokoll. Der Abt hat seinen alten Freund Peter gebeten, das Sitzungsprotokoll zu schreiben. Peter Ziegler ist der Stadtschreiber der Stadt Murrhardt und daran gewöhnt, während der teilweise hitzigen Diskurse im Rat die Ruhe zu bewahren und alle wichtige Einzelheiten des Vorgetragen festzuhalten. Dem Herrgott sei Dank, dass er das Protokollschreiben auch für die Verhandlung übernommen hat. Keinem seiner Mitbrüder im Konvent des Klosters traut er diese Aufgabe zu, die meisten können zwar ihren Namen schreiben, für schwierigere Aufgaben fehlt aber allen das Können und die Übung. Nicht einmal sein Stellvertreter, Prior Philipp Renner, kommt dafür in Frage, er ist zu alt und auch nicht mehr willig, mehr als das unbedingt Notwendigste zu tun.
Durch das offene Fenster zum Klosterhof hört er die lauten Stimmen und das Gelächter der herzoglichen Jagdgesellschaft, die zurzeit im Kloster logiert. Seit sein Augenlicht immer mehr nachlässt muss er sich mehr auf sein Gehör verlassen. Diese Jagdgesellschaften sind noch der Ruin des Klosters! Er weiß natürlich, dass im herzoglichen Schutzbrief für das Kloster als Gegenleistung für diesen Schutz die Pflicht des Klosters genannt ist, für adelige Jagdgesellschaften Unterkunft und Verköstigung zu stellen. Das war zu früheren Zeiten auch ohne Schwierigkeiten möglich, als die Jagd in den ausgedehnten Wäldern um Murrhardt noch seltener ausgeübt wurde und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klosters größer war. Jetzt aber sind die Schulden so in die Höhe gestiegen, dass er sie bis zu seinem Lebensende nicht würde abtragen können. Sicher waren die Schulden nicht allein von den Jagdgesellschaften verursacht, auch die aufwändigen Baumaßnahmen seines Vorgängers, Abt Schradin, und auch seine eigenen kostspieligen Reisen, beispielweise zum Rat nach Hall, haben ihren Teil dazu beigetragen. Während bei Schradin immer nur ein Bruder mitreiste, sind es bei ihm immer sechs oder sieben, die beim Essen und Trinken nicht auf die Kosten sehen. Er ist einfach zu alt und zu schwach, dieser Verschwendung des Klostervermögens noch Einhalt zu gebieten.
Der alte Abt konzentriert seine Gedanken jetzt wieder energisch auf die vor ihm liegende Verhandlung, an die desolaten Lage der Klosterfinanzen kann und will er jetzt nicht denken. Für eine spürbare Verbesserung braucht er unbedingt die Hilfe des Bischofs in Würzburg, er selber hat nicht mehr die Kraft dazu.
Auf der anderen Seite des halbdunklen Zimmers steht der Anwalt der Stadt Murrhardt, dahinter die Gruppe seiner Zeugen aus der Stadt. Murrhardt wird durch den Bürgermeister Konrad Möch vertreten, der Abt kennt ihn aus vielen dienstlichen Treffen, die nicht immer angenehm verlaufen sind. Kloster und Stadt liegen zwar unmittelbar nebeneinander, die Stadt gehört aber zu Württemberg und untersteht dem Herzog, während das Kloster unter der Herrschaft des Bischofs von Würzburg steht. Daraus ergeben sich zwangsläufig immer wieder Konflikte um die Abgaben der Bürger und Bauern an Kloster und Stadt, um die Waldnutzung, um Wegerechte und viele andere Streitpunkte.
Der weißhaarige Bauer am Rand der Gruppe um Möch ist der Hans Semet aus Siegelsberg. Siegelsberg liegt nicht wie die meisten anderen Weiler auf der Hochfläche, sondern im Dentenbachtal, das bei Murrhardt ins Tal der Murr mündet. Der Abt kennt ihn gut, nach Siegelsberg ist es nicht einmal eine halbe Stunde Wegstrecke und die Siegelsberger sind oft in der Stadt. Er sieht weitere bekannte Gesichter wie den Aberlin Rossen vom Hoffeld, Anna Wechsser mit ihrem Sohn Conntz, den Heyntzen Clauß und Walter Rümann, beide von Hausen, und einige andere aus den Weilern in der näheren Umgebung von Murrhardt.
Neben den Männern aus Murrhardt steht, mit etwas größerem Abstand zum großen Tisch, der Anwalt, der die Interessen der Weilerschaft vertritt. Die Weilerschaft, das sind die zahlreichen Weiler, oft nur aus wenigen Bauernhöfen bestehend, die auf den Höhen rund um Murrhardt liegen, nur ganz wenige liegen im Tal. Sie werden als „Gemeinden“ verstanden, haben eine gewisse Eigenverwaltung und stehen damit immer in einer potentiellen Opposition zur Stadt. Die Bauern der Gemeinden haben eigenen Besitz, eigene Felder, Wiesen und Wälder, dazu kommt noch die Allmende, das ist der gemeindeeigene Besitz, der von allen Gemeindemitgliedern genutzt werden kann.
Die Einwohner der Weiler konnten keinen juristisch versierten und wortgewandten Vertreter in ihren Reihen finden und haben deshalb den ehemaligen Vogt der Stadt Gaildorf, Michel Renhard, als ihren Anwalt engagiert. Eine sehr gute Wahl, denn Renhard kennt nicht nur die Sachverhalte aus seiner Zeit als Vogt, er ist als limpurgischer Untertan auch unabhängig von der württembergischen Obrigkeit. Obwohl es von Murrhardt nach Gaildorf nur fünf Wegstunden sind, liegt Gaildorf doch bereits im Limpurger Land, das heißt im Ausland.
Auch Renhard hat seine Zeugen mitgebracht, überwiegend sind es ältere Bauern mit ernsten, wettergegerbten Gesichtern, die hinter ihm eine größere Gruppe bilden. Der Abt kennt die meisten von ihnen. In der Mitte steht der streitbare Klenk, der den besten Hof in Klingen bewirtschaftet, zusammen mit seinen Söhnen und Knechten hat er schon einige Kämpfe mit Fäusten und Knüppeln gegen die Hirten der Stadt Murrhardt ausgetragen. Bisher blieb es dabei bei kleineren Verletzungen, auch die weggenommenen Tiere wurden alle wieder an Murrhardt zurückgegeben und keiner der Beteiligten erhob Klage bei Gericht. Auch der alte Hanns Semett, Ausdingbauer von Ebersberg, steht bei dieser Gruppe, der Abt erkennt ihn an seiner kräftigen Statur und dem dichten weisen Haar. Er schätzt ihn als ruhigen und trotz seines hohen Alters klar denkenden Mann.
Das Kratzen der Feder hat aufgehört, allen Augen sind auf ihn gerichtet. Der Abt richtet sich mühsam in seinem Stuhl auf und wendet sich an Bürgermeister Möch: „Deo iuvante, mit Gottes Hilfe wollen wir beginnen, tragen Sie ihre Sache vor.“
Wirtschaftliche Hintergründe
Zum heutigen Verständnis der jetzt folgenden Verhandlung, die zum Teil im Wortlaut protokolliert ist, sind einige Erläuterungen zu den Hintergründen erforderlich.
Im späten Mittelalter essen die Menschen neben den wichtigen Getreideprodukten auch Fleisch, und zwar vor allem Schweinefleisch. Die Schweineherden – teilweise sind auch Kühe dabei – werden im Wald von Hirten gehütet und ernähren sich dort hauptsächlich von Eicheln und Bucheckern. Eine ganzjährige Stallhaltung der Schweine ist noch nicht möglich, da die dafür erforderlichen Futtermengen auf den mageren Böden nicht erzeugt werden können. Das ändert sich erst mit dem Anbau der Kartoffel im späten 18. Jahrhundert, die auch eine grundlegende Verbesserung der Ernährung der Menschen bedeutet.
Bis dahin werden die Schweine üblicherweise vom Frühjahr bis in den Spätherbst auf der Waldweide gehalten und dann geschlachtet. Nur die für die Weiterzucht...
Erscheint lt. Verlag | 9.12.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-7693-7212-3 / 3769372123 |
ISBN-13 | 978-3-7693-7212-0 / 9783769372120 |
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