Soziale Schicht, Bildung und Schicksal (eBook)

Geschichte einer Bergmannsfamilie in Ottfingen, Südwestfalen, um 1900
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2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-8100-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Soziale Schicht, Bildung und Schicksal -  Joachim Bröcher,  Lissa Eichert-Klute
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Dieses Buch rekonstruiert die Geschichte der Familie der Chreschten, im Dorf Ottfingen, Südwestfalen. Im Zentrum steht dabei der 1874 geborene Bergmann Josef Eichert, dessen Leben durch seine Tätigkeit im Bergbau früh endete. Sodann werden das Leben seiner Frau Maria und, stellvertretend für die insgesamt elf Kinder der Familie, die Lebensgeschichten von Rosa und Johann genauer in den Blick genommen. Während die 1901 geborene Rosa den vorgezeichneten Weg einer Frau jener Zeit ging, verschaffte sie sich, eher untypisch für ihr Herkunftsmilieu, Zugänge zu anderen Welten, über das Lesen von Romanliteratur. Rosa formte im Laufe ihres Lebens eine Persönlichkeit aus, von der auch für unsere Gegenwart viel zu lernen ist. Der 1905 geborene Johann dagegen gelangte, als einer von ganz wenigen aus seiner sozialen Schicht, durch die Unterstützung des Volksschullehrers, auf ein renommiertes Gymnasium. Durch den frühen Tod des Vaters kam es zum Abbruch der Bildungslaufbahn, in Ermangelung finanzieller Mittel. Seine Erfüllung fand er in der Ausübung von zivilgesellschaftlichen Führungsrollen und Ämtern, unter anderem als ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Wenden. Als Anerkennung für seine Lebensleistung wurde Johann zum Ehrenbürger der südwestfälischen Gemeinde ernannt. Diese Lebensgeschichten werden erzählerisch aufgefächert, auch in ihrer Verwobenheit mit den zeitgeschichtlichen Ereignissen. Es ist alles miteinander verbunden, die soziale Schicht, aus der wir stammen, die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Realitäten, unsere Bildungs- und Aufstiegschancen, unsere Lebensmöglichkeiten und die Rolle des Schicksals, das zusätzlich in alles eingreift. Wie werden wir heute noch von den Lebensbedingungen unserer Vorfahren geprägt, was wurde an uns weitergegeben, ohne dass es uns bewusst ist? Im Bergwerk der Familiengeschichte macht sich das Buch an die Arbeit, Verbindungen zu knüpfen zwischen damaligen prekären und repressiven Umständen und deren seelischen Folgen nicht nur für eine Generation. Eine Psychosozialgeschichte an konkreten Lebensläufen (Dr. Roland E. Koch, Dozent für kreatives Schreiben, Universität Siegen, und Schriftsteller, Köln). Ich stehe mit Respekt vor dem, was die Menschen damals geleistet haben. Es ist beeindruckend zu sehen, wie die komplexen sozialen Zusammenhänge und Verflechtungen in diesem Buch runtergebrochen und lesbar gemacht werden (Dr. Inge Hofsommer, Literaturwissenschaftlerin, Köln).

Joachim Bröcher erforscht den urbanen Raum Berlins sowie die weitere Entwicklung eines transformativen Community-Projekts, das er in einer ländlichen Region Ostdeutschlands, d. h. in Anhalt, gegründet hat. Weiterhin beschäftigt er sich mit emotionalen und sozialen Geografien in der polnischen Literatur. Umfangreiche pädagogische und beratende Tätigkeiten an Schulen, Universitäten und in internationalen Projekten sowie zahlreiche Veröffentlichungen in deutscher und englischer Sprache, vgl. https://bröcher.de/

Innehalten, Zurückschauen und den sich stellenden Fragen auf den Grund gehen


Joachim Bröcher

Das Schicksal mischt die Karten, wir spielen.

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Innehalten und zurückschauen


Natürlich könnten wir mit unserem Leben auch einfach weitermachen, ohne zurückzuschauen, einfach immer weiter machen, alles, was hinter uns liegt, einfach vergessen, die Gegenwart gestalten, die sich uns stellenden Herausforderungen angehen und die Zukunft entwerfen, so gut wie wir es eben vermögen und soweit es in unseren eigenen Händen liegt.

Doch wenn wir innehalten und dann doch die Rückschau wagen, und das auch in Ruhe, mit genügend Zeit und in gründlicher Betrachtung tun, können wir zu vielschichtigen Überlegungen und Erkenntnissen gelangen. Auf der Basis lassen sich dann weitere Fragen entwickeln und vorläufige Antworten finden, wenigstens ansatzweise.

Die wahre historische, geistige und seelische Komplexität und Tiefe der hinter uns liegenden Gesellschaftsformen und Lebensrealitäten der Menschen, die darin lebten, können wir natürlich nicht mehr im vollen Maße erfassen. Doch es bleiben uns Wege, die Vergangenheit, die hinter uns selbst und im Leben unserer Vorfahren und noch weiter zurückliegt, in einer Art „hermeneutischen Zirkel“, wie Gadamer (1990) es nennt, quasi durch kreisförmige, spiralförmige Annäherung, schrittweise immer besser zu erfassen, stets in dem Bewusstsein, dass wir den thematischen Zusammenhang, um den es dabei geht, niemals in vollem Ausmaß werden begreifen können.

Wenn wir dies also tun, dann werden wir sicher mit Entdeckungen und Einblicken belohnt, die unser Bewusstsein der eigenen Existenz erweitern können und die uns vielleicht anders weitermachen lassen, in unserem heutigen und zukünftigen Leben, als wir es sonst getan hätten.

Generationen und Lebenswege


In diesem Sinne und mit dieser Absicht schauen wir nun zurück in das in Südwestfalen gelegene Dorf Ottfingen. Wir versetzen uns in die Jahre zwischen etwa 1750 und 1970, teils gehen wir auch noch wesentlich weiter zurück. Zunächst einmal betrachten wir die Lebensgeschichten und Lebensumstände des Bergmanns Josef Eichert und der Strumpfstrickerin Maria Weber und ihrer insgesamt elf Kinder.

Wir betrachten auch einen Teil ihrer familiären Vorgeschichte, soweit sich diese aus heutiger Sicht noch rekonstruieren lässt, das heißt das Leben der Generationen vor ihnen. Bei alldem sind auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von großer Bedeutung, sodass wir versuchen werden, diese zugleich in den Blick zu bekommen.

Schließlich skizzieren wir die Lebenswege besonders von zwei Kindern dieser Bergmannsfamilie aus Ottfingen, das heißt von Rosa und Johann. Rosa wurde 1901 geboren. Johann, eigentlich Johannes, aber alle nannten ihn „Johann“, so tun wir es hier auch, wurde 1905 geboren. Das Verb „skizzieren“ trifft es aber auch wiederum nicht ganz, denn wir leuchten auch aus, wir erkunden und versuchen zum einen in die Tiefe der historischen Ereignisse wie auch in die Tiefenregionen des Seelenlebens der Hauptfiguren zu gelangen.

In die soziale Unterschicht hineingeboren werden


Den Titel „Soziale Schicht, Bildung und Schicksal“ wählten wir, weil der Stoff, der sich hier entfaltet, dies nahelegte. Rosa und Johann wurden in der Zeit des Wilhelminischen Deutschlands geboren und wuchsen unter den Bedingungen der „Kaiserzeit“ auf. Die beiden Geschwister wurden in die Gesellschaftsschicht der Bergleute, Ackerer, Wald- und Feldarbeiter, Tagelöhner, Knechte und Mägde hineingeboren.

Somit gehörten sie zu der sozialen Schicht der abhängig beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter, die zusätzlich ein wenig Vieh, im Rahmen einer Nebenerwerbslandwirtschaft, hielten und zusätzlich ein Feld und einen Garten bestellten. Diese Ackerflächen wurden teils gegen Entgelt gepachtet, wenn sie nicht im Familienbesitz waren, um Möhren, Salat, Erbsen, Wirsing, Rotkohl oder Grünkohl für den eigenen Bedarf ernten zu können. Nur durch diesen zusätzlichen Ackerbau und diese parallele Viehzucht ließ sich die Versorgung mit Lebensmitteln, auch mit Fleisch, Wurst, Eiern und Milchprodukten, sicherstellen.

Beide, Rosa und Johann, hatten die, aus der sozialen Schicht, in die sie hineingeboren wurden, resultierenden Konsequenzen zu tragen, ihr ganzes Leben lang. Beide versuchten, allerdings auf ganz unterschiedliche Art und Weise, Bildung zu erwerben. Johann unternahm dies eher am Anfang seines Lebens, indem er institutionalisierte, das heißt schulische Wege formaler Bildung beschritt und Rosa, indem sie sich, etwa ab der Mitte des Lebens, auf informelle Art und Weise über das Lesen von Romanliteratur einen Bildungszugang verschaffte.

Johann machte einen Dorfschullehrer auf sich aufmerksam


Durch seine besondere Art hatte Johann offenbar einen Volksschullehrer auf sich aufmerksam gemacht. Ich stelle mir einen Jungen auf der Schulbank vor, der wissbegierig ist und der ein ausgeprägtes ethischmoralisches Bewusstsein und ein feines Gerechtigkeitsempfinden hat, wie immer wieder berichtet wurde.

Ein guter Pädagoge wird schnell erkennen, dass ein solches Kind nach Höherem strebt, das es nach anspruchsvolleren und intensiveren Studien in den Wissenschaften, nach der Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung, nach Führungsaufgaben drängt, ohne dies freilich bereits schon im vollen Maße zu wissen. Ein engagierter Lehrer weiß, dass ein solches Kind pädagogisch besonders unterstützt werden sollte.

Der Volksschullehrer setzt sich für Johann ein


So setzte sich Johanns Lehrer dafür ein, dass der Junge aus Ottfingen ein Gymnasium besuchen konnte, was für das soziale Milieu, aus dem der Junge kam, zu dieser Zeit eine absolute Ausnahme darstellte und was zudem mit vielerlei Hindernissen und Erschwernissen verbunden war.

Einem Mann, der durch und durch Pädagoge und Lehrer ist, können diese Dinge jedoch nicht gleichgültig sein. Oftmals kamen solche Lehrer selbst aus den unteren Sozialschichten und hatten somit eine hohe Identifikation mit Kindern und Jugendlichen aus eben dieser Gesellschaftsschicht, das heißt mit jungen Menschen, die es durch ihren sozialen Stand erst einmal schwer hatten und die es vielleicht schaffen könnten, sich durch schulische Bildung ins Zentrum der Gesellschaft hineinzubewegen, etwas aus sich zu machen und bedeutsame Positionen einzunehmen und so das gesellschaftliche Ganze positiv zu beeinflussen.

Der Ottfinger Volksschullehrer ging also zu Josef und Maria Eichert, setzte sich mit ihnen an den Küchentisch und sprach mit ihnen. Er zeigte ihnen auch Wege auf, wie das ganze Vorhaben praktisch umgesetzt werden konnte. Sodann verhandelte er mit den Schulbehörden und mit dem Rektor des Attendorner Rivius-Gymnasiums.

Bei alldem trat der Lehrer als Johanns Fürsprecher auf. Vor allem organisierte er zusätzlichen Lateinunterricht beim Wendener Pfarrer, damit Johann auf das Wissensniveau der renommierten Attendorner Lehranstalt gelangen und dort auch tatsächlich mithalten und bestehen konnte.

Auf den Gymnasien waren damals Schüler aus der Oberschicht


Nun war es im 19. Jahrhundert und auch noch weit nach 1900 so, dass sich auf den Gymnasien fast ausschließlich Schüler aus der gesellschaftlichen Oberschicht befanden, das heißt die Kinder der Adligen, der Industriellen und höheren Beamten.

Der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski (1868-1927) thematisiert in seinen Lebenserinnerungen genau diesen Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Bildung. Er beschreibt den Gegensatz zwischen Adel und Bauernschaft im preußisch besetzten Polen im 19. Jahrhundert.

Auch wenn die Lage in dieser Region ein wenig anders war als in der Provinz Westfalen, so lassen sich doch gewisse Dinge übertragen, um sich Johanns Situation besser vorstellen zu können.

Ein Volksschullehrer im preußisch besetzten Polen


Przybyszewski (1965), dessen Vater Lehrer war, schreibt: „Einmal kam Dybalski nicht wegen eines Berichts oder wegen einer Eingabe; er war heftig bewegt… `Ich möchte mir einen Rat holen, Herr Kollege… Ich habe in meiner Schule einen so erstaunlich begabten Schüler… und er zog ein paar Zeichnungen aus der Tasche… Aber das ist nicht alles… der Lümmel schreibt Gedichte´, er reichte Vater ein Blatt Papier, `und er hat ein Gedächtnis….“ (S. 35).

„Mein Vater sagte: `Ja! Das ist wirklich ein ungewöhnliches Talent! Hier muss etwas gefunden werden, hier muss man helfen. Schade um den Jungen, wenn er nicht vorwärts käme.´… Sie gingen zum alten Bauern Słabędzki, baten ihn um ein Fuhrwerk und fuhren noch am gleichen Abend zu Józef Kościelski“ (S. 36).

Die beiden Lehrer spannen ein Fuhrwerk an und fahren zum Schulrat


Wir haben eine durchaus vergleichbare Situation. Ein engagierter Lehrer, der einen begabten Schüler in der Klasse hat, einen Jungen, den er voranbringen will. Er sucht den Rat eines erfahrenen Kollegen. Gemeinsam fahren sie zum Schulrat und scheuen auch den Aufwand...

Erscheint lt. Verlag 26.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bildung • Biografie • Deutsches Kaiserreich • Schicksal • Soziale Schicht
ISBN-10 3-7693-8100-9 / 3769381009
ISBN-13 978-3-7693-8100-9 / 9783769381009
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