Klassismuskritik und Soziale Arbeit -

Klassismuskritik und Soziale Arbeit (eBook)

Analysen, Reflexionen und Denkanstöße
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
248 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8706-2 (ISBN)
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Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder der Klassenzugehörigkeit. Für die Soziale Arbeit ist Klassismus in mehrfacher Hinsicht von hoher Relevanz. Die Mehrheit der Adressat*innen Sozialer Arbeit ist von klassistischer Diskriminierung betroffen, zum Beispiel in den Lebenslagen Armut, Erwerbslosigkeit und Wohnungslosigkeit oder als Care-Leaver*innen in der Jugendhilfe. Als Menschenrechtsprofession ist die Soziale Arbeit gefordert, ihre Konzepte und Methoden so zu entwickeln, dass Diskriminierung und Ausschluss durch Klassismus entgegengewirkt wird. Der Sammelband setzt an dieser (Leer-)Stelle an. Die Bedeutung von Klassismus und von Klassismuskritik in der und für die Soziale Arbeit wird in ihren unterschiedlichen Dimensionen aufgezeigt und analysiert.

Prof. Dr. Francis Seeck hat die Professur für Theorien und Handlungslehre der Sozialen Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschenrechtsbildung an der Technischen Hochschule Nürnberg inne. Seeck forscht und lehrt zu Klassismus(kritik), politischer Bildung, Gender und Queer Studies und menschenrechtsorientierter Sozialer Arbeit. Seit 2010 arbeitet Seeck als Antidiskriminierungstrainer*in und politische*r Bildner*in. www.francisseeck.net Prof. Dr. Claudia Steckelberg hat die Professur Wissenschaft Soziale Arbeit an der Hochschule Neubrandenburg inne und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA). Steckelbergs Arbeitsschwerpunkte sind Wohnungslosigkeit, prekäre Lebenslagen, Gemeinwesenarbeit, Gender und Queer Studies sowie Antidiskriminierung. www.hs-nb.de/fachbereich-soziale-arbeit-bildung-und-erziehung/ppages/claudia-steckelberg/

„Was würdest du tun, wenn du morgen wohnungslos wärst?“ – Perspektiven von Menschen mit Klassismuserfahrungen


Autor*innengruppe Expert*innen in eigener (Schreib-)Sache2

Hallo, wir sind die Expert*innen Kirsten, Haku, Andreas und Fabi. Wir wollen uns zuallererst für die Chance, die wir mit diesem Sammelband als Plattform bekommen, bedanken. Wir hoffen, dass wir euch damit helfen können, uns mit anderen Augen zu sehen, uns zu verstehen – statt uns in eine Schublade zu stecken. Wir sind Teil der Gruppe Akademie für Expert*innen in eigener Sache, die sich 2022 gegründet hat. Ihre Mitglieder sind aktuell akut wohnungslose Menschen, ehemals wohnungslose Menschen, Studierende der Sozialen Arbeit, eine Hochschullehrerin sowie eine Fachkraft der Wohnungslosenhilfe.3 Expert*innen sind wir deshalb, weil wir alle Wissen und Erfahrungen bezüglich der Lebenslage Wohnungslosigkeit haben, und zwar aus verschiedenen Perspektiven: unter anderem aus queerer, weiblicher und/oder mit einer Beeinträchtigung. Die Gruppe gab uns in den letzten Monaten die Möglichkeit, dieses Wissen – das zur Verbesserung unserer, aber auch der Situation anderer wohnungsloser Menschen beitragen kann – miteinander zu teilen und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Immer wieder sprechen wir in der Akademie für Expert*innen in eigener Sache auch über Klassismus, den wir in unserem Alltag nur allzu gut kennen. Klassismus ist die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres vermuteten oder wirklichen sozialen Status. Klassismus demütigt und behindert die gesellschaftliche Partizipation bestimmter Gruppen. Außerdem schränkt er Menschen in ihrer Persönlichkeit und in ihrem beruflichen Werdegang enorm ein. Die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft findet an vielen Orten statt: an Schulen, im Kulturbetrieb oder in der Politik, in Institutionen oder in der persönlichen Verhaltensweise. Soziale Ungleichheiten verfestigen sich; im Zusammenhang mit einer PISA-Studie ist aufgefallen, dass in keinem Land in Europa der Reichtum so ungleich verteilt ist wie in Deutschland. Von Diskriminierung durch die Soziale Arbeit sind überwiegend Arme und Arbeiter*innen betroffen, weil sie auf deren Angebote angewiesen sind. Klassismus hat in der Geschichte bereits vielen Menschen das Leben gekostet, da ihnen elementarste Ressourcen vorenthalten wurden: In den Regimen des 20. Jahrhunderts wurden Menschen aufgrund ihres mangelnden Besitzes, ihrer mangelnden Bildung oder ihrer sozialen Herkunft immer wieder das Recht auf Leben oder die Teilhabe am Leben abgesprochen.

Unsere Gruppe sowie die Themen unserer Zusammenarbeit gründen vor allem auf gemeinsamen Diskriminierungserfahrungen als Personen mit sogenannten „besondere[n] soziale[n] Schwierigkeiten“. Schon die Begrifflichkeiten in §§ 67 ff. SGB XII und in der zugehörigen Durchführungsverordnung4 sprechen dem betroffenen Personenkreis eine bestimmte Klasse zu: eine Klasse, die sich in jeder Lebenslage gesondert erklären muss, weil sie nicht dem Normalitätsbegriff der bestehenden Gesellschaft entspricht. Nach Gründen, die in die „besondere[n] soziale[n] Schwierigkeiten“ geführt haben, wird in Gesprächen nur selten mit Interesse gefragt.5 Dafür stoßen wir im Alltag oft auf Unwissen und Diskriminierung:

„Aha, wohnungslos also – das muss in Deutschland doch niemand: auf der Straße leben!“

„Sozialhilfeempfänger*in ja? – Wozu brauchen Sie denn einen Kitaplatz, Sie sind doch den ganzen Tag zu Hause.“

„Transportkosten – für was denn?! Ich dachte, Sie sind wohnungslos – für die paar Säcke brauchen Sie doch keinen Transporter.“

„Sie leben aktuell in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe – sind Sie denn überhaupt wohnfähig?“

„Ich weiß nicht, ob der Job in der Pflege etwas für Sie ist – in Ihrer besonderen Situation. Man muss hier früh aufstehen!“

„Sie kommen vom Amt? Dann haben wir leider keine Wohnung für Sie!“

„War es wirklich ein Glas mit K.-o.-Tropfen oder doch eine Alkoholintoxikation? Ist doch offensichtlich, dass es Alkohol war: Bei der sparen wir uns den Papierkram.“

„Ach, wenn ich denen Geld gebe, wird das doch sowieso am nächsten Kiosk in Alk investiert. Ich biete lieber mein Brötchen an – sonst kann der Hunger ja nicht allzu groß sein!“

Unsere Gruppe dient unter anderem als Austauschort und als sicherer Raum, in dem unsere Lebenslage nicht „besonders“ ist – und wo gemeinsame Schwierigkeiten, die oftmals aus einem festgefahrenen, fremdbestimmten Sozialsystem heraus entstanden sind, geteilt werden können. Das Gefühl einer geteilten Erfahrung schafft in jeder Klasse eine gewisse Solidarität, aus der Stärke erwächst und die dazu ermuntert, gemeinsam für Veränderungen einzutreten. Die Frage, ob und wie wir als wohnungslose Menschen sichtbar werden möchten, hat uns in der Gruppe immer wieder beschäftigt. Unsere Ziele gehen dabei über die Gruppe hinaus: Wir möchten Aufklärungsarbeit leisten, politisch wirksam werden und entstigmatisieren! Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschlossen, unsere Erfahrungen öffentlich zu machen.

1.Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit und Klassismus – ein Gespräch


„Haku, was ist für dich Klassismus?

Haku: In den Menschenrechten steht in Artikel 1, dass jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist. Leider erfahren wir das als wohnungslose Menschen nicht so. Fangen wir an, die Karten offen auf den Tisch zu legen, uns eine Stimme zu geben und dafür zu kämpfen, gesehen zu werden! Nur weil man wohnungslos ist, heißt das nicht, dass man faul, asozial oder suchtabhängig ist. Es sind oft Schicksalsschläge, die einen da reinbringen. Fabi, erzähl du lieber, was ich erlebt habe …!

Fabi: Okay, dann berichte ich über das, was Haku mir erzählt hat, über seine Erfahrungen mit Klassismus und Ausgrenzung. Wie alle von uns hat Haku seine ganz eigene Geschichte, und er hat es, wie wir alle, nicht leicht im Leben: Er trägt sein Päckchen mit sich, wie jeder andere von uns auch. Haku ist Klassismus ausgesetzt, da er trans ist. Als wäre das nicht schon schwer genug, macht es ihm die Gesellschaft nicht gerade leichter. Transsein müsste doch mittlerweile in unserer Gesellschaft gar kein Problem mehr darstellen: Seit Jahren haben wir den Christopher Street Day und die Loveparade. Trotzdem wird Haku beleidigt und blöd angeschaut. Ich bekomme das oft mit, wenn ich mit ihm unterwegs bin: Er hat gefärbte blaue Haare und ist gepierct, deshalb hat er lange keine Wohnung gefunden. Wenn ich ehrlich bin, ist er für mich einer der verrücktesten, ehrlichsten und hilfsbereitesten Menschen, die ich kenne! Er macht seine Ausbildung zum Sozialassistenten und geht in seiner Arbeit richtig auf; er liebt es, mit körperlich sowie geistig eingeschränkten Menschen zu arbeiten. Er holt das Beste aus sich heraus. Obwohl er mit seiner Transidentität schon genug Probleme hat, kommen immer mehr dazu … Dabei möchte er doch eigentlich nur anerkannt werden. Er sagt es zwar nicht offen, aber es verletzt ihn sehr, dass er von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird. Er ist ein sehr sensibler junger Mann, der im Grunde nur seine Ruhe und seinen Frieden haben möchte. Für seine Freunde würde er durchs Feuer gehen und alles dafür machen, dass es ihnen gut geht. Er lässt nicht viele Menschen in seine Seele blicken. Mir erzählt er sehr viel, da er mir vertraut, und das ist etwas sehr Schönes. Er hat seine Macken; aber das liegt einfach daran, dass er als Säugling dreimal hochgeworfen, aber nur zweimal aufgefangen wurde.

Es gibt viele Beispiele dafür, wie Haku ausgegrenzt wird. Einmal hat ihn eine junge Frau, mit der er schon mal aneinandergeraten war, als Schwuchtel beleidigt. Das hat Haku so extrem verletzt,...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8706-6 / 3779987066
ISBN-13 978-3-7799-8706-2 / 9783779987062
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