Soziale Sünde und Revolution -  Leo N. Tolstoi

Soziale Sünde und Revolution (eBook)

Texte über die moderne Sklaverei, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens - Mit einem Vorwort von Gregor Gysi

(Autor)

Peter Bürger (Herausgeber)

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2024 | 1. Auflage
460 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-3091-5 (ISBN)
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Die vorliegende Sammlung "Soziale Sünde und Revolution" aus der Tolstoi-Friedensbibliothek wird eingeleitet mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Der Band vereinigt die zentralen Texte Leo N. Tolstois über das Privateigentum, die Versklavung der Arbeitenden, Wege der Befreiung und den Irrweg des Blutvergießens. Den frühen Ausführungen zur 'Geldtheorie' aus der Schrift "Was sollen wir denn tun?" (1882-1886) folgen Wortmeldungen zur 'Sozialen Frage' und zum politischen Zeitgeschehen aus dem letzten Lebensjahrzehnt des russischen Dichters: Moderne Sklaven (1900); Das einzige Mittel (1901); Der Zar und seine Helfershelfer (1901); An die Arbeiter (1902); Die große soziale Sünde (1905); Das Ende eines Zeitalters: Die bevorstehende Umwälzung (1905); Was tun? (1906); Aufruf an die Russen (1906); Die Bedeutung der russischen Revolution (1906); An den Premierminister P. A. Stolypin (1907); Brief an einen Revolutionär (1909); Über den Sozialismus (Fragment 1910); ausgewählte Aussagen Tolstois über die Beherrschten, die herrschende Klasse, Eigentumsverhältnisse und angestrebte Lösungen nach 'Protokollen' von Alexander Borissowitsch Goldenweiser (Zeitraum 1898-1909). Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 7 (Signatur TFb_B007). Herausgegeben von Peter Bürger.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

Vorwort zum Sammelband


„Soziale Sünde und Revolution“


der Tolstoi-Friedensbibliothek


Gregor Gysi


In den ersten Wochen und Monaten nach Beginn des offenen Angriffs Russlands auf die Ukraine konnte man in verschiedenen Zeitungen lesen, dass der großrussische Chauvinismus, der im heutigen Russland Konjunktur hat, ein der russischen Kultur inhärenter Bestandteil sei. Dieser Gedanke ist nicht nur deshalb abwegig, weil er keiner Analyse standzuhalten vermag, sondern auch deshalb, weil es – wie bei anderen Nationen auch – die (!) bestimmte Kultur nicht gibt. Nationalkulturen sind Fiktionen des imperialistischen Zeitalters. Zudem sind Kulturen zutiefst widersprüchlich, was mit der simplen Tatsache zusammenhängt, dass die Gesellschaften, die die kulturelle Praxis hervorbringen, zum Teil heftige Widersprüche in sich tragen. Lesen wir Texte, gerade die großen unter ihnen, als Dokumente der Widersprüche, dann gelingt es uns vielleicht, dem Ressentiment zu entrinnen.

Es ist eigentlich gleichgültig, ob man Nikolai W. Gogol, Fjodor M. Dostojewski oder Lew N. Tolstoi liest: Diese Schriftsteller haben ein Bild von der zaristischen Gesellschaft Russlands vermittelt, das auf einen entscheidenden Punkt hinausläuft: so kann es nicht weitergehen. Ähnlich ergeht es einem, wenn man Thomas Manns Zauberberg liest: die alte Gesellschaft ist längst am Ende und kann sich nur noch in der zutiefst künstlichen Welt eines Sanatoriums am Leben erhalten. Man muss nicht gleich ein intellektueller Wegbereiter der Revolution sein, um zu einem Bewusstsein der tiefen Krise der Gesellschaft beizutragen. Das jedenfalls kann Tolstoi nicht abgesprochen werden, obwohl er selbst für einen Reformweg eintrat.

Wieso nun Lenin? Wladimir I. Lenin hat Tolstoi gleich zwei Aufsätze gewidmet. Ich sehe den Politiker Lenin natürlich sehr kritisch. Er hat jenen Staat geschaffen, der stalinistisch entarten konnte und der seine Demokratisierung nicht überlebte. Dennoch schätze ich ihn als politischen Intellektuellen. Natürlich liest er Tolstoi nicht wie ein Literaturwissenschaftler. Er ist ein politischer Intellektueller, und er macht genau das, was ich oben anmerkte: Texte als Dokumente der gesellschaftlichen Widersprüche lesen. Dass dabei seine eigenen politischen Interessen die Lektüre bestimmen, ist logisch und kann kein Vorwurf sein.

Zunächst widme ich mich dem Text „Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution“ (Lenin Werke, Bd. 15, S. 198ff.), in dem Lenin noch die „Bauernrevolution“ von 1905 aufarbeitet. Entsprechend ist auch die Diskussion des Werkes von Tolstoi akzentuiert.

„In den Werken, Anschauungen, Lehren, in der Schule Tolstois sind tatsächlich schreiende Widersprüche enthalten.“ (Ebenda, S. 198) Ganz materialistisch sieht Lenin die Wurzel der Widersprüche im Denken in den Widersprüchen der zaristischen Gesellschaft: „Aber die Widersprüche in den Anschauungen und Lehren Tolstois sind keine Zufälligkeiten, sie sind vielmehr Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen sich das russische Leben während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts abspielte.“ (Ebenda, S. 201) Lenin spielt damit auf die Auflösung der Dorfgemeinschaft durch die kapitalistische Modernisierung an: „Das patriarchalische Dorf, gestern erst von der Leibeigenschaft befreit, wurde dem Kapital und dem Fiskus zur restlosen Ausplünderung überlassen. Die alten Grundpfeiler der bäuerlichen Wirtschaft und des bäuerlichen Lebens, Grundpfeiler, die sich tatsächlich Jahrhunderte hindurch gehalten hatten, gingen ungewöhnlich schnell in die Brüche.“ (Ebenda) Weiter: „Unter diesem Blickwinkel betrachtet, sind die Widersprüche in Tolstois Anschauungen ein wirkliches Spiegelbild jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen die Bauernschaft in unserer Revolution ihre historische Tätigkeit aufnahm. Einerseits hatte der jahrhundertelange Druck der Leibeigenschaft und die jahrzehntelange forcierte Ruinierung nach der Reform ganze Berge von Haß, Erbitterung und verzweifelter Entschlossenheit aufgetürmt. Das Bestreben, sowohl die Staatskirche als auch die Gutsherren und ihre Regierung restlos hinwegzufegen, alle alten Formen und Konventionen des Grundbesitzes zu zerschlagen, das Land zu säubern und an Stelle des Polizei- und Klassenstaates ein Gemeinwesen freier und gleichberechtigter Kleinbauern zu schaffen“ (Ebenda, S. 201/202).

Das ist das Einerseits, die eine Seite des Widerspruchs. Ein Andererseits hat Lenin auch aufzubieten: „Anderseits zeigte die Bauernschaft bei ihrem Streben nach neuen Formen des Zusammenlebens einen großen Mangel an Bewußtheit, eine patriarchalische, religiös-närrische Unbekümmertheit gegenüber den Fragen, wie dies Gemeinwesen aussehen soll, durch welchen Kampf sie sich Freiheit zu erringen hat, wer in diesem Kampf ihr Führer sein kann, wie sich die Bourgeoisie und die bürgerliche Intelligenz zu den Interessen der Bauernrevolution stellen, warum der Grundbesitz der Gutsherren nur durch gewaltsamen Sturz der Zarenmacht vernichtet werden kann.“ (Ebenda, S. 202) Das politisch Defizitäre führt Lenin nun wieder zu Tolstoi: „Der größere Teil der Bauernschaft jammerte und betete, räsonierte und träumte, schrieb Petitionen und entsandte ‚Fürbitter‘ – ganz im Geiste Leo Nikolajewitsch Tolstois!“ (Ebenda, S. 202) Oder anders formuliert: „Tolstois Ideen sind ein Spiegel der Schwäche, der Mängel unseres Bauernaufstands, ein Abbild der Schwammigkeit des patriarchalischen Dorfes und der eingewurzelten Feigheit des ‚tüchtigen Bäuerleins‘.“ (Ebenda, S. 202/203)

Und so kommt Lenin zu dem Urteil: „Tolstoi widerspiegelte den siedenden Haß, den herangereiften Drang zum Besseren, das Verlangen, sich vom Vergangenen zu befreien – und die unreife Träumerei, den Mangel an politischer Schulung, die Schlappheit und Unfähigkeit zu revolutionärem Handeln.“ (Ebenda, S. 203)

Der Widerspruch, den Lenin hier thematisiert, ist der zwischen einem gesellschaftlichen Leidensdruck, der zur Revolution treibt, und einem Mangel an Befähigung zum revolutionären Handeln, was derselben gesellschaftlichen Lage geschuldet ist.

Nur wenige Jahre später widmet sich Lenin wieder Tolstoi, um in gleicher Weise durch die Lektüre seiner Texte Widersprüche der russischen Gesellschaft zu benennen. „L. N. Tolstoi und seine Epoche“ (Lenin Werke Bd. 17, S. 33 ff.) heißt der Text und umreißt das Anliegen, aus der Gedankenwelt Tolstois einige Dinge über die damalige russische Gesellschaft entnehmen zu können.

„Bei uns ist dies alles jetzt umgekrempelt worden und alles gewinnt eben erst Gestalt“. Das lässt Tolstoi in Anna Karenina die Figur des Lewin sagen. Das kommentiert Lenin: „ ‚Bei uns ist dies alles jetzt umgekrempelt worden und alles gewinnt eben erst Gestalt‘ – man kann sich schwerlich eine treffendere Charakteristik der Periode von 1861 bis 1905 vorstellen. Was ‚umgekrempelt worden ist‘, weiß man gut oder es ist zum mindesten jedem Russen durchaus bekannt. Es ist die Leibeigenschaft und das ganze ihr entsprechende ‚alte Regime‘. Das, was ‚eben erst Gestalt gewinnt‘, ist der breiten Masse der Bevölkerung völlig unbekannt, fremd, unverständlich. Tolstoi erscheint diese ‚eben erst Gestalt gewinnende‘ bürgerliche Ordnung verschwommen in Gestalt eines Schreckgespenstes – Englands.“ Welche Richtung nimmt nun die Überlegung? „Ähnlich wie die Volkstümler will er nicht sehen, verschließt er die Augen, wendet er sich von dem Gedanken ab, daß in Rußland keine andere als die bürgerliche Ordnung ‚Gestalt gewinnt‘.“ (S. 33)

Hier geht es, anders als im ersten Tolstoi-Text, um die Frage nach dem Modernisierungsvorbild. Findet Russland dieses Vorbild im kapitalistischen Westen oder folgt es einer eigenen Entwicklungslogik, wie die Volkstümler (Narodniki) dies wollten? Zumindest in der Frage des Modernisierungsvorbildes ist Tolstoi klar antiwestlich: „In ‚Sklaverei unserer Zeit‘ (geschrieben 1900) erklärt Tolstoi, diese Appellationen an den Weltgeist noch eifriger wiederholend, die politische Ökonomie für eine ‚Pseudowissenschaft‘, weil sie das ‚kleine, eine Ausnahmestellung einnehmende England‘ zum ‚Muster‘ nehme, statt ‚die Lage der Menschen in der ganzen Welt seit Beginn der historischen Zeit‘ zum Muster zu nehmen.“ (S. 35) Was Lenin klarmachen will und auch hinreichend gut demonstriert, ist, dass Tolstoi aber unter Hinweis auf „die Völker des Ostens“ die Existenz eines allgemeinen Gesetzes leugnet, womit er sich auf jene Intellektuellen zubewegt, die Ideologen „der östlichen Ordnung, der asiatischen Ordnung“ sind (S. 35). Es ist übrigens eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Karl Marx gegenüber der damaligen Noch-Volkstümlerin Wera Sassulitsch bestritt, dass er mit dem Kapital eine allgemeine Entwicklungstheorie vorgelegt hätte: „Die im ‚Kapital‘ gegebene Analyse enthält...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7693-3091-9 / 3769330919
ISBN-13 978-3-7693-3091-5 / 9783769330915
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