Den Bach rauf (eBook)

128 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31367-3 (ISBN)
Robert Habeck, geboren 1969, arbeitete als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Bücher, bevor er Politiker wurde.
Robert Habeck, geboren 1969, arbeitete als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Bücher, bevor er Politiker wurde.
Wir können entscheiden
In den vergangenen Jahren habe ich unzählige Menschen getroffen, auf Hunderten Veranstaltungen, bei Bürgergesprächen, Unternehmensbesuchen in allen Regionen Deutschlands, Nord, Süd, Ost, West, der Mitte, und auf etlichen Auslandsreisen. Meine Termine sind dicht getaktet, einer folgt auf den nächsten, und oft bleibt nur wenig Zeit, weil schon das nächste Gespräch ansteht und mir meine gut organisierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freundlich signalisieren, dass ich weitermuss, womit sie leider immer recht haben, weil es unhöflich ist, zu spät zu kommen. Aber viele Gesichter, Geschichten zu diesen Gesichtern, kleine Momente, Sätze bleiben hängen, gehen mir weiter durch den Kopf.
Da ist die Auszubildende in einer Bäckerei in Nordniedersachsen. Sie trägt eine schwarze Handprothese. Ein Arbeitsunfall, sagt sie, als sie mich zusammen mit ihrer Chefin vor der Tür des Familienbetriebs empfängt. Sie arbeite schon seit zwei Monaten wieder und sei eine großartige Kollegin, erklärt ihre Chefin, bevor sie uns durch den Betrieb führt, hinein in eine Backstube, wenn dies für diesen lichtdurchfluteten Raum mit großen Fenstern das richtige Wort ist. Noch Tage später denke ich an diese junge Frau, die in weißem Shirt und weißer Schürze große Teigmengen zu Ciabatta formt, Hand in Hand mit einem Kollegen. Und ich frage mich, wie sie diesen Schlag durchgestanden hat, und bewundere die Kraft, die es ihr erlaubt, trotzdem ihre Ausbildung weiterzumachen und sich das Leben neu aufzubauen.
Da ist dieser eine Sonntag im Sommer 2024, an dem ich in einem bayerischen Wohnzimmer stehe, das ein paar Stunden zuvor völlig überflutet war. Wegen eines der Hochwasser, die immer häufiger auftreten, weil die Erderhitzung voranschreitet; man kann und darf es nicht mehr übersehen. Das Wasser ist gerade abgelaufen, und nun reinigen hier zwanzig Leute die Möbel, wischen den Boden, hängen die Familienfotoalben zum Trocknen auf. Ich sage der Besitzerin, einer älteren Dame, dass es toll sei, dass ihre Nachbarn alle helfen würden. Sie guckt mich etwas verdattert an und antwortet: Ich weiß gar nicht, wer diese Menschen sind, ich kenne sie nicht, meine Nachbarn sind es jedenfalls nicht.
Oft denke ich auch an die Geschäftsführerin einer Nougatfabrik in Thüringen, die ich im Februar 2024 besucht habe. Ein Traditionsunternehmen, dessen Geschichte bis ins vorletzte Jahrhundert zurückreicht, das schon in der DDR Delikatessnougat hergestellt hat und heute stabil im Markt steht. Wie überall in Deutschland fehlen auch hier Fachkräfte: Viele Stellen sind zum Zeitpunkt meines Besuchs unbesetzt. Nur dass in Thüringen die AfD besonders stark ist, die offen und unverhohlen fordert, Menschen, die nicht ihrem fürchterlichen Wunschbild einer homogenen Volksgemeinschaft entsprechen, aus Deutschland zu entfernen. In der Nougatfabrik arbeiten Menschen aus neunzehn Ländern, und das Unternehmen unterstützte eine Initiative, damit das so bleiben kann.
Als sich unser Wagen der Fabrik nähert, sehen wir etwa fünfzig Menschen, die gegen mich demonstrieren. Sie blockieren den Pressebus, beschimpfen die Journalistinnen und Journalisten. Der Geschäftsführerin merkt man an, dass sie das Ganze mitnimmt. Mir geht es nicht anders.
Ich lebe mit Demonstrationen gegen meine Politik, gegen mich. Sie gehören dazu, wenn man politische Verantwortung trägt. Ich kenne das aus meiner Zeit als Landesminister in Schleswig-Holstein. Damals ging es um Fischerei im Nationalpark Wattenmeer oder um den Schutz von Hecken und Grenzwällen, sogenannte Knicks. Heftig war es auch, aber alle konnten miteinander reden. Respektvoll. Und meistens gab es sogar eine gute Lösung. Die Demonstranten wollen an diesem Tag nicht reden. Sie wollen auch keine Lösung. Sie brüllen und machen obszöne und drohende Gesten.
Eine Woche nach dem Besuch rufe ich die Geschäftsführerin noch einmal an und sage, dass es mir leidtue, dass sie meinetwegen solche Scherereien bekommen habe; ich frage sie, wie es ihr gehe. Sie berichtet, dass die Demonstration auch für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine beunruhigende Erfahrung gewesen sei. Denn nach meiner Abreise hätten die Rechtspopulisten einfach weitergepöbelt, gedroht, der Fabrik lautstark die Insolvenz gewünscht. Sie habe die Vorfälle öffentlich gemacht und erklärt, dass man miteinander reden können müsse. Daraufhin hätten sich andere Geschäftsleute gemeldet, um sie zu unterstützen. Und dann die Verbände und die Kammern. Aus der Kampagne gegen sie sei eine für sie geworden – und für die Demokratie. Eine Lektion in demokratischem Anstand.
Es sind diese und viele andere Geschichten, die zeigen, welche Kraft in Menschen steckt. Menschen, die sich nach schweren Schicksalsschlägen zurück ins Leben kämpfen, die anderen in der Not zur Seite stehen und tatkräftig anpacken, die für Menschlichkeit kämpfen, die Zivilcourage zeigen. Die bei Gegenwind aufrecht nach vorne gehen. Die etwas gegen alle Wahrscheinlichkeit durchsetzen. Die zeigen, dass Menschen einen Unterschied machen. Sie geben den Mut, den ein Land braucht, den wir alle brauchen, auch ich.
Ich habe dieses kleine Buch mit der dichten Taktung der Krisen begonnen. Darauf werde ich immer wieder zurückkommen. Denn die Probleme sind ja da: die Kriege, die Erderhitzung, die geopolitischen Machtverschiebungen, die Wachstumsschwäche unserer Wirtschaft, der Populismus, der die liberalen Demokratien bedroht, das Erstarken autoritärer Kräfte. Vieles hängt miteinander zusammen, beeinflusst sich gegenseitig und wird auf einmal in unserem Alltag spürbar. Aber die Krisen verschwinden nicht, wenn man wegschaut, die Aufgaben erledigen sich nicht von selbst, wenn man die Tür hinter sich zumacht, sie werden auch nicht kleiner, wenn man sie laut beklagt. Im Gegenteil: Sie werden noch größer, wenn man den Untergang an die Wand malt und damit jenen Diktatoren und Autokraten, die unsere Demokratie und Freiheit zerstören wollen, einen Dienst erweist.
Nein, die Krisen gehen nicht weg. Aber wir können uns entscheiden: Stecken wir den Kopf in den Sand? Erstarren wir in Angst? Versinken wir in Wut? Oder heben wir den Kopf? Richten uns auf, krempeln die Ärmel hoch, nehmen die Probleme an und kümmern uns um sie? Kümmern uns um unser Land, unser Zusammenleben, umeinander – damit wir nicht verkümmern?
Ich habe in den vergangenen Jahren viel Unterstützung bekommen, Freunde, Freundinnen gewonnen und Gutes erlebt. Ich habe aber auch Anfeindungen gespürt, Beleidigungen gehört und sogar perverse Morddrohungen erhalten. Menschen schreiben mir Dankesbriefe oder loben mich in den sozialen Medien, andere hassen mich aus tiefstem Herzen. Nach mehr als drei Jahren im Amt, so mag man denken, sei das normal. Aber ich möchte das Anschreien, den Hass, die Gewalt nicht als Normalität akzeptieren, weil ich weiß, dass all das bei mir nur besonders sichtbar ist – aber fast alle Menschen unter diesem gesellschaftlichen Klima, unter der Maßlosigkeit der Debatte leiden. Ich schreibe diese Seiten, weil mich die tiefe Sorge umtreibt, dass Deutschland seine Mitte oder – vielleicht besser – seine Balance verliert. Dass Probleme nur auf Kosten anderer gelöst werden, dass man die Verunglimpfung und Ausgrenzung anderer braucht, um überhaupt zu wissen, wer man ist. Als Land und Nation müssen wir uns aber klarmachen, dass wir durch diese schwierige Zeit nur kommen, wenn wir mehrheits- und einigungsfähig sind. Wenn wir für eine Debattenkultur in Politik und Gesellschaft einstehen, die dazu beiträgt, dass Kompromisse möglich bleiben, Kompromisse, hinter denen sich eine gesellschaftliche Mehrheit versammelt – gerade jetzt, wo wir uns einer veränderten Wirklichkeit stellen müssen, wo wichtige und weitreichende Entscheidungen zu treffen sind.
Immer wieder hat sich Deutschland nach der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten neu erfunden. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die gesellschaftlichen Reformen der Siebzigerjahre im Westen, die Bürgerrechtsbewegung der späten Achtzigerjahre im Osten, die Überwindung der deutschen Teilung: Die Zeiten haben uns immer wieder gefordert. Wir sind daran gewachsen und nach den USA und China die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt geworden, eine stabile Demokratie, ein sicherer Rechtsstaat, eingebunden in ein freies und friedliches Europa.
Nichts von dem ist heute mehr selbstverständlich. Deshalb fordern die Zeiten jetzt, dass wir darum kämpfen.
Dieses Buch läuft auf eine Hoffnung hinaus. Dass nämlich mehr Menschen in Deutschland leben, die Schuldzuweisungen nicht belohnen, sondern sich nach einem höflichen, normalen Umgang sehnen, im demokratischen Streit. Dass mehr Menschen bereit sind, notwendige Veränderungen anzugehen, statt die Probleme zu ignorieren, und das auch schon tun – jeder und jede nach den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten. Dass mehr Menschen den Optimismus wollen, als im Pessimismus zu versinken. Menschen, die nicht lautstark klagen, aber angesichts all der Zielkonflikte kopfschüttelnd an der Seite stehen und denken: »Wie soll das nur alles gehen?« Die im Laufe der vergangenen Jahre begriffen haben, wie schwierig die Dinge im Konkreten sind. Aber nicht wollen, dass man den Schwierigkeiten ausweicht. Menschen, die das Gelingen wollen, nicht das Misslingen.
Für sie ist dieses Buch.
Diese Kräfte freizusetzen, darum geht es.
Gute Politik sucht die gute Einigung, erkennt, dass zwischen »möglich sein« und »möglich machen« grammatisch ein Verbunterschied liegt, aber politisch Welten liegen. Das eine ist statisch, das...
Erscheint lt. Verlag | 16.1.2025 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Annalena Baerbock • Bundesregierung • Bundestagswahl 2025 • Die Grünen • Habeck Buch • Habeck neues Buch • Hoffnung • Kanzlerkandidat • Klimakrise • Klimaschutz • Neuwahlen • Politiker • Populismus • Positive Perspektiven • Sozialer Zusammenhalt • viraler Politiker • Vizekanzler • Wahlen 2025 • Wirtschaft und Freiheit • Zukunft |
ISBN-10 | 3-462-31367-3 / 3462313673 |
ISBN-13 | 978-3-462-31367-3 / 9783462313673 |
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