Rett-Syndrom -  Klaus Sarimski

Rett-Syndrom (eBook)

Behandlung, pädagogische Förderung, Alltagsbewältigung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
172 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045173-5 (ISBN)
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Das Rett-Syndrom ist eine schwere neurologische Entwicklungsstörung bei Mädchen, die nach zunächst weitgehend unauffälliger Entwicklung innerhalb der ersten beiden Lebensjahre eintritt. Im weiteren Verlauf des Lebens beeinträchtigt es u.a. die Kommunikation und Bewegungsabläufe der Mädchen. Häufige Kennzeichen sind ein (zumindest) partieller Verlust von bereits erlernten sprachlichen, fein- und grobmotorischen Fähigkeiten sowie exzessive stereotype Handbewegungen. Das Buch beschreibt kognitive, kommunikative und adaptive Kompetenzen der Betroffenen. Neben der diagnostischen Praxis werden Konzepte der Behandlung durch Physio-, Ergo-, Sprach- und Musiktherapie in ihrer Wirksamkeit bewertet. Prinzipien der pädagogischen Förderung der Kommunikation und sozialen Teilhabe in der Schule werden ausführlich vorgestellt. Das letzte Kapitel erörtert die Unterstützung von Eltern bei der Bewältigung der Herausforderungen im Alltag.

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski war Psychologe am Kinderzentrum München und Professor für sonderpädagogische Frühförderung an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg.

Prof. i. R. Dr. Klaus Sarimski war Psychologe am Kinderzentrum München und Professor für sonderpädagogische Frühförderung an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg.

Vorwort


Im Jahr 1983 war ich im Kinderzentrum München, einem Sozialpädiatrischen Zentrum mit stationärer Abteilung, als Stationspsychologe beschäftigt. Zusammen mit meinem ärztlichen Kollegen nahmen wir ein Mädchen namens Tatjana auf. Die Eltern berichteten in der Anamnese einen dramatischen Verlauf der Entwicklung ihrer Tochter. Diese habe in den ersten beiden Lebensjahren ganz unauffällig gewirkt. Dann habe sie plötzlich die Worte, die sie schon sprechen konnte, nicht mehr produzieren, ihre Hände nicht mehr gezielt zum Spielen, Essen oder anderen Alltagstätigkeiten einsetzen können. Sie habe unvermittelt zu schreien begonnen und sei auch nachts sehr unruhig gewesen, sei oft aufgewacht, habe geschrien, manchmal auch unmotiviert gelacht.

Statt zu spielen, habe sie stereotype Bewegungen mit den Händen entwickelt, sie in der Körpermitte zusammengeführt, geklatscht, eine Hand zum Mund geführt, dann dieses Bewegungsmuster fast ununterbrochen wiederholt. Sie habe diese Bewegungen auf Ermahnungen oder Ansprache nicht steuern können, obwohl sie am sozialen Kontakt interessiert schien und häufig Blickkontakt zu den Eltern gesucht habe. Diese Stereotypien beherrschten sie nach Auskunft der Eltern bis zu dem Tag, als wir sie mit etwas über drei Jahren in die Klinik aufnahmen. Schreien und nächtliche Unruhe hätten mittlerweile nachgelassen, Sprechen und ein gezielter Handgebrauch seien ihr aber weiterhin nicht möglich.

Dieses Entwicklungs- und Verhaltensmuster Tatjanas war für mich und meinen ärztlichen Kollegen rätselhaft. Es wurden neurologische Untersuchungen durchgeführt, mit der die damals bekannten degenerativen Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten, die mit einem Verlust bereits erworbener Fähigkeiten aufgrund hirnorganischer Abbauprozesse einhergehen – ohne ein klärendes Ergebnis. Als verhaltenstherapeutisch geschulter Psychologe versuchte ich, Bedingungen zu identifizieren, unter denen die Handstereotypien variierten. Die funktionale Verhaltensanalyse zeigte keine Zusammenhänge mit bestimmten Aktivitäten im Alltag oder der Anwesenheit von unterschiedlichen Bezugspersonen. Sie traten auf, wenn das Mädchen allein im Raum war, wenn man ihr Spielangebote auf einem Tisch vorbereitete, wenn man ihr kleine Aufgaben stellte, wenn man gar nicht auf die Stereotypien einging oder wenn man sie nachdrücklich ermahnte, die Hände still zu halten. Wenn man ihre Hände für kurze Zeit festhielt und dann wieder losließ, intensivierten sich die Stereotypien. Es wirkte, als ob sie diese aus innerem Drang »nachholen« müsse.

Über mehrere Wochen versuchten wir, die exzessiven Handstereotypien mit intensiven verhaltenstherapeutischen Programmen zu modifizieren. Die Lehrbücher empfahlen dazu eine Kombination aus differenzieller Verstärkung kleiner Ansätze zu gezielten Handbewegungen (z. B. Berühren von Spielzeug) mit einer Unterbrechung der Stereotypien (z. B. durch Festhalten einer Hand). Mehrmals täglich durchgeführte, ausgedehnte Übungen brachten keinen Erfolg. Die Verhaltensprotokolle, die angefertigt wurden, zeigten allenfalls eine Reduzierung der Häufigkeit der Stereotypien während der Übungen und dann eine Zunahme ihrer Häufigkeit in der Zeit unmittelbar nach dem Ende der Übungssitzung.

Wir blieben ratlos und konnten Tatjana nicht helfen. Ihre Eltern fühlten sich mit der Situation völlig überfordert und entschieden sich für eine Anmeldung in einer Heimeinrichtung. Wir begleiteten sie bei dieser Entscheidung und dem Übergang Tatjanas an diesen neuen Wohnort. Auf dem Entlassungsbericht stand »Diagnose unbekannt«.

Dass keine Diagnose gestellt werden konnte, war nicht mangelndem Bemühen unseres Teams um eine Klärung der Ursache geschuldet. Mein ärztlicher Kollege war ein junger, sehr engagierter Arzt, der später eine Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater abschloss, viele Jahre eine entsprechende Klinik leitete und für einige Zeit zum Vorsitzenden der Fachgesellschaft der Kinder- und Jugendpsychiater gewählt wurde. Die Diagnose war damals unter Ärzt:innen schlicht nicht bekannt: das Rett-Syndrom.

Professor Andreas Rett, ein Wiener Neuropädiater, hatte im Jahr 1966 einen Fallbericht veröffentlicht, in dem er mehrere Mädchen mit einem Entwicklungsverlauf, wie die Eltern ihn von Tatjana berichteten, und ähnlichen Verhaltensmerkmalen beschrieb. Es handelte sich um eine kleine Publikation in einem österreichischen Verlag, die wenig beachtet wurde. Die Fachöffentlichkeit wurde auf diese Entwicklungsstörung erst aufmerksam, als Professor Bengt Hagberg in Schweden im Jahr 1983 mit Bezug auf die Erstbeschreibung durch Andreas Rett weitere 35 Fälle in einer internationalen Fachzeitschrift beschrieb. Als wir einige Zeit später diesen Fachartikel lasen, war uns klar: Tatjana war ein Mädchen mit Rett-Syndrom.

In den folgenden Jahren meiner Tätigkeit als klinischer Psychologe im Kinderzentrum München habe ich etwa zehn Mädchen mit Rett-Syndrom kennengelernt und ihre Familien ein Stück weit auf ihrem Weg begleitet. Auch als Professor an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg (2007 – 2021) habe ich mich weiter mit den besonderen Bedürfnissen von Mädchen mit dieser Entwicklungsstörung beschäftigt und Studierende der Sonderpädagogik auf sie – und die spezifischen Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale bei anderen genetischen Syndromen – aufmerksam zu machen versucht.

Die Einschränkungen in den Handlungsfähigkeiten, der Verlust bereits erworbener Fähigkeiten, die begleitenden Verhaltensauffälligkeiten und körperlichen Probleme stellen für die betroffenen Mädchen und ihre Eltern eine ganz außerordentlich hohe Belastung dar. Sie bedeuten eine sehr schwere Einschränkung der Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe, wie sie sonst nur bei Kindern mit schwerster intellektueller Behinderung vorkommt. Mädchen mit Rett-Syndrom unterscheiden sich jedoch in ihrem Verhaltensphänotyp sowie ihrem Lernpotenzial von Kindern mit schwerster intellektueller Behinderung – dies machten viele Eltern aus ihren Alltagsbeobachtungen deutlich und wurde in den letzten Jahren durch wissenschaftliche Untersuchungen vielfach belegt (▸ Kap. 3). Auch innerhalb der Gruppe der Mädchen mit Rett-Syndrom gibt es erhebliche individuelle Unterschiede in der Ausprägung von Verhaltensmerkmalen und in den kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, die sie zeigen können.

Das komplexe Krankheitsbild stellt bis heute eine Herausforderung dar – für Kinderärzt:innen und Humangenetiker:innen, Therapeut:innen, Pädagog:innen und Familien, in denen ein Mädchen mit Rett-Syndrom aufwächst. Die Forschung konzentrierte sich auf die Klärung der genetischen Ursache, die Möglichkeiten einer medikamentösen Behandlung der Symptome, die Wirksamkeit von Physio-‍, Ergo-‍, Sprachtherapie und anderen Behandlungsmaßnahmen sowie spezifische Ansätze zur pädagogischen Förderung.

Das dadurch gewonnene syndromspezifische Wissen ist in deutscher Sprache bisher nur in begrenztem Maße zugänglich. Eine ältere Publikation stammt von einer schwedischen Kollegin, Barbro Lindberg. Sie veröffentlichte zunächst in englischer Sprache ein Fachbuch zu ihren Erfahrungen, das dann auch übersetzt und in einem kleinen österreichischen Verlag publiziert wurde (Lindberg, 1991). Ein Sammelband zu Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation bei Mädchen mit Rett-Syndrom wurde von Braun et al. (2014) vorgelegt. Die Fachzeitschrift der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation enthielt über die Jahre hinweg immer wieder einzelne Fallberichte zu den Erfahrungen, die Eltern von Mädchen mit Rett-Syndrom bei der Anbahnung von alternativen Kommunikationsformen machten. Ein berührendes Buch erschien schließlich von Leslie Malton (2015), einer deutsch-amerikanischen Schauspielerin, in dem sie die Geschichte ihrer Beziehung zu ihrer Schwester mit Rett-Syndrom schildert – die sie »Das Mädchen mit den sprechenden Augen« nennt.

Ich selbst habe in Zusammenarbeit mit dem Eltern-Selbsthilfeverband in Deutschland eine Studie zur individuellen Variabilität des Verhaltensphänotyps, zu den kommunikativen Fähigkeiten und den familiären Belastungen beim Rett-Syndrom durchgeführt und in zwei Fachartikeln im Jahr 2003 veröffentlicht (Sarimski, 2003a, b). In den verschiedenen Auflagen meines Buches »Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome« (zuletzt 4. Auflage, 2014) habe ich u. a. das Wissen um die Entwicklungsbesonderheiten des Rett-Syndroms zusammengestellt, das für Pädagog:innen und Psycholog:innen von Bedeutung ist, wenn sie Kinder mit dieser Entwicklungsstörung und ihre Familien begleiten.

Rüdiger Retzlaff, ein Kollege aus der Universitätsklinik Heidelberg, hat 2006/2007 eine umfangreiche qualitative und quantitative Studie zu der Frage publiziert, wie es Eltern gelingt, diese besondere Herausforderung möglichst gut zu bewältigen. Auf der Basis dieser Erfahrungen hat er – selbst Vater einer Tochter mit Rett-Syndrom – ein Buch veröffentlicht, in dem es um die Lebenssituation von Familien geht, in denen ein Kind mit einer...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Behindertes Kind • Behinderung • Entwicklungsstörung • Sprachbehinderung • Sprachentwicklungsstörung
ISBN-10 3-17-045173-1 / 3170451731
ISBN-13 978-3-17-045173-5 / 9783170451735
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