Tausend Archen (eBook)

Flucht als politische Handlung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4408-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tausend Archen -  Johannes Siegmund
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Konfrontiert mit Fluchtbewegungen gerät Europa in Panik. Es schickt Militär an die Grenzen, organisiert EU-Austritte, schleift liberale Demokratien und macht sich von autoritären Staaten erpressbar. Seit 100 Jahren ist rassistische Flüchtlingspolitik das zentrale Einfallstor für rechtsextreme Gewalt und ebnet den Weg für Autoritarismus und Faschismus. Doch Fluchtbewegungen müssten nicht unweigerlich zu einem Rechtsruck führen. Sie sind auch politische Bewegungen, die für radikale Solidarität einstehen. Die Flüchtenden bleiben inmitten gewaltvoller Krisen handlungsfähig und kämpfen gegen Lager, Abschiebungen, Rassismus und Grenzen. Seit den 1990er Jahren werden diese Proteste der Refugees und Sans-Papiers dabei von Millionen von Menschen unterstützt. Denn jenseits von neoliberalem Weitertorkeln und faschistischem Hass gibt es eine dritte politische Option: das mutige Einstehen für eine radikal solidarische Welt. Wie können wir die Welt so verändern, dass es keine Grenzen mehr braucht?

Johannes Siegmund lebt mit seiner Familie in Wien. Er unterrichtet an der Universität Wien und ist Trainer bei ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit). Seine Doktorarbeit wurde mit dem Dr. Caspar Einem Preis ausgezeichnet. Momentan forscht er zu Solidarität und Rassismus in der Klimakrise.

Johannes Siegmund lebt mit seiner Familie in Wien. Er unterrichtet an der Universität Wien und ist Trainer bei ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit). Seine Doktorarbeit wurde mit dem Dr. Caspar Einem Preis ausgezeichnet. Momentan forscht er zu Solidarität und Rassismus in der Klimakrise.

Hannah Arendt und der politische Flüchtling


In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das 1951 in den USA erschien, beschrieb Hannah Arendt den Flüchtling als eine entscheidende politische Figur. Die Flüchtlinge der Zwischenkriegszeit stellen nach Arendt aus zwei Gründen eine neue Kategorie Vertriebener dar.6 Zum einen treten sie in Massen auf und werden allein deshalb zum ersten Mal zu einem zentralen Problem nationaler und internationaler Politik. Die Vertreibung von Minderheiten und Bevölkerungen erreicht am Ende des Zweiten Weltkriegs ihren traurigen Höhepunkt. In einer Weltbevölkerung von 2,3 Milliarden gibt es 175 Millionen Flüchtlinge, das sind 7,6 Prozent aller Menschen.7 Zum anderen werden die Flüchtlinge nicht ausgestoßen, weil sie etwas verbrochen, an Rebellionen oder Putschversuchen teilgenommen oder radikale politische Ansichten vertreten hätten. Während die Exilant:innen des 19. Jahrhunderts oftmals vor Revolutionen oder Konterrevolutionen flüchteten und auf Asyl hofften, werden die Flüchtlinge des 20. Jahrhunderts vertrieben, weil in den rassistisch gereinigten Nationalstaaten kein Platz für sie ist.

Für den Historiker Michael Marrus zeichnet sich das gesamte 20. Jahrhundert durch Massenflucht aus. Er grenzt die Flüchtlinge von den Vagabund:innen der Frühen Neuzeit ab und hält fest, dass es bis weit ins 19. Jahrhundert gar keinen allgemeinen Ausdruck für Flüchtlinge gab. Das Wort »Refugiés« bezog sich nur auf die aus Frankreich geflohenen Hugenott:innen des 17. Jahrhunderts.8 Der Begriff Flüchtling wird erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts in internationalen Verträgen erwähnt und im Alltag verwendet.

Wie Arendt geht Marrus davon aus, dass Fluchtbewegungen vor der Moderne kein Problem internationaler Politik darstellten. Erst mit der Entstehung von Nationalstaaten und ihren bürokratisch-rassistischen Maschinerien aus Staatsbürger:innenschaften, Volkszählungen, Ausweisen9 und Nationalkulturen10 brauchte es einen Begriff, der all diejenigen umfasste, die aus dieser neuen nationalen Ordnung der Welt herausgestoßen werden. Erst als das kälteste aller kalten Ungeheuer, wie Nietzsche den modernen Staat nannte, die Kontrolle über die nun massenhaften Bevölkerungen übernahm, wurden die Flüchtlinge zum politischen Problem auf nationaler wie internationaler Ebene. Der Nationalstaat setzte sich erst im 20. Jahrhundert gegenüber den Imperien durch, auch wenn sich in Frankreich und England schon seit dem 17. Jahrhundert relativ starke Staaten herausgebildet hatten.11 Mit dem Zerfall des osmanischen, österreichischen und russischen Reiches und der langsam einsetzenden Dekolonisierung wurde das Paradigma des Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem des Nationalstaats überschrieben.12

Das Ideal klar abgegrenzter Staaten mit homogenen Bevölkerungen und die Härte der entstehenden bürokratischen und rassistischen Staatsmaschinerien prägten die Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts entscheidend. Der moderne Flüchtling war deshalb Nationalismusflüchtling und damit das Negativ de:r Staatsbürger:in. Er floh vor dem Ausschluss aus nationalistischen und rassistischen Staaten.

Der Zerfall der Reiche und die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten zeitigten noch eine zweite entscheidende Konsequenz: Abermillionen von Menschen waren bis Ende des 19. Jahrhunderts aus Europa geflohen und hatten in den (ehemaligen) Kolonien und an den Frontiers Zuflucht gefunden. Der Imperialismus war dementsprechend immer auch ein Ventil zum Abbau der sozialen und politischen Spannungen innerhalb Europas gewesen. Die europäischen Mutterländer nutzten die Kolonien, um ihre ökonomischen, politischen und sozialen Probleme auf die kolonialisierten Gesellschaften abzuwälzen und lagerten interne Problemlagen durch Deportationen, Landraub, Gewalt und Sklaverei in die Kolonien aus. Pauperisierte, Vagabund:innen, Prostituierte, Kleinkriminelle und all die anderen Unerwünschten waren bis ins 20. Jahrhundert regelmäßig an die Frontiers verschifft worden. Dieses imperiale System der Auslagerung von Problemen fiel genau in dem Moment in sich zusammen, in dem es zu massenhaften Vertreibungen innerhalb der zerbrechenden Reiche kam.13

Europas Flüchtlinge


Der Zerfall des osmanischen Reiches, des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn und des russischen Zarenreiches im Zuge des Ersten Weltkriegs hinterließ eine diverse Bevölkerung, die sich nur schwer in Nationalstaaten fassen ließ. Die Bevölkerungen der im Osten nach westlichem Vorbild neu gegründeten Staaten glichen einem Flickenteppich aus Minderheiten. Wurden diese Minderheiten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg noch durch Verträge geschützt und aus dem Ausland unterstützt, setzte sich in den 1920er Jahren zunehmend eine Politik der Denaturalisierung dieser Minderheiten durch: Die Staaten begannen große Teile ihrer eigenen Bevölkerung zu entrechten und entzogen ihnen schließlich die Staatsbürger:innenschaft. So wurden aus Minderheiten Staatenlose, die nirgendwo mehr Aufnahme fanden und deren Vaterländer die Internierungslager wurden, wie Arendt mit bitterer Ironie anmerkte.14

Die Minderheiten und Staatenlosen, die während der Nationalstaatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg ins Nirgendwo fielen und mittels diplomatischer Arbeit verteilt worden waren, wurden dann schon in den 1930er Jahren von den Faschismusflüchtlingen abgelöst. Zudem wurde die Masse der denaturalisierten Minderheiten durch die Bürgerkriegs- und Weltkriegsflüchtlinge ständig erneuert, sodass Europa jahrzehntelang von Millionen von Vertriebenen durchwandert wurde.

Minderheiten – Staatenlose – Jüd:innen: Arendt beschreibt in ihrer Geschichte der Zwischenkriegszeit, wie sich die Schlinge aus Rassismus und Nationalismus innerhalb weniger Jahre zuzog. Nationalistischer Ausschluss und imperialistischer Furor verengten sich schließlich im Faschismus in der Verfolgung der Jüd:innen. Sie sind die paradigmatischen Flüchtlinge für Hannah Arendt, da sie eine Gemeinschaft ohne Staat waren und damit exemplarisch für die Denaturalisierten und Staatenlosen der Moderne standen.

Nachdem die Reiche zerfallen waren, scheiterten die Nationalstaaten daran, ihre Bürger:innen zu schützen. Arendt deutet die rassistische Verfolgung und den Ausschluss von Minderheiten als beginnenden Staatszerfall, als einen Prozess der nationalistischen Selbstzerfleischung ganzer Gesellschaften. Ihr Kapitel zur Flucht aus dem Totalitarismus-Buch heißt dementsprechend »Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte«.15

Imperialismus und Nationalismus weichten die staatlichen Institutionen auf, Kriege zersplitterten sie, und schließlich wurden sie vom Faschismus zerstört. Den Gewaltausbruch bis zum Untergang der Welt, den Europa jahrhundertelang kolonial exportiert hatte, wiederholte es mit Faschismus und Weltkriegen in den Mutterländern. Rassistische Flüchtlingspolitiken verbanden den kolonialen Rassismus mit dem Antisemitismus und führten vom Imperialismus in den Faschismus. Arendt zeichnet dies anhand von drei entscheidenden modernen Macht- und Gewalttechniken nach: Bürokratie, Rassismus und Humanitarismus.

Bürokratie


Möglichkeitsbedingung für die Vertreibung von Minderheiten waren die modernen Verwaltungsapparate der Nationalstaaten. Die bürokratischen Apparate waren im 19. Jahrhundert gewaltig angewachsen, und ihre Instrumente zur Kontrolle der mittlerweile massenhaften Bevölkerungen wurden beständig verfeinert und ausgeweitet. Personalausweise wurden in Europa in vielen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg eingeführt, und Identitätskontrollen nahmen in der Zwischenkriegszeit stetig zu. Einerseits sollten die neuen Grenz- und Passregelungen die Aus- und Einreise potenziell feindlicher Personen überprüfen, andererseits sollte die Zu- und Abwanderung »dringend benötigter Menschen« reguliert werden.16 Bürokratie und Rassismus fallen zusammen im Identifizierungswahn des Ausweisens, das schnell wortwörtlich zu einer Ausweisung führen kann. In der modernen Bürokratie hängen die Rechte und damit fast die Gesamtexistenz der Staatsbürger:innen an ihrem Aufenthaltsstatus, und ein Verlust desselben ist beinahe gleichbedeutend mit einem Namens- und Identitätsverlust.17

Herkunft, Glaube und Tradition werden in der Moderne nicht durch ein universales Mensch-Sein oder durch formale Rechte ersetzt, sondern durch nationale Identitäten. Wer sich dagegen wehrt oder schlicht durchs Raster der Nationalstaatsbildung fällt, muss fliehen, wird eingesperrt oder ermordet. Die Tragik des Mensch-Werdens in Zeiten des bürokratischen Nationalstaats hat Bertolt Brecht ironisch auf den Punkt gebracht:

»Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.«18

Rassismus


Die Grausamkeit der verwalteten Ausschlüsse wurde durch eine Hochkonjunktur des Rassismus ermöglicht. Der Ausschluss und die Ermordung von Millionen von Menschen forderten zur Rechtfertigung nicht nur lose Erklärungen, sondern umfassende Ideologien, systematisch und strategisch aufgebaute Weltbilder aus rassistischen Argumentationen, deren Konsequenzen von institutionellen Machtapparaten gestützt und durchgesetzt wurden. Rassismus ist als Überbegriff zu verstehen, unter dem unterschiedliche...

Erscheint lt. Verlag 19.9.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abschiebung • Antirassismus • Asyl • Asylpolitik • Demokratie • EU-Außengrenzen • Flucht • Flüchtlingspolitik • Geflüchtete • Integration • Migration • Migrationspolitik • Rassismus • Rechtsextremismus • Refugee • Solidarität • willkommenskultur
ISBN-10 3-8031-4408-6 / 3803144086
ISBN-13 978-3-8031-4408-9 / 9783803144089
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