Durch inklusive Praxis Teilhabe von Kindern mit Behinderung ermöglichen -

Durch inklusive Praxis Teilhabe von Kindern mit Behinderung ermöglichen (eBook)

Gestaltungsfelder der Sozialen Arbeit und der Heil- und Inklusionspädagogik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
149 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8402-3 (ISBN)
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Die UN-BRK fordert ein Recht auf Teilhabe und einen Abbau institutioneller Barrieren für Menschen mit Behinderung. In diesem Sammelband werden in acht verschiedenen Textbeiträgen unterschiedliche gesellschaftsrelevante Perspektiven auf Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus sozial-, heil und inklusionspädagogischer Forschung und Praxis eröffnet, um so einen Beitrag zur Ausgestaltung inklusiver Praktiken zu leisten. Dabei werden Spannungsfelder sichtbar gemacht, Lösungsideen diskutiert und konkrete Handlungsempfehlungen formuliert.

Dr.in Bianka Troll arbeitet als Autismustherapeutin in der Praxis für Kinder- und Jugendhilfe Iris Schneider GmbH. Dr. Jürgen Schneider ist Geschäftsführer der Praxis für Kinder- und Jugendhilfe Iris Schneider GmbH. Prof. Dr. Fabian van Essen ist Professor für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an der IU Internationale Hochschule, Chair der Charity Elfrida Rathbone Camden und Gründer von inklusionINSIGHTS.

Transdisziplinäre Inklusionsarbeit – ein Schlüssel zur Realisierung von Teilhabechancen


Ute Volkmann & Gwendolin Bartz

Zusammenfassung

Im vorliegenden Beitrag werden Möglichkeiten einer transdisziplinären Inklusionsarbeit als Antwort auf Diskrepanzen zwischen dem Recht auf selbstbestimmte Teilhabe und der oftmals noch eher separierten, wenig inklusiven und eher fremdbestimmten Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe dargelegt. Die Kinder- und Jugendhilfe wird hier als komplexes Handlungsfeld beschrieben, das zwar mit den Kindern und Jugendlichen im Fokus, immer aber auch mit den familiären Systemen und somit mit Inklusionsaufgaben auf unterschiedlichen Ebenen zu tun hat. Hierbei wird auf den rechtlichen Grundlagen aufbauend der Versuch unternommen, in Anlehnung an Müllers (2013, 2014) Modell der kritischen Differenzforschung und unter Bezug auf Bogers (2017, 2019) Theorien der Inklusion eine andere Praxis zu entwerfen und die Begriffe Teilhabe, Teilgabe und Partizipation sowie das Konzept der Sozialraumorientierung in eine echte transdisziplinäre Inklusionsarbeit zu überführen. Damit sollen den genannten Begriffen tatsächliche praktische Bedeutung gegeben und Möglichkeiten der Realisierung von Teilhabe in einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe aufgezeigt werden.

1.Problemaufriss


Das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe ist ein universelles Menschenrecht (UN-Vollversammlung 1948). Die Eingliederungshilfe (EGH) soll Kinder/Jugendliche mit Beeinträchtigungen und ihre Familien in der Inanspruchnahme der gesetzlich festgelegten Leistungen zur Sozialen Teilhabe unterstützen (UN-KRK und UN-BRK). Mit der stufenweisen Einführung des Bundesteilhabegesetz (BTHG) wurden – durch das Pandemiegeschehen verzögert – neue verbindliche Rahmenbedingungen und Vorgaben zu Verfahrensregelungen für alle Rehabilitationsträger eingeführt. Dadurch ergeben sich für die Akteur:innen der EGH und die Jugendämter vielfältige Neuerungen im Prozess der Bedarfserkennung nach § 12 SGB IX und der Erhebung konkreter Teilhabebedarfe nach § 13 SGB IX.

In diesem Beitrag werden neben den Möglichkeiten der Bedarfserkennung und den Instrumenten zur Identifizierung dieser auch die Instrumente als solche und ihre jeweilige rechtliche Grundlage in den Blick genommen. Denn – so die These – Gesetze wie das BTHG oder das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (KJSG) können und sollen Spielräume für Teilhabe eröffnen und zugleich sind die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten z. T. auch aufgrund der zur Verfügung stehenden Instrumente nicht durchgängig partizipativ und teilhabeorientiert gestaltet.

Daher zeichnet der vorliegende Beitrag diese teils widersprüchlichen und oftmals einem eher traditionellen Verständnis von Hilfe entspringenden Mechanismen nach und stellt ihnen Möglichkeiten einer Inklusionsarbeit5 gegenüber, die versucht im konkreten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) Optionen aufzuzeigen, es anders zu machen: inklusiv, teilhabeorientiert, partizipativ und empowernd.

Angesichts der festgestellten Mechanismen wird eine transdisziplinäre Inklusionsarbeit skizziert, die es ermöglichen kann, jenseits disziplinärer Grenzen und Zuständigkeiten transdisziplinäre, inklusive Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Hierfür werden die Begriffe Transdisziplinarität (Mittelstraß 2007) sowie differenzkritische Inklusionsarbeit (Müller 2014, Boger 2017) dargelegt und in ihrer Relevanz für die Praxis und ihre Umsetzung diskutiert. Zudem werden Bezüge zu Dörners Begriff der Teilgabe (2018) hergestellt. Dabei gehen wir über den Bildungsbereich, vor allem gefasst als schulische Bildung, in das Sozialräumliche der Lebenswelt hinaus.

Wir vollziehen abschließend den Paradigmenwechsel vom individualisierenden Blick weg hin zur sozialräumlichen Bedingtheit von Ein- und Ausschlüssen. Dazu wird der Sozialraum als Ort transdisziplinären Handelns entfaltet. Bezugnehmend auf das bio-psycho-soziale Modell der World Health Organization WHO und das Behinderungsverständnis der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) werden Möglichkeiten des fallspezifischen und fallübergreifenden transdisziplinären Handelns erörtert. Es geht um die (Re-)Konstruktion von Teilhabe quer zu den verinselten Lebens- und Teilhabebereichen und um die Überwindung eines versäulten Hilfesystems. Auch eine Dekonstruktion hierarchischer und paternalistischer Denkfiguren im vermeintlichen Wissen darüber, was in einem normativen Sinne „gut“ für eine betroffene Person sein könne, erfolgt (Früchtel 2018, S. 331–334).

2.Das Bundesteilhabegesetz und damit verbundene Problemlagen


Im Zentrum des BTHG steht ein veränderter Behinderungsbegriff nach § 2 SGB IX, dem ein bio-psycho-soziales Modell zugrunde liegt. Der Gesetzgeber verzichtete auf eine rein medizinisch-individualisierende Sichtweise (DVfR-Stellungnahme, 2–4.; Hauck/Noftz 2018; § 2 SGB IX Rn. 18.). Behinderung wird als ein Ergebnis von Wechselwirkungen des Individuums mit seiner sozialen Umwelt betrachtet. Die ICF ist mittlerweile das anerkannte Instrument zur Erfassung komplexer Bedarfe. In der ICF werden neben der biologischen Ebene des Körpers, Möglichkeiten und Einschränkungen der Aktivitäten, aber auch soziale Wechselwirkungen und Möglichkeiten und Einschränkungen der Teilhabe erfasst und beschrieben. Gleichwohl kann auch dieses Mehrebenenmodell nicht verhindern, dass je nach Perspektive auf den einen oder anderen Bereich mehr fokussiert wird. So werden Ärzt:innen auf die körperlich-physiologische Ausgangslage anders schauen als ein:e Sozialarbeiter:in.

Was eine Möglichkeit für eine multiperspektivische Anamnese bietet, gerät in der Praxis oft in eine Schieflage, wenn diese Multiperspektivität als störend, kompliziert oder mit Deutungshoheiten ausgestattet wahrgenommen wird. In der Anwendung von Instrumenten wie der ICF-CY (der Version für Kinder und Jugendliche der ICF) können dann unterschiedliche Handlungslogiken und -ansätze, Deutungsmuster und Fachsprachen aufeinandertreffen. Dabei sollen die meist sozialarbeiterisch oder pädagogisch ausgebildeten Mitarbeiter:innen des Jugendamtes nicht nur spezifische Hilfebedarfe im Rahmen des SGB VIII, sondern auch Beeinträchtigungen der sozialen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen feststellen und diese mit umwelt- und personenbezogenen Ressourcen und Barrieren verknüpfen (vgl. jurisPK/Luthe § 2 SGB IX Rn. 85.). Besonders divergent wird es, wenn die Einschätzungen der Wechselwirkungen zwischen Beeinträchtigung und sozialer Umwelt aufgrund des Fachkräftemangels etwa von Verwaltungsfachangestellten in der Funktion der Teilhabefachplanung übernommen werden müssen.

Die an diesen Prozessen beteiligten Professionen, Berufe und Disziplinen aus Medizin, Sozialer Arbeit, EGH, Pädagogik, Verwaltung usw. unterliegen teils völlig unterschiedlichen Aufträgen und Verständnissen hinsichtlich ihres eigenen Beitrags bspw. in einem Hilfeplanprozess. Auch der Bezug zu jeweiligen Sozialgesetzbüchern sowie damit verbundenen Leistungen und Zuständigkeiten offenbart teils eine wenig teilhabeorientierte, eher separierende, einer Systemlogik unterliegende Herangehensweise an die „Fälle“.

Die Diskrepanzen werden zunehmend erkannt. Es gibt Abstimmungs- und Austauschprojekte zwischen Bund und Kommunen. Hier wird unter anderem konstatiert: „Für das Kompetenzprofil pädagogischer Arbeit sind zukünftig die Kenntnis und der Umgang mit der ICF wichtig für die Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung von Kindern und Jugendlichen. Neue Anforderungen richten sich in diesem Kontext aber nicht nur an die Fachkräfte, sondern auch an die Inklusionsfähigkeit von Einrichtungen und Diensten.“ (Dialogforum „Bund trifft kommunale Praxis“ 2018, S. 3)

Weitere Problemlagen ergeben sich durch das sogenannte Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma, das besonders deutlich wird, wenn etwa...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
ISBN-10 3-7799-8402-4 / 3779984024
ISBN-13 978-3-7799-8402-3 / 9783779984023
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