Schule und Religion (eBook)
116 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8682-9 (ISBN)
Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz lehrt und forscht am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Bereich Historische Pädagogik und Globale Bildung.
2.Der Alltag als Schule
Beginnen wir bei unseren Überlegungen „draußen“ – im Alltag, in der entgrenzten „Schule des Lebens“. Schauen wir uns um – zunächst in der Gegenwart. Wir sehen eine Vielzahl von Sachverhalten, die uns beeinflussen und die unser Lernen steuern. Engen wir unseren weiten Blick etwas ein: auf das Verhältnis von Religion und „Schule des Lebens“. Jenseits eines umgrenzten Raumes „Schule“ wird inmitten des Alltags Religion sichtbar –
-
in Form von sozialen Strukturen ritualisierter Forderungen, die eine allgemeine und letzte Anerkennung erheischen,
-
in Form von individuellen Sehnsüchten nach vermessbarem und konsumierbarem Sinn und Glück – nicht nur in einer jeweiligen Gegenwart, sondern über diese hinaus: „ewiglich“,
-
in Form von medialen Aufnahmen, Verarbeitungen und Verfremdungen zentraler Symbolik aus den großen Weltreligionen, oftmals der christlichen.
Das „Heilige“ – in Differenz zum „Unheiligen“ – hat ein vielfältiges, oftmals gesellschaftlich definiertes Gesicht. Sozialität, Individuum und medial vermittelte Tradition erscheinen als ein Dreieck, in dem Religion präsent ist und durch das unsere Alltagswahrnehmung mitbestimmt wird. Manches ist offensichtlich. Wir erkennen religiöse Motive in der Musik, im Film. Wir betrachten Werbung und staunen, welche Traditionsfragmente zwischen Schöpfungsgeschichte und Heiligem Abendmahl hier inspirierend gewirkt haben. Wir misstrauen politischen Gesten und sind fasziniert zugleich: Heil wird versprochen und – nicht zuletzt angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts – gerade als verdächtig eingeordnet. Wir sind gewollt oder ungewollt im Alltag von Religion in diesem allgemeinen Sinne umgeben: „das, woran Du Dein Herz hängest“ ist in seiner Allgemeinheit präsent und gleichzeitig mit traditioneller Symbolik durchsetzt. Religion ist gegeben. Religion gehört zu unserem Alltag und ist Teil der „Schule des Lebens“ – unser Wahrnehmen ist dieser Religion ausgesetzt, unser alltägliches Lernen am Gegebenen wird dadurch beeinflusst, wir müssen damit umgehen. Religion ist im Alltag gegeben. Jenes Dreieck Sozialität, Individuum und Tradition ist dabei Rahmen für die Informationsverarbeitung der Individuen – ein Rahmen, dessen inhaltlich-systematische Bestimmung Gegenstand unzähliger Studien war und ist. Dies soll nicht unser Problem sein.
Uns interessiert die „Schule“ des Lebens in didaktischer Hinsicht. Uns interessiert, stärker noch als die genaue inhaltliche Bestimmung des „was“, die Frage nach dem „wie“, nach den Wegen der Präsentation und Verarbeitung von Religion als Steuerung des Lernens. Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Schule“? Bislang haben wir diese Bezeichnung so verwendet, dass sie aus der Perspektive der Lernenden Sinn bekommt. Menschen lernen im Alltag – aus der Perspektive des Lernens ist verständlich, worauf die Formel „Schule des Lebens“ verweisen soll. Weil Menschen im Alltag lernen, kann dieser als „Schule“ bezeichnet werden – ein weites Symbol zwar, aber dennoch verständlich. So weit, so gut. Spannend ist jedoch nun vor allem jene bereits angedeutete Erweiterung bzw. Verschiebung der Perspektive: diese „Schule“ nicht (nur) vom Lernen, sondern (auch) vom Lehren her zu verstehen. Dann stellt sich die Frage, wer auf welche Weise lehrt. Angesichts der Buntheit des Alltags droht unbeschreibliche Ungenauigkeit. Beide Teilfragen, die nach dem „wer“ und die nach dem „auf welche Weise“, führen uns an die Grenze des Beschreibbaren. Ist diese Perspektive dann überhaupt sinnvoll? Ist der Alltag in seiner Vielfalt und Zufälligkeit nicht einfach gegeben, ist er nicht einfach vorhanden – und wir müssen uns in ihm irgendwie orientieren? Sicher, aber ist das Aussagbare gerade in Sachen Religion hier schon an sein Ende gekommen?
Gehen wir zwei Schritte zurück, um am Ende unserer Überlegungen die letztgenannten Fragen auf unsere Gegenwart hin betrachtet scheinbar offen zu lassen. Scheinbar, denn ein Spiegel, der indirekt das Eigene in seiner Selbstverständlichkeit zu hinterfragen vermag, hilft unserer Gegenwärtigkeit. Gehen wir zwei Schritte zurück, um zunächst ganz allgemein nach einer Identifizierung verschiedener Ebenen des Lehrens im Alltag zu fragen. Gehen wir dann noch einen Schritt weiter zurück, um an einem historischen Beispiel mit der damit verbundenen Distanz das Lehren im und durch den Alltag zu studieren. Konstruieren wir so einen Spiegel, der das Eigene befremdlich macht. Am Ende entsteht im besten Fall ein Zweifel an der Nichtbeschreibbarkeit der Lehrenden und deren Techniken in dem nur scheinbar unbeschreiblich entgrenzten Raum des Alltags.
* * * |
---|
Die Perspektive der Steuerung menschlichen Lernens durch den Alltag ist nun nicht originell oder gar neu. Traditionell wird sie unter dem Stichwort „Sozialisation“ zusammengefasst (vgl. Geulen 1989, Hurrelmann 1993). Dabei gibt es überaus kontroverse Vorstellungen darüber, was eigentlich unter „Sozialisation“ zu verstehen ist. Geht es von der Umwelt aus betrachtet um die Prägung des Individuums oder vom Einzelnen aus gesehen um dessen Entwicklung in eben dieser? Zugänge markieren Differenzen, nicht jedoch einander ausschließende Gegensätze. Soziologische und psychologische Zugangsweisen sind – so der breite Konsens heute – zu verschränken. Dass die Umwelt gestaltet werden kann beziehungsweise wird, ist unstrittig. Dies geschieht sowohl ‚objektiv‘ durch die Schaffung oder Veränderung von Dimensionen der Umwelt (vom Sozialrecht über die Medienkultur bis zum Städtebau) als auch ‚subjektiv‘ in der (lernenden) Auseinandersetzung des Individuums mit der Umwelt. Die Frage nach den Handlungen, mit denen Lernprozesse in und durch die Gestaltung von Umwelt absichtsvoll gesteuert werden, tritt dabei jedoch oftmals in den Hintergrund. Dies ist angesichts der angemessenen Beschreibung von Erziehung und Bildung, Lehren und Lernen unbefriedigend. Deswegen: Um der Frage nach den Lehrenden in der „Schule des Lebens“ auf die Spur zu kommen, gehen wir auf jene Konzeption zurück, an die die Sozialisationstheorien zumindest teilweise angeknüpft haben: die Theorie der funktionalen Erziehung.
Greifen wir ein zunächst beliebiges und zugleich bezeichnendes Beispiel heraus: Oswald Kroh hat in dieser Theorie-Tradition auf die (unübersehbare) Vielfalt der Einflüsse hingewiesen, die auf die Einzelnen erzieherisch wirken. Deswegen seien auch die in der Erziehung Handelnden nur schwer zu bestimmen. Vielmehr müsse man sich mit der Tatsache beschäftigen, dass „es überall Einflüsse, Erwartungen und Anforderungen gesellschaftlicher Gebilde sind, die den Prozess der Erziehung auslösen.“ (Kroh 1956, 21). In diesem Sinne sei Erziehung als „Funktion der Gesellschaft“ zu verstehen. Es müsse berücksichtigt werden, dass „der Vollzug des gesellschaftlichen Lebens selbst erzieherische Wirkungen entfaltet.“ (Kroh 1956, 22). Das Problem bei Kroh: In der Rede vom „Vollzug des gesellschaftlichen Lebens“ verschwimmt das Handeln von konkreten Personen und vor allem von deren Absichten. Sie sind irgendwie vorhanden, sind beteiligt und agieren, werden aber scheinbar von der umfassenden Wirkmächtigkeit der Umwelt zu sekundären Faktoren der Erziehung degradiert. Die Gefahr einer Apologie des je Gegebenen liegt auf der Hand. Andererseits: Die Frontstellungen bei Oswald Kroh sind klar und nachvollziehbar: Erziehung wird nicht (nur) unmittelbar und direkt von konkreten Personen durchgeführt, ist nicht (nur) personal zu beschreiben. Und in der Erziehung sind deswegen auch nicht (immer) klare Absichten zu erkennen. Krohs Folgerung lautet: Erziehung ist eben nicht (nur) intentional gesteuert, sondern wirkt (vor allem) weitgehend absichtslos, eben funktional. Dies ist jedoch nur eine mögliche Konsequenz aus seiner Analyse. Eine andere Folgerung wäre, die Nicht-Sichtbarkeit von Intentionen der Lernsteuerung kritisch zu hinterfragen, Grenzen zu ziehen zwischen dem Rekonstruierbaren und dem Unbeschreiblichen.
Von einer...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-8682-5 / 3779986825 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8682-9 / 9783779986829 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 543 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich