Algorithmische Wissenskonstruktionen und designte Vermittlungsweisen -  Denise Klinge

Algorithmische Wissenskonstruktionen und designte Vermittlungsweisen (eBook)

Pädagogische Modi Operandi digitaler Technologie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
326 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8260-9 (ISBN)
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In ihrem Werk konzipiert Denise Klinge digitale Technologien als eigenständige pädagogische Akteure und erforscht, wie diese die Interaktion gestalten. Dazu wird deren Vermittlungstätigkeit vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen, Technik- und Artefakttheorien sowie medienpädagogischer und dingtheoretischer Betrachtungen formuliert. Anhand von App-Analysen und Interviews mit Entwickler*innen wird eine ihnen eingeschriebene spezifische Pädagogik rekonstruiert. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag zur Reflexion von Lern-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen im Digitalen.

Dr. habil. Denise Klinge ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Universität der Bundeswehr München. Ab dem 1.9.2024 ist sie Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Medienbildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Medienpädagogik, Erwachsenenbildung und rekonstruktive Forschungsmethoden.

2Digitalisierte Lebenswelten und Computertechnologien im Alltagshandeln als pädagogisches Phänomen


Dieses Kapitel stellt in drei Schritten digitale Technologien als Forschungsgegenstand sowie deren Einbindung in den Alltag vor und verortet sie schließlich als pädagogisches Phänomen: Hierfür werden zunächst digitale Technologien definiert und im Folgenden die historische Entwicklung ebendieser sowie die Logiken ihrer Einbindung in das Leben nachgezeichnet. Die Gegenwartsbeschreibung eines digital vernetzten Alltags markiert das Ende dieses Kapitels. Die selbstverständliche Beteiligung digitaler Technologien am menschlichen Handeln sind zentral, da gerade über diese Selbstverständlichkeit pädagogische Modi von Technologien in den Alltag eingebettet werden.

Über die digitale Erfassung von (menschlichen) Handlungen sowie der Umwelt und über eine anschließende Rückkopplung der datenbasierten Evaluation werden Anschlusshandlungen im Sinne des Programms digitaler Technologien und der ihnen immanenten Werte provoziert. So sind etwa Rückmeldungen von Schrittzählern, der Apple Watch oder themenspezifischer Apps gesundheitspädagogisch durch spezifische Maßgaben gerahmt (vgl. zur Geschichte der Schrittzähler Krämer/Schäffer/Klinge 2020). Meditations-Apps mit Kalenderanzeige und Erinnerungsfunktion haben den Wert der regelmäßigen Meditationspraxis eingeschrieben und fordern diese von Nutzer*innen über erinnernde Pop-ups via Smartphone-Anzeige ein. Ebenso bringen Fremdsprachen-Lern-Apps das regelmäßige Üben ins Gedächtnis, bestehen aber auch auf das Abschließen von Übungseinheiten, weil sonst der beispielsweise über Punkte und Balken visualisierte ‚Fortschritt‘ verloren ginge. Nicht nur solche scheinbar offensichtlichen pädagogischen Rückmeldungen werden vorliegend als Teil des Phänomens verstanden. Auch die in Rot angezeigten, nicht gelesenen E-Mails der Nachrichten-App implizieren mit dieser Visualisierung die Erwartung einer Handlung: nämlich die Mails abzuarbeiten bzw. zu lesen. Diese verschiedenen Beispiele zeugen davon, dass digitale Technologien im weitesten Sinne pädagogisch konstruiert sein müssen, insofern sie auf das Handeln von Akteur*innen Einfluss nehmen sollen. Wie sich dieser pädagogische Modus Operandi zum einen auszeichnet und zum anderen – vor allem mithilfe der Empirie – auch im engen Sinne als pädagogisch beschreiben lässt, wird im Laufe der Arbeit nachzuzeichnen sein.

Zunächst soll jedoch zur Plausibilisierung eines pädagogischen Modus Operandi digitaler Technologien im weitesten Sinne deren Funktionalität dargelegt werden. Hierfür werden die Gegenstände Technologie, Digitalisierung, Digitalität und Algorithmen definiert und damit wird gleichzeitig der Frage nachgegangen, inwiefern digitale Technologien pädagogisch sind, auch wenn sie nicht primär für pädagogische Settings konzipiert wurden (Kap. 2.1). Darüber hinaus beruhen diese Funktionalitäten auf vorgängigen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Ideen der Wissensgenerierung sowie auf Mensch-Maschinen-Verbindungen (Kap. 2.2). So fußt beispielsweise die Idee, dass Technologien (automatisch) Handlungen ausführen können (sollen), auf neuzeitlichen Entwicklungen. Dies betrifft beispielsweise die ideengeschichtliche Entwicklung, dass Phänomene des Sozialen in ein eindeutig definiertes (Zahlen-)System überführt werden können und in logischer Fortführung im Zuge der späteren Technisierung und Mechanisierung Aufgaben und Sortierung des Sozialen auf Technik übertragen werden können.2

Die Beschäftigung mit Netzwerken und kybernetischen Regelkreisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts trug schließlich zunehmend zu der Vorstellung bei, dass Technik selbstständig auf den Menschen und die Umwelt reagieren und mit ihnen interagieren könne. In den 1960 bzw. 1970er Jahren gingen der Konstruktion des ersten Computers für den ‚Hausgebrauch‘ kulturelle Werte des Antiestablishments und des Individualismus des späteren Silicon-Valley-Milieus als Wirkungsstätte der Digitalindustrie voraus. All jene ideengeschichtlichen Spuren finden sich in den digitalen Technologien wieder.3 Dass Letztgenannte entsprechend selbst pädagogische Funktionen übernimmt bzw. dazu konzipiert wird, diese auch in pädagogischen Handlungsfeldern zu übernehmen, hat sehr frühe Anfänge und geht mit bestimmten Vorstellungen von Mensch-Technik-Verbindungen, Wissensgenerierung und Kontrolle einher.

Für eine Metaperspektive auf digitale Technologien als pädagogisches Phänomen ist darüber hinaus relevant, was diese und die mit ihnen einhergehenden Praktiken über die jeweilige Gesellschaft und damit über Sozialisationsumgebungen und -ziele dokumentiert. Was sagt es beispielsweise über eine Gesellschaft aus, wenn die Strukturierung sozialer Kommunikation und individuellen Alltagshandelns an handliche Minicomputer delegiert wird oder wenn Äußerungen des Lebens numerisch in allen Facetten erfasst werden? In entsprechenden gesellschaftsdiagnostischen Perspektiven werden Aspekte des Sozialen wie Wissen, Raum und Zeit, Körperlichkeit, Subjektivierung und Sozialität vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Digitalität diskutiert (Kap. 2.3).

2.1Technologie, Digitalisierung, Digitalität, Algorithmen


Ziel dieses Unterkapitels ist es, das Phänomen der Digitalisierung, jene Prozesse des Digitalisierens sowie die Funktionalität von Computertechnologien, ihren Sensoren und deren Einbettung in Dateninfrastrukturen zu beschreiben. Dieser kursorische Blick auf die Phänomene der Digitalisierung sozialer und kultureller Prozesse und die Digitalität von Alltagswelten zeigt, wie umfassend sämtliche Lebensbereiche von digitalen Technologien und Dateninfrastrukturen durchdrungen sind und wie selbstverständlich sie den Alltag mitgestalten, strukturieren oder bestimmte Praktiken nahelegen bzw. erst ermöglichen.

2.1.1Digitale Technologie


Der auch in dieser Arbeit verwendete Begriff Technologie verweist – im Gegensatz zum Ausdruck Technik – darauf, dass nicht nur die einzelnen Werkzeuge und Objekte gemeint sind, sondern mit den technologischen Gegenständen auch bestimmtes Wissen, Organisationen und Vernetzungen einhergehen und sie damit immer schon (sozial) eingebunden sind (vgl. Latour 1998, S. 69). Die Definition von Technologien als digital verdeutlicht zum einen, dass diese zunehmend in allen Kontexten (privat, beruflich, institutionell etc.) in großflächigen Dateninfrastrukturen agieren (vgl. Baecker 2017, S. 3). Zum anderen basieren sie auf einem computerlogischen Kern, der funktional auf digitale Daten angewiesen ist. Aufgrund dessen muss die Umwelt digitalisiert, also in für Computertechnologien lesbare Informationen, verwandelt werden. Das Analoge wird so im Rahmen der Digitalisierung umfassend durch Sensoren, Eingaben und Ähnliches erfasst, als digitale Daten sequenziert und in weiterer Verarbeitung der Daten entsprechend als „Modell[ ] von analoger Realität“ konstruiert (Schäffer 2015, S. 44). Informationen der Umwelt werden in diesem Prozess als per se bedeutungslose abstrakte Zeichen codiert bzw. sequenziert, sodass sie unabhängig von den Gegenständen, denen sie entsprechen sollen, weitergeleitet, verarbeitet, arrangiert etc. werden können (vgl. Stalder 2016, S. 100). Dieser Modus der Überbrückung der Diskrepanz von analoger physischer Realität und „modellhafter Abstraktion“ ebenjener ist eine „dem Digitalen inhärente Entwicklungslogik, die auf eine zunehmende Passung abzielt, entweder durch eine Verfeinerung oder Ausdifferenzierung der Modelle oder aber durch eine Standardisierung der Anwendungssituation“ (Allert/Asmussen/Richter 2017, S. 12).

So werden immer mehr Daten erfasst, wie dies beispielsweise die App Apple Health tut, in der Daten zu Bewegung, Ernährung, Schlaf, Herzfrequenz etc. in der Zusammenschau als Informationen über die individuelle Gesundheit der Nutzenden zusammengebracht werden. Zu diesem Zweck müssen aber auch Anwendungen standardisiert werden und damit verbundene Apps und Gadgets ständig verbunden sein, um Daten erheben zu...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8260-9 / 3779982609
ISBN-13 978-3-7799-8260-9 / 9783779982609
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