Macht Sprache (eBook)
176 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3237-6 (ISBN)
Lucy Gasser ist in Kapstadt, Südafrika aufgewachsen und lebt seit 2014 in Berlin. Sie ist Juniorprofessorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Osnabrück. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Postcolonial Studies, Kulturen des Globalen Südens und Übersetzung. Zusammen mit Anna von Rath hat sie 2019 das bilinguale online-Magazin pocolit.com gegründet. 2021 riefen die beiden promovierten Literaturwissenschaftlerinnen die Übersetzungs-App machtsprache.de ins Leben. Für ihre Arbeit wurden sie 2022 mit dem Deep Tech Award und als Kultur- und Kreativpilotinnen ausgezeichnet.
Lucy Gasser ist in Kapstadt, Südafrika aufgewachsen und lebt seit 2014 in Berlin. Sie ist Juniorprofessorin für Englische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Osnabrück. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Postcolonial Studies, Kulturen des Globalen Südens und Übersetzung. Zusammen mit Anna von Rath hat sie 2019 das bilinguale online-Magazin pocolit.com gegründet. 2021 riefen die beiden promovierten Literaturwissenschaftlerinnen die Übersetzungs-App machtsprache.de ins Leben. Für ihre Arbeit wurden sie 2022 mit dem Deep Tech Award und als Kultur- und Kreativpilotinnen ausgezeichnet. Anna von Rath lebt in Berlin, wo sie als freie Übersetzerin, Autorin und Diversity Trainerin arbeitet. Bei ihrer vielseitigen Arbeit an der Schnittstelle zwischen Literatur, Forschung und politischer Bildung liegt ihr Fokus auf Postkolonialismus, Intersektionalität und diskriminierungskritischer Sprache. Zusammen mit Lucy Gasser hat sie 2019 das bilinguale online-Magazin pocolit.com gegründet. 2021 riefen die beiden promovierten Literaturwissenschaftlerinnen die Übersetzungs-App machtsprache.de ins Leben. Für ihre Arbeit wurden sie 2022 mit dem Deep Tech Award und als Kultur- und Kreativpilotinnen ausgezeichnet.
VORWORT
Wir sitzen mit der Familie am Tisch und essen. Eins der Kinder hat die neueste Ausgabe von Jim Knopf und die Wilde 13 geschenkt bekommen. »Kein N-Wort mehr auf Lummerland«, freut sich ein*e Cousin*e.1 Ich möchte gerade ergänzen, dass stereotype Beschreibungen insgesamt reduziert wurden, als einige Verwandte rufen: »Da hat die Sprachpolizei mal wieder durchgegriffen.« Und: »Das ist doch Zensur!« Plötzlich reden alle durcheinander. Die Stimmung kippt. Ich versuche, die Argumente für sprachliche Anpassungen in Kinderbüchern in meinem Kopf zu sortieren und mich konstruktiv ins Gespräch einzubringen. Doch immer wieder fällt mir irgendwer ins Wort. Und ich falle ihnen ins Wort. Wir werden laut, reden aufeinander ein und aneinander vorbei, bis meine Eltern den Nachtisch holen und das Thema gewechselt wird. Eine gewisse Unzufriedenheit bleibt in der Luft.
Das Meeting beginnt, und ein Mann hält einen ausführlichen Monolog. Wie er spricht, trägt dazu bei, dass er ernst genommen wird. Der Bariton seiner Stimme, seine Worte und sein Akzent werden geschätzt und als richtig empfunden. Was er sagt, ist gar nicht so wichtig. Wie er es sagt, ist ausschlaggebend. Seine Selbstsicherheit lässt die Zuhörenden nicken. Was er sagt, ergibt eigentlich keinen Sinn. Es ist Quatsch. Ich sollte darauf hinweisen. Aber wie? Wenn ich spreche, fallen mir nicht immer sofort die richtigen Worte ein, und deshalb werde ich für inkompetent gehalten. Ich lächle, um meine Kritik abzumildern, was mir als Schwäche ausgelegt wird. Meine Stimme ist ein Sopran, der als schrill gilt. Ich beende meinen Satz mit einem Fragezeichen, um in den Dialog zu gehen, aber meine Intention wird als Unsicherheit gedeutet. Ich weiß, dass ich nicht ernst genommen werde. Am Ende des Meetings kommt der Mann zu demselben Schluss wie ich. Trotzdem denken alle, unser innovativer Plan käme von ihm. Ich werde beauftragt, Dokumente für ihn vorzubereiten, obwohl wir eigentlich gleichrangige Positionen haben.
Wir schreiben dieses Buch zu zweit und haben beide schon mehrfach verschiedene Versionen der zuvor beschriebenen Szenarien erlebt. In sozialen Kontexten, mit der Familie, bei der Arbeit oder mit Freund*innen, haben wir uns schon häufig in Gesprächen wiedergefunden, die in Streit ausarteten, weil die Beteiligten nicht über ein gemeinsames Vokabular für die besprochenen Themen und die dazugehörigen Konzepte verfügten. In solchen Fällen führten die Diskussionen nicht zu einer echten Auseinandersetzung über den Zusammenhang von Sprache und ungerechter Realität. Stattdessen fransten sie meistens irgendwann in diffuse und unvereinbare Richtungen aus und der Eindruck entstand, wir würden über unterschiedliche Dinge reden.
In solchen Situationen kommt es wiederholt dazu, dass uns nicht zugehört wird, wenn wir uns auf eine Art und Weise ausdrücken, die als weiblich verstanden wird. Wer ernst genommen werden möchte, muss offenbar bestimmte Kriterien erfüllen, und einige davon haben mit der Wortwahl und der Sprechweise zu tun. Diese Kriterien gelten als allgemein bekannt, auch wenn sie selten konkret benannt werden. Sie gelten als universell, auch wenn sie spezifisch sind. Manche dieser Kriterien beziehen sich auf Gender. Andere, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, auf Klasse oder Nationalität. Wir hatten beide das Privileg einer universitären Ausbildung, aber wir haben die Uni oft als befremdlichen Ort wahrgenommen, weil wir nicht mit den vorausgesetzten Verhaltensweisen inklusive eines bestimmten Vokabulars aufgewachsen sind. Wir saßen in Seminarräumen, in denen Kommiliton*innen Begriffe, Konzepte und Namen von Theoretiker*innen erwähnten, die nichts mit den Texten, die wir für die Lehrveranstaltungen lesen sollten, zu tun hatten. Manchmal, aber nicht immer, kam uns ein Name vage bekannt vor, aber wir hätten kein Zitat oder ausformuliertes Argument anbringen können. Obwohl wir vorbereitet ins Seminar kamen, schienen viele andere, passendere Voraussetzungen zu haben – oder sie waren zumindest in der Lage, so zu tun.
Für eine von uns ist Deutsch eine Zweitsprache, die oft wenig einladend ist. Termine bei Ärzt*innen oder Behörden vermitteln den Eindruck, dass Gesprächspartner*innen auf dich herabschauen, wenn du nicht »korrekt« Deutsch sprichst. Wenn du die bürokratische Sprache nicht verstehst, die dir sagt, was du tun sollst, kann die Annahme entstehen, du seist unfähig, den Instruktionen zu folgen. Manchmal reagieren Leute dann herablassend oder sprechen lauter, damit du sie besser verstehst. Beides ist unangenehm. Beides gibt dir das Gefühl, fehl am Platz zu sein.
In anderen Situationen erlebten wir Sprache als wirksames Werkzeug, mit dem wir diskriminierende Strukturen benennen können. Dafür danken wir den Denker*innen, die uns mit nützlichem Vokabular und Konzepten ausgestattet haben. Einen Begriff für etwas zu haben kann ermöglichen, ein Erlebnis nicht mehr als Einzelfall, Ausnahme oder unglücklichen Zufall zu verstehen, sondern als Teil von größeren Strukturen. Ein Beispiel dafür wäre »Manspreading«, um zu beschreiben, dass Männer manchmal überproportional viel Raum einnehmen – wenn sie viel Redezeit für sich beanspruchen, so wie in dem zuvor beschriebenen Meeting, oder physisch, wenn sie breitbeinig in einer U-Bahn sitzen und ohne Rücksicht auf die Person neben ihnen mehr als einen Sitzplatz vereinnahmen. Manspreading ist in einer patriarchalen Gesellschaft keine Seltenheit. Bevor das Phänomen benannt wurde, wirkte es auf diejenigen, denen auf diese Weise Raum genommen wurde, vielleicht wie ein schwammiges Gefühl. Vielleicht stellten sie sich selbst und das Gefühl infrage. Jetzt, wo Manspreading einen Namen hat, kann ein Gespräch darüber entstehen, wie unterschiedlich sich Menschen verschiedener Geschlechter im öffentlichen Raum bewegen (können).
Wir haben Sprache im Verlauf unseres Lebens manchmal als ausschließend empfunden. In anderen Fällen hat uns neues Vokabular gestärkt. Daraus folgte der Wunsch nach einer bewussteren Auseinandersetzung mit Sprache und Diskriminierung: Sprache kann diskriminierend sein – und mit Sprache kann diskriminiert werden. Wie unsere Auseinandersetzung mit dieser Thematik aussieht, hat auch viel mit unseren persönlichen Erfahrungen zu tun. Denn unsere Biografien, wie eigen und speziell sie auch sein mögen, fügen sich in größere historische Zusammenhänge und Machtgefüge ein.
Wir erleben weiterhin regelmäßig herausfordernde Gespräche im privaten oder beruflichen Umfeld über das Gendern oder über rassistische und klassistische Sprache. In den vergangenen Jahren fügten wir unserem Werkzeugkasten für derartige Diskussionen jedoch zahlreiche Begriffe und Konzepte hinzu. Im Rahmen verschiedener Projekte, auf die wir später noch eingehen, hatten wir die Gelegenheit, unsere Auseinandersetzung zu intensivieren und unsere Überlegungen weiterzuführen. Darauf basiert dieses Buch. Wir möchten hier einige dieser Werkzeuge für eine diskriminierungskritische Sprachpraxis vorstellen.
Die Perspektive, die wir in diesem Buch auf Fragen rund um Diskriminierungskritik teilen, ist durch unsere Positionierungen eingeschränkt. (Was wir mit Positionierung meinen und wie wir mit entsprechenden Markierungen in diesem Buch umgehen, erklären wir ausführlich im 1. Kapitel.) Daraus leiten wir die Verpflichtung ab, über unsere eigenen Positionierungen hinauszudenken, uns auf weitere Perspektiven einzulassen und von ihnen zu lernen. Dabei werden wir unweigerlich Fehler machen. Als weiße2 Frauen nehmen wir die Kritik am weißen Feminismus von feministischen Denkerinnen wie Sara Ahmed, bell hooks und Chandra Talpade Mohanty ernst, dass es Schaden anrichten kann, Diskriminierung nur unter den Aspekten zu betrachten, die uns persönlich betreffen. Deshalb bemühen wir uns, intersektional zu denken und Diskriminierungsformen mit in unsere Überlegungen einzubeziehen, von denen wir selbst nicht direkt betroffen sind. Aber wie sehr wir uns auch anstrengen, werden wir die Kluft, die zwischen angelesenem Wissen und gelebten Erfahrungen existiert, nicht überbrücken können. Unsere Bemühungen stellen einen fortlaufenden Prozess dar, der nie vollständig abgeschlossen sein wird. Das Lernen geht weiter.
Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zu einer produktiven Diskussionskultur über diskriminierungskritische Sprache zu leisten. Die Arbeit, auf diskriminierende Strukturen aufmerksam zu machen, sollte nicht nur den Menschen aufgebürdet werden, die am meisten unter ihnen leiden. Nur weil wir Frauen sind, wollen wir nicht immer die Männer in unserem Umfeld über Sexismus aufklären müssen. Nur weil eine Person mit einem Rollstuhl unterwegs ist, muss nicht sie es sein, die das Verkehrsunternehmen darauf aufmerksam macht, dass die Straßenbahn nicht barrierefrei ist. Diese Arbeit können alle Mitglieder einer Gesellschaft leisten, wenn sie diese gerechter gestalten möchten.
Uns beschäftigen die verschiedenen Dimensionen sprachlicher Diskriminierung schon seit vielen Jahren, und wir haben in den folgenden Kapiteln einige unserer wichtigsten Erkenntnisse und Strategien sowie konkrete Beispiele für einen konstruktiven Umgang mit...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2024 |
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Reihe/Serie | Reihe: Wie wir leben wollen |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Diskriminierung • Ethisch • Feminismus • Feministisch • Gender • Gerecht • inklusiv • Privilegien • sensibel • Sprechen • Verantwortung |
ISBN-10 | 3-8437-3237-X / 384373237X |
ISBN-13 | 978-3-8437-3237-6 / 9783843732376 |
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