Das Personal am Ganztag -

Das Personal am Ganztag (eBook)

Bildung, Betreuung und Erziehung in Zeiten des Fachkräftemangels - Herausforderungen für Kinder- und Jugendhilfe und Schule
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
205 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8628-7 (ISBN)
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In Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe mit Schule sind in den vergangenen Jahren ganztägige Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsarrangements entstanden, die mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung weiter etabliert werden. Das Personal mit unterschiedlichen Qualifikationen ist aufgefordert, diese Orte gemeinsam zu gestalten. Die Ausbildung und Qualifizierung des Personals wird in den kommenden Jahren nicht nur aufgrund des Fachkräftemangels eine der zentralen Weichen darstellen, einen guten Ganztag zu ermöglichen, und tangiert ebenso angrenzende Arbeitsfelder.

Graßhoff, Gunther, Dr. phil., Professor für Sozialpädagogik am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Stiftung Universität Hildesheim. Arbeitsgebiete: Kinder- und Jugendhilfe, Ganztagsschule, Migration. Sauerwein, Markus, Dr. phil. Professur für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit an der Fliedner Fachhoschschule. Arbeitsgebiete. Soziale Arbeit und Schule, Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe, Ganztagsschule, Jugend im internationalen Vergleich, Professionalisierung im Kontext Ganztagsbildung, Mixed Methods.

Das Personal am Ganztag


Expansion in Zeiten des Fachkräftemangels

Gunther Graßhoff und Markus Sauerwein

Die aktuellen Entwicklungen der Personalsituation am Ganztag, sowie in der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt, scheinen paradox: Während bestehende Personallücken in allen Handlungsfeldern beklagt und von den Trägern angemahnt werden, sind nach dem Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- (1996) und einen Kita-Platz (2013) mit dem Rechtanspruch auf eine ganztägige Betreuung im Grundschulbereich ab 2026 weitere personalintensive Großprojekte beschlossen. Expansion in Zeiten des Fachkräftemangels, wie soll das funktionieren?

Das Klagen über den Fachkräftemangel ist derzeit laut, in unterschiedlichen Kontexten aber auch mit Ambivalenzen verbunden. Ist der Ausbau der sozialpädagogischen Institutionen nicht auch Zeugnis von Anerkennung der Leistungen einer Profession der vorangegangenen Dekaden? Insgesamt verzeichnet die Kinder- und Jugendhilfe in den vergangen rund 20 Jahren ein enormes Wachstum. Im Vergleich zum Jahr 2006 haben sich die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe im Jahr 2021 verdreifacht auf über 60 Milliarden Euro und beim Personal ist innerhalb von 15 Jahren fast eine Verdoppelung festzustellen. Dieser Anstieg ist keineswegs allein auf den Ausbau an Kindertagesstätten zurückzuführen (Autorengruppe Kinder‐ und Jugendhilfestatistik, 2021; Olszenka et al., 2022; Rauschenbach et al., 2024; Volberg & Mühlmann, 2022) (s. Rauschenbach und Meinert-Teubner in diesem Band). Der soziale Sektor ist damit erheblich schneller gewachsen als andere Dienstleistungsberufe. Hinzu kommen weitere sozial- und bildungspolitische Reformen, die die Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendhilfe stärken. Dies betrifft beispielsweise die Begleitung von Schüler*innen mit Förderbedarfen, die zukünftig nicht mehr in den Aufgabenbereich des SGB IX, sondern im SGB VIII verankert werden.

Der Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe kann jedoch auch skeptisch betrachtet werden. Der (quantitative) Erfolg kann zu einer Umkehrung von Professionalisierungsbestrebungen und der Aufweichung eines Fachkräftegebots werden. Noch bis in die 1970er Jahre hinein waren „nicht selten auch aus der Verbandsarbeit hervorgegangene Autodidakten“ (Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, 1971) in leitender Position, bevor in den darauf folgenden Jahren die Professionalisierung sozialpädagogischer Berufe erfolgreich intensiviert wurde (u. a. auch mit der Einrichtung von Fachhochschulen und sozialpädagogischen Studienangeboten an den Universitäten) (Eßer, 2011). Angesichts der gegenwärtigen Situation des Mangels an fehlendem (formal) qualifizierten Personal wird (in den jeweiligen Arbeitsfeldern) nach Gestaltungswegen gesucht.

Im Bereich von ganztägigen Bildungs- und Betreuungsarrangements kann die Situation nicht nur aufgrund der Mehrebenenstruktur des Bildungssystems als unübersichtlich benannt werden. Eindeutig haben Ganztagsschule und Ganztagsbildung das Verhältnis des Bildungssystems und der Kinder- und Jugendhilfe in den vergangen 20 Jahren nachhaltig verändert. Längst sind sozialpädagogische Ansätze in Schulen etabliert (Graßhoff & Sauerwein, 2020), Schule ist zu einer multiprofessionellen Arena avanciert (Kielblock et al., 2020; Rother et al., 2021) und Ideen von Ganztagsbildung als Verbindung schul- und sozialpädagogischer Bildungsverständnisse werden breit diskutiert (Bollweg et al., 2020). Formen der Zusammenarbeit zwischen Schule und Trägern der Jugendhilfe sind nicht systematisch reflektiert und selbst innerhalb eines Bundeslandes kann der Ganztag je nach Kommune unterschiedlich gestaltet und finanziert werden (Lange & Weischenberg, 2021). Eine einheitliche Strategie, mit dem Personalmangel umzugehen, ist innerhalb der Profession und Disziplin nicht zu erkennen. So kann ein Changieren zwischen dem Festhalten am Fachkräftegebot und dem pragmatischen Aufweichen bestehender Qualifizierungsstandards beobachtet werden (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, 2020, 2022). In Bezug auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung fordert die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) nicht mehr ein Fachkräftegebot sondern „Anpassungsqualifizierungen“ für „Personal ohne einschlägige pädagogische Qualifikation, Quereinsteiger*innen oder bereits im Feld tätiges Personal ohne entsprechende Qualifikation“ (Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, 2022, S. 12). Mittlerweile bestehen unterschiedliche Möglichkeiten des Quereinstiegs und der Nachqualifikation für den Ganztag und scheinen eher der Regel als der Ausnahme zu entsprechen. Diese Fragen sind auf einer zeitlich größeren Skalierung aber nicht unbedingt neu. So könnte der Ganztag auch als ein Feld beobachtet und beschrieben werden, welches sich – ähnlich der Sozialpädagogik vor rund 100 Jahren – erst noch verfachlichen und professionalisieren muss (s. hierzu Rauschenbach und Meinert-Teubner in diesem Band).

Wird die Referenz an die Erziehungswissenschaften respektive Sozialpädagogik insgesamt angelegt, kann eine Tendenz der De-Professionalisierung beobachtet werden, die sich von den Rändern oder vergleichsweise neueren Arbeitsfeldern der Profession (wie dem Ganztag oder der Schulbegleitung) zunehmend auch in etablierte Handlungsfelder fortschreitet (s. hierzu die Beiträge in diesem Band). Zur Erinnerung: Noch vor etwa zehn Jahren wurde eine Akademisierung der Frühen Bildung gefordert und Untersuchungen zur Berufseinmündung von Kindheitspädagog*innen vorgenommen (Fuchs-Rechlin & Züchner, 2018; Bock-Famulla et al. in diesem Band), heute werden duale Studienmöglichkeiten vorangetrieben und praxisintegrierte Ausbildungen für Erzieher*innen angeboten. In bisherigen Diskursen Sozialer Arbeit war auch ehrenamtliches Personal zumindest am Rande mit adressiert (Winkler, 2021, S. 39). Neben ehrenamtlich Tätigen gibt es auch eine lange Tradition von Tagespflegepersonen (bzw. Tagesmüttern), die zumeist auch kein Hochschulstudium absolviert oder eine sozialpädagogische Ausbildung abgeschlossen haben. Eine vollständige Verfachlichung sozialpädagogischer Arbeitsfelder bestand demnach nie. Die hier skizzierten Phänomene sind jedoch in ihrer Quantität neu und so geht der Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe auch mit einer Aufweichung bisheriger professionspolitischer Standards einher.

Um diese Entwicklungen kritisch einzuordnen, braucht es insgesamt mehr Theorie und Empirie. Dequalifizierung (und auch Nicht-Qualifizierung) ist eine altbekannte Strategie, die auch mit einer Feminisierung der Arbeit einhergeht. Zumeist handelt es sich um prekäre Beschäftigte, sowohl in Bezug auf die Bezahlung als auch in Bezug auf das Anstellungsverhältnis, die eher mit Hilfsarbeit und Bediensteten gleichzusetzten sind, die eine Reservearmee bilden (Haraway, 1995). Ob diese in der feministischen Theorie diskutierten und kritisierten Analysen einer Entwertung weiblicher Arbeit als reproduktions- und Sorgearbeit (siehe z. B. Fraser, 2023; Rulffes, 2021) auch auf den Ganztag und sozialpädagogische Tätigkeiten insgesamt zutrifft, kann über die hier versammelten Beiträge nicht eindeutig beantwortet werden. Deutlich ist aber nach wie vor, dass viele der hier beschriebenen Tätigkeiten (sei es Ganztag oder das Geschäft der Tagespflegepersonen) durchaus als prekäre Arbeit verstanden werden kann. Dies zeigen unter anderem Ergebnisse des Laktat-Projektes: Nicht-Qualifizierte sind vornehmlich weiblich, sind auf befristeten Stellen angestellt und erfahren für ihre Tätigkeiten wenig Wertschätzung.

Die bereits erwähnten bildungs- und sozialpolitischen Reformen betreffen die Kinder- und Jugendhilfe keineswegs exklusiv. Sie finden unter den Vorzeichen eines bereits bestehenden Fachkräftemangels im Bildungswesen insgesamt statt. Ein konstruktiver Umgang mit der Herausforderung, qualifiziertes Personal für den Ganztag auszubilden, zu qualifizieren oder „Quereinstiege“ zu ermöglichen, trifft auf ähnliche Diskussionen um den Lehrkräfte- und Erzieher*innen-Mangel. Flächendeckende Lösungen sind nicht in Sicht und die vermeintlichen „politischen Lösungen“ können wiederkehrend auch als Herausforderung für die erziehungswissenschaftlichen Professionen gelesen werden.

Neben Fragestellungen des Fachkräftemangels, der Quereinsteiger*innen und der Nicht-Qualifizierten und den „Wirkungen“ oder Konsequenzen hierauf, kann auch eine gesellschaftskritische Positionierung eingenommen werden....

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
ISBN-10 3-7799-8628-0 / 3779986280
ISBN-13 978-3-7799-8628-7 / 9783779986287
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