Zeitzeichen. Einblicke in den Rhythmus der Gesellschaft (eBook)
231 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-8307-1 (ISBN)
Michael Jäckel, Jg. 1959, Dr. phil., ist Professor für Soziologie an der Universität Trier. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Konsumsoziologie, die Mediensoziologie und die Soziologie der Zeit.
2.
„Ja, wenn man ihr aufpaßt, der Zeit …“ – dann kommen erstaunliche Dinge zutage, die das Buch Zeitzeichen analysiert und einordnet: z. B. durststillende Pillen, die Zeit sparen sollen oder At your Service-Agenturen, an die zeitintensive Erledigungen delegiert werden können. Eine Gesellschaft ohne Zeit produziert unentwegt Hinweise auf ihre Existenz: schnelles oder langsames Essen, nach Diktat verreist, ewig jung. Der Satz aus Thomas Manns „Zauberberg“ ist zugleich auch die Überschrift des dritten Kapitels, das für Zeitmessung und Zeitwahrnehmung sensibilisieren soll – auch in methodischer Hinsicht.
Das Buch ist ein Beitrag zur Soziologie der Zeit und illustriert an alltäglichen Phänomenen den Umgang mit einer zumeist als knapp erlebten Ressource. Ob der Wandel von Arbeit und Freizeit, das Tempo des Lebens, veränderte Perspektiven auf Jugend und Alter oder das Erleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: als Leitfaden dient keine in sich abgeschlossene Theorie. Es geht um Zeitsignale, um ein Puzzle von vermeintlich disparaten Dingen, die sich einstellen, weil Kalender geführt werden, Menschen miteinander konkurrieren oder gemeinsam Ziele erreichen wollen. Fallbeispiele und Anekdoten runden die Darstellung ab.
„Es gibt niemanden in meiner Umgebung, mit dem ich darüber reden kann, dass es Zeit eigentlich nicht gibt. [Ich] … frage mich oft, ob nicht alles gleichzeitig passiert und nur durch unsere Art zu leben in ein Nacheinander zerfällt.“ Diese Zeilen stammen aus Edgar Selges Roman „Hast du uns endlich gefunden“ (2021, S. 191). Die ersten Seiten von Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ haben den bekannten Charakterdarsteller zu diesen Gedanken inspiriert. Prousts Werk umfasst sieben Bände über eine (verlorene) Kindheit und Jugend. Die Faszination für diesen Roman zeigt, warum etwas Vergängliches, etwas, das sich für spätere Anlässe nicht in Pakete speichern lässt und bei Bedarf zum Abruf bereitsteht, ein Thema von öffentlichem Interesse ist. Auf annähernd 4200 Seiten erstreckt sich diese Suche.
Die Kunst, so hat es Manfred Hennen einmal präzise formuliert, besteht darin, angesichts der Endlichkeit des Lebens sich selbst bei Laune zu halten (vgl. Hennen 1990, S. 271). Wohl auch ein Grund, dass uns die Idee der Zeitdiebe, die Michael Ende in „Momo“ entfaltete, so begeistert – wie überhaupt das Unwahrscheinliche ebenso Chance auf große Aufmerksamkeit genießt wie das Reelle. Es gibt, so Robert Musil, Menschen mit einem ausgeprägten Möglichkeitssinn, die nicht nur „Hier ist dies oder das geschehen […]“ sagen, sondern auch „Hier könnte, sollte oder müßte geschehen […]“ von sich geben (1932 [zuerst 1930], S. 16). Die neuere Religionssoziologie spricht von einer Re-Mystifizierung, von einem Bedürfnis nach Verzauberung, weil uns die Entzauberung der Welt mit ihrer kühlen Rationalität emotional eben auch erkalten lässt.
Am meisten ärgert man sich wohl über das Tempo, das im Zuge einer sich ausdehnenden funktionalen Differenzierung den Einzelnen in den Sog einer arbeitsteiligen Gesellschaft zieht, die manchem nicht einmal mehr die Zeit zu lassen scheint, Erfolge oder Zufriedenheit zu genießen. Jene, die das Glück nicht auf ihrer Seite hatten, sagen wiederum gelegentlich: „Dann fangen wir noch einmal ganz von vorne an.“ Aber sie wissen dabei auch, dass sie Vergangenes nicht ungeschehen machen können. „Man fängt nicht noch mal von vorn an. Darum geht es. Jeder Schritt, den man tut, ist für immer. Man kann ihn nicht ungeschehen machen. Auch nicht teilweise. […] Dein Leben besteht aus den Tagen, aus denen es besteht. Aus nichts anderem. Du glaubst vielleicht, du könntest weglaufen, deinen Namen ändern und was weiß ich noch alles. Nochmal von vorn anfangen. Und dann wachst du eines Morgens auf und starrst die Decke an, und rate mal, wer da liegt?“ (McCarthy 2009, S. 207), lässt Cormac McCarthy den Hobbyjäger Llewellyn Moss in seinem Roman „Kein Land für alte Männer“ sagen.
Dass gleich zu Beginn dieses Buches über die Zeit so häufig die Literatur bemüht wird, hat seinen guten Grund. Zeit war, ist und wird Motiv der Schriftsteller bleiben. Sie gibt unserem Alltag eine Struktur und ist deshalb soziale Zeit, obwohl sie selbstverständlich immer individuell erlebt wird. Wenn jemand zu uns sagt: „Und bringen Sie etwas Zeit mit!“, dann packen wir zwar nichts ein, aber wir wissen, dass das vor uns liegende nicht auf die Schnelle erledigt werden kann. Wenn wir dagegen ein Fast-Food-Restaurant betreten, gehen wir von kurzen Wartezeiten aus. Warteschlangen in einer solchen Einrichtung sind eigentlich ein Anachronismus. Nur die beständige Hektik des Verkaufspersonals gibt uns die Gewissheit, dass es dieses Mal nicht um „Wait to be seated“ geht.
Bereits während der Corona-Pandemie entstand das Bedürfnis, dem Buch aus dem Jahr 2012 neue Beobachtungen hinzuzufügen. Auch die Regulierung unseres Alltags durch eine wachsende Zahl elektronischer Medien, die Zunahme des selbst- und fremderzeugten Kommunikationsaufkommens, die tägliche Wiederkehr eines Rekordwahns, die dem Erleben und Verarbeiten der vielen Eindrücke die Stopp-Funktion zu entziehen scheint, sind ein Grund dafür. Daher auch das Erstaunen über die lange Stilllegung oder Umgestaltung von Institutionen, die dem Alltag wie selbstverständlich eine Ordnung gegeben haben. Was man aus Erzählungen über eine unberechenbare Zukunft kannte und dystopisch nannte, war plötzlich sehr nah. Ein Meister dieses Genre, Don DeLillo, hatte seinen Kurzroman „The Silence“ (2020) kurz vor der Pandemie abgeschlossen. Aber die Geschichte über den Totalausfall aller Systeme beschreibt eindrücklich den Bruch, den ein technologisches Koma auslöst. Für den britischen Guardian war es „[a]n apocalyptic novel of our times.“
Dies ist also ein Buch über den Rhythmus der Gesellschaft. Die Idee dazu ist bereits vor langer Zeit entstanden. Ich kann heute nicht mehr sagen, wann ich das Buch von Sten Nadolny gelesen habe. Aber die Geschichte des Kapitäns John Franklin, der zu den großen Entdeckern der Vergangenheit gehört (vgl. Saller 2006), hat mein Interesse an diesem Thema geweckt. Es ist ein Plädoyer für den behutsamen Umgang mit sich selbst. Bevor in den folgenden Kapiteln verschiedene Zeitzeichen diskutiert werden, möchte ich auf einige Beispiele aus „Die Entdeckung der Langsamkeit“ hinweisen.
Auf seinen Wanderschaften durch London sah John Franklin etwas, das heute als kuriose Meldung in „Breaking News“ einen Platz finden könnte: „Am Nachmittag sah er zu, wie drei betrunkene Ruderer mit den Strömungen unter der London Bridge nicht fertig wurden. Das Boot schlug gegen den Pfeiler und zerbrach, alle ertranken. Plötzlich hatten da die Leute Zeit zum Schauen! Die Zeitknappheit war nichts als eine Mode, hier der Beweis.“ (Nadolny 1987, S. 268) Offenbar kannte bereits das frühe 19. Jahrhundert – und ohne Zweifel noch frühere Jahrhunderte – den Zeitspeicher „Aufmerksamkeit“. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit ist somit auch ein Mechanismus zur Allokation von Zeitbudgets. An einem Nachmittag unterhielt sich Franklin mit der Witwe eines Predigers, die für eine Zeitung warb, in der die Wahrheit stünde. Sein Fazit aus dem Gespräch lautete: „Die Wahrheit, dachte er. Das war das Entscheidende. Bei einer wahrheitsliebenden Zeitung spielte es keine Rolle, ob der Redakteur etwas langsam war. Verdienen konnte er damit zwar auch nichts … ‚Gut‘, sagte er.“ (ebenda, S. 178) Auf der Suche nach Wahrheit ist Langsamkeit heute eine eher seltene Tugend. Nachdem die Menschen erst einmal die Erwartung, dass es ständig neue Nachrichten gibt, internalisiert hatten, konnte eben – oder musste – das Vorläufige auf Dauer den Status einer Nachricht erhalten. Und wenn es nichts zu berichten gibt, dann hat man noch Reste aus der Vergangenheit, die allemal als Lückenfüller dienen können.
Aber in jedem System gibt es schnelle und langsame Elemente. Bevor der US-amerikanische Ingenieur Frederick Winslow Taylor begann, die Menschen bei ihren Aktivitäten zu messen, um sie anschließend optimal steuern zu können,...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7799-8307-9 / 3779983079 |
ISBN-13 | 978-3-7799-8307-1 / 9783779983071 |
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