Die strategische Falle -  Georg Auernheimer

Die strategische Falle (eBook)

Die Ukraine im Weltordnungskrieg
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
191 Seiten
Papyrossa Verlag
978-3-89438-904-8 (ISBN)
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Wo liegen die Ursachen des Ukrainekrieges? Inwieweit ist er ein Stellvertreterkrieg? Was hat er mit jener Dominanz über Osteuropa zu tun, nach der der Westen nach Auflösung der Sowjetunion strebte? Georg Auernheimer skizziert zunächst die internationalen Beziehungen seit 1991 und legt einen besonderen Fokus auf die Jahre nach dem »Euro-Maidan« (2014) als unmittelbare Vorgeschichte des russischen Angriffs. Die Förderung des ­ukrainischen Nationalismus, so eine zentrale These, bot sich den USA als strategische Falle, um Russland aus der Reserve zu locken. Die Missachtung des Minsker Abkommens und die Sabotage der Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 hätten mangelnden Willen zur Verständigung gezeigt. Das Buch skizziert die humanitären Kriegsfolgen und Verheerungen von Teilen des Landes, um daraufhin die globalen Langzeitfolgen des Krieges in den Blick zu nehmen: so die Hochrüstung mit entsprechender Militarisierung der Gesellschaften; das gegenseitige Misstrauen, das die Mechanismen internationaler Verständigung untergräbt; die Kooperation, die gefordert wäre, um eine ökologische Katastrophe noch abzuwenden.

Georg Auernheimer, Prof. em. Dr. phil., *1939, lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln. Als Dozent und Publizist befasst er sich seit vielen Jahren mit der neoliberal ausgerichteten Globalisierung und ihren Folgen.

Georg Auernheimer, Prof. em. Dr. phil., *1939, lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln. Als Dozent und Publizist befasst er sich seit vielen Jahren mit der neoliberal ausgerichteten Globalisierung und ihren Folgen.

1.
Der Kampf um die neue Weltordnung


Vorgeschichte zum Krieg (I)

Die große Transformation von der Sowjetunion zur Russischen Föderation


Die Sowjetrepubliken, die in der Sowjetunion, im Groben dem territorialen Erbe des Zarenreichs, vereint waren, hatten das verbriefte Recht auf Austritt aus der Union, was auf Lenin zurückging. Dieses Recht nahmen die baltischen Staaten und Armenien schon 1990 wahr. Im Dezember 1991 gründeten die Staatschefs von Russland, Belarus und der Ukraine, die ebenfalls schon ihre Eigenständigkeit erklärt hatten, in einer Staatsdatscha bei Belowesch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), womit die Sowjetunion als völkerrechtliches Subjekt beerdigt wurde (u. a. mdr.de, 1.9.2022). Die übereilte Auflösung der Union ohne die Vereinbarung von Übergangsfristen und Stufenplänen und ohne die rechtliche Regelung von Minderheitenfragen war folgenreich, weil wirtschaftliche Stränge gekappt wurden und die Nationalitätenfrage später in mehreren Nachfolgestaaten zum Konfliktstoff wurde. Gorbatschow hatte ursprünglich noch eine Übergangsfrist von fünf Jahren nach Austritt aus der Union vorgesehen und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum empfohlen (Krone-Schmalz 2015, 57). Nun aber fanden sich unter anderem etwa 25 Millionen ethnische Russen oder Menschen, die sich als Russen verstanden, plötzlich außerhalb der Russischen Föderation wieder, zum Beispiel rund 1,8 Millionen auf der Krim, die 1991 innerhalb der Ukraine einen Autonomiestatus erhielt.

Eine überlegte, dem Gemeinwohl verpflichtete Politik bestimmte auch die wirtschaftspolitische Transformation nicht. Der Übergang von der Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft wurde in allen ehemaligen Sowjetrepubliken von westlichen Beratern und Think Tanks mitgestaltet, wobei die US-amerikanischen Berater einen strikt marktradikalen Kurs vertraten, wie Putin 2015 im Interview Oliver Stone erzählte (Stone 2018, 44). Auch IWF und Weltbank nahmen starken Einfluss auf die Transformation, noch vor der Privatisierung zum Beispiel auf die staatliche Preisgestaltung. So sollte der Staat den Landwirtschaftsbetrieben etwa weniger für Getreide bezahlen (Krone-Schmalz 2015, 62). Zur Agenda von IWF und Weltbank gehörte vor allem die Privatisierung der Staatsbetriebe, und zwar ungeachtet volkswirtschaftlicher Schlüsselfunktionen. Diese wurden auf verschiedene Weise sehr schnell in Privateigentum überführt (Hofbauer 2014). Sie wurden verkauft oder versteigert, häufig an Führungskräfte aus dem eigenen Haus (sog. Insider-Privatisierung). Allein in Russland wurden 14.000 Unternehmen versteigert (Jaitner 2023, 72). »Industrielle Herzstücke wurden in aller Regel von staatlichen Agenturen in einem Bieterverfahren an westliche Konkurrenten oder andere Kapitalgesellschaften verkauft« (Hofbauer 2014, 45). Das große Angebot führte zu einem Unterbietungswettbewerb. Die teilweise auch ausgegebenen Anteilsscheine oder Volksaktien waren bald im Besitz von kapitalkräftigen Käufern oder Investmentfonds. In der Petrogasbranche erwarben findige Jungunternehmer Unternehmensanteile im Tausch gegen Kredite an den finanzschwachen Staat.

Die Methoden der Privatisierung waren nach dem Osteuropa-Experten Hannes Hofbauer oft von »mafiösem Charakter« (2014, 46). Selbst Joseph Stiglitz, ehemaliger Chef-Volkswirt der Weltbank, hat in Bezug auf Russland von »Raubritter-Privatisierung« gesprochen (NZZ, 30.11.2002). Er kritisiert, die Transformation sei »robber barons« überlassen worden (1999, 42). Die Destruktion der politischen Ordnung, die mit dem Wechsel der Wirtschaftsform einherging, führte zu anarchischen Verhältnissen. Ein »völliger Rückzug des Staates aus der Ökonomie« wie speziell in Russland unter Jelzin (Jaitner 2014, 85) verleitete zu Diebstahl und Raub. Es fehlte der Rahmen für politische Aushandlungsprozesse, staatliche Kontrollmechanismen waren vor allem im Russland der 1990er Jahre außer Kraft gesetzt. Hans-Henning Schröder registrierte in einem Kommentar zu den Ereignissen des Jahres 1993 eine »Paralyse der politischen Führung« (1993, 1303). »Ministerien, Zentralbehörden und Einflussgruppen verschiedener Couleur verfolgen unabhängig voneinander ihre Eigeninteressen« (1304). Russische Oligarchen, die nur ihre persönliche Bereicherung im Sinn hatten, konnten »politische Schlüsselpositionen« besetzen (Jaitner 2014, 87). Michail Chodorkowski zum Beispiel, der den Erdölförderungs- und Petrochemiekonzern Jukos an sich gerissen hatte, wurde 1993 stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gab es »keine Trennung mehr zwischen Oligarchie und Politik« (ebd.).

Mit dem Zusammenbruch des planwirtschaftlichen Systems kam es zu einer Hyperinflation, die die Sparguthaben der breiten Masse entwertete. In allen früheren RGW-Staaten – also in Staaten, die einst dem sowjetisch geführten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe angehört hatten – sank die Produktion von Industriegütern je nach Land bis 1993 um 40 bis 70 Prozent (Hofbauer 2014, 43). Es kam zur allgemeinen Verelendung, während gleichzeitig eine dort zuvor unbekannte soziale Ungleichheit entstand. Das galt auch für die Ukraine. Für die Oligarchen in Russland, die vor allem die Öl- und Gasreserven und andere Rohstoffe zur Quelle ihres Reichtums machten, war der abgewertete Rubel kein Geschäftshindernis. Im Gegenteil, die Konvertibilität mit dem Dollar war vorteilhaft für den Export. Die russische Wirtschaft stützte sich zeitweise fast nur noch auf den Export von Öl, Gas und Kohle, so dass sie wie die Ökonomie vieler Entwicklungsländer ins Stadium des Extraktivismus zurückfiel (Jaitner 2014, 88). Ende der 1990er Jahre war die Armut in den Ländern Osteuropas, gemessen an internationalen Kriterien, von vier Prozent auf 45 Prozent angestiegen (Stiglitz 1999).

Wladimir Putin, der im August 1999 von Jelzin zum Nachfolger gekürt und von der Duma im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt, dann im Dezember 1999 zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt wurde, leitete einen radikalen Kurswechsel ein, zähmte die politische Macht der Oligarchen und stärkte die Zentralgewalt. Das Vermögen von Oligarchen, die sich eindeutig illegal bereichert hatten, wurde beschlagnahmt. Sie setzten sich vor allem nach Großbritannien und Israel ab (Baud 2023, 205). Putin schuf Ansätze einer Sozialpolitik, unter anderem mit einem »Fonds für nationale Wohlfahrt«. Zunächst einmal sorgte er im Jahr 2000 nach seinem Amtsantritt für die pünktliche Auszahlung von Löhnen und Gehältern, die damals nicht selbstverständlich war (Krone-Schmalz 2015, 80). Die Armutsrate wurde bis 2015 um zwei Drittel gesenkt und das Durchschnittseinkommen angehoben. Dieser Linie verdankt Putin bis heute ein hohes Ansehen und hohe Zustimmungswerte in der Gesellschaft (Baab 2023, 51). Er baute außerdem demokratische Elemente in das politische System ein, das er zu einem parlamentarischen System transformierte, in dem er sich auf eine Regierungspartei stützt (Schulze 2020, 35). Bei Jelzin und seinen Anhängern hatte nach Jaitner »ein tiefes Misstrauen gegen jegliche parlamentarische Initiative und Unabhängigkeit« bestanden (2023, 87). Für den im Westen als Demokraten gefeierten Jelzin war die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive eine »zerstörerische Doppelherrschaft« gewesen (89).

Der Politikwissenschaftler Dieter Segert (2023) unterscheidet für die Russische Föderation folgende Phasen der Systemtransformation: Die Formierung einer kapitalistischen Klasse setzt er schon in der Zeit der Perestroika an. Ihr folgte die Phase der wirtschaftlichen Depression im Übergang zur Marktwirtschaft mit einem massiven Rückgang des Bruttosozialprodukts aufgrund der Deindustrialisierung – das Produktionsniveau von 1989 sollte erst um 2007 wieder erreicht werden – mit Massenarmut, sozialer Verunsicherung, Armut der öffentlichen Hand und »institutionalisierter Gesetzlosigkeit«. Eine Folge waren sinkende Geburtenraten und Emigration. Auf dem Land sicherte allein die Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft das Überleben. Ab dem Jahr 2000 erholte sich in Phase drei die Wirtschaft nach der Entmachtung der Oligarchen und einer Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen, was auch die Stärkung der Funktion der Zentralbank verlangte. Die Erdöl- und Erdgasindustrie wurde wieder verstaatlicht. Der Staat ist an Schlüsselunternehmen des Industrie- und Finanzsektors beteiligt. Öffentliche Institute halten zwei Drittel der Bankvermögen, was wiederum die Regulationsfunktion stärkt. Die öffentlichen Ausgaben haben wieder mehr wirtschaftliches Gewicht erhalten. Die Einkommen der Bevölkerung der Russischen Föderation hängen bis zur Hälfte vom Staat und staatlichen Transfers ab (Vercueil 2023, 46). Der Staat nimmt wieder stärker seine...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Europa • Europäische Union • Geopolitik • Konflikt • Korruption • Krieg • Krise • Medien • Militär • NATO • Öffentliche Meinung • Oligarchen • Russland • Selenskyj • Ukraine • Umweltzerstörung • USA • Waffenlieferungen • wolodymyr
ISBN-10 3-89438-904-4 / 3894389044
ISBN-13 978-3-89438-904-8 / 9783894389048
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