Umverteilung des Reichtums (eBook)
223 Seiten
Papyrossa Verlag
978-3-89438-900-0 (ISBN)
Christoph Butterwegge, Prof. Dr., lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und kandidierte 2017 für das Amt des Bundespräsidenten.
Christoph Butterwegge, Prof. Dr., lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und kandidierte 2017 für das Amt des Bundespräsidenten.
1.
Warum sozioökonomische Ungleichheit existiert
In der breiten Öffentlichkeit findet bisher zu wenig Beachtung, dass die sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Menschheit ist, beschwört sie doch ökonomische Krisen und ökologische Katastrophen, aber auch inner- wie zwischenstaatliche Konflikte, Kriege und Bürgerkriege herauf, die wiederum große Flüchtlingsströme nach sich ziehen. Sofern die Kluft zwischen Arm und Reich – sichtbarster Ausdruck einer systemisch bedingten Ungleichheit – von der Ökonomie und der Soziologie als den beiden für das besagte Phänomen in erster Linie »zuständigen« Wissenschaften überhaupt erkannt und für problematisch erachtet wird, gelangen deren Vertreter/innen zu ganz unterschiedlichen Erklärungsansätzen, von denen die meisten unzutreffend, irreführend und eher apologetischer Natur sind.
Weil die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland nicht monokausal zu begreifen ist, sollte man zwischen dem gesellschaftlichen Entstehungshintergrund, welcher die seit Langem existierenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen umfasst, einerseits sowie aktuellen, die bestehenden Polarisierungstendenzen noch verstärkenden, aber leichter beeinflussbaren Faktoren andererseits unterscheiden. Zunächst geht es deshalb um die strukturellen Grundlagen der Ungleichheit, bevor wir uns jenen Krisenentwicklungen und politischen (Fehl-)Entscheidungen zuwenden, die sie in jüngster Zeit weiter verschärft haben und wohl auch künftig verschärfen, sofern keine starke Gegenbewegung entsteht.
1.1
Gesellschaftliche Entstehungsursachen der Ungleichheit
Differenzieren lässt sich zwischen primären und sekundären Ursachen der sozialen Ungleichheit. Während die primären Ursachen in den Wirtschaftsstrukturen, Produktions- bzw. Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen einer Gesellschaft wurzeln, sind die sekundären Ursachen in den politisch-ideologischen bzw. soziokulturellen Rahmenbedingungen und den jeweiligen Machtkonstellationen zu suchen. »So ist die gegenwärtige Privatisierung bestimmter öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen keineswegs irgendwelchen technologisch-ökonomischen Erfordernissen geschuldet, sondern folgt politisch artikulierten und durchgesetzten Interessen der Privatwirtschaft, die sich ideologisch indoktrinierte Politiker zu Eigen machen.«1
Um das Ausmaß der sozioökonomischen Ungleichheit einschätzen sowie ihre negativen Folgen für das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik verstehen zu können, muss man sowohl die spezifischen Wesenszüge des Gegenwartskapitalismus wie auch die Wirkung von parlamentarischen und Regierungsentscheidungen auf die gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse berücksichtigen. Denn für die Primärverteilung der Einkommen sind im Wesentlichen die Produktions- bzw. Eigentumsverhältnisse, die Marktkräfte und die Verteilungsmechanismen der Gesellschaft, für die Sekundärverteilung in erster Linie der Sozial- und der Steuerstaat verantwortlich, die Einkommensüberschüsse durch Erhebung von Abgaben, Beiträgen, Gebühren und Steuern abschöpfen, geringe Einkommen hingegen mittels bedarfsorientierter Transferleistungen aufstocken können.
Die in New York lehrende Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor nennt zwei Gründe, die es für sie notwendig machen, analytisch bis zu den Wurzeln der sozialen Ungleichheit vorzudringen und dabei nicht an der erscheinenden Oberfläche zu verharren: »Die ersten Ursachen der Ungleichheit aufzudecken ist nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil ihr Anstieg das soziale Gefüge unserer demokratischen Systeme bedroht, sondern auch, weil herkömmliche Formen der Umverteilung durch Steuern ihren Biss weitgehend verloren haben.«2
Philosophen, Soziologen und Ökonomen, darunter weltberühmte Geistesgrößen, denken seit Jahrhunderten darüber nach, wie und warum es bereits vor langer Zeit zu einer tiefgreifenden sozialen Spaltung von Gesellschaften gekommen ist. So beteiligte sich Jean-Jacques Rousseau an einem 1753/54 von der Académie de Dijon veranstalteten Preisausschreiben, bei dem zwei Fragen gestellt wurden. Die eine bezog sich auf den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und die andere darauf, ob diese »durch das natürliche Gesetz autorisiert« werde. Der französische Philosoph, Literat und Pädagoge gewann zwar nicht die ausgelobte Goldmedaille im Wert von 30 Pistolen, gab im Einleitungssatz des zweiten Teils seines »Diskurses über die Ungleichheit« dazu jedoch eine ohne Übertreibung als klassisch zu bezeichnende Antwort: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‹«3
Niemand hat die negativen Wirkungen des Privateigentums, ausgehend von einem (idealen oder idealisierten) Naturzustand der sozialen Gleichheit aller Menschen, jemals prägnanter charakterisiert als Rousseau, einer der geistigen Väter der Großen Französischen Revolution von 1789. Er sah in dieser ersten Landnahme der Geschichte das soziale Grundübel, aus dem alle weiteren Probleme, Restriktionen und Rückschläge in der Entwicklung des Menschengeschlechts erwuchsen. Durch das private Grundeigentum waren seiner Meinung nach fundamentale Interessengegensätze, damit aber auch innergesellschaftliche Frontstellungen und schwere Konflikte zwischen Personengruppen entstanden, die vorher ohne Streit zusammengelebt hatten. »Konkurrenz und Rivalität auf der einen Seite, Gegensatz der Interessen auf der anderen und stets das versteckte Verlangen, seinen Profit auf Kosten anderer zu machen; alle diese Übel sind die erste Wirkung des Eigentums und das untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit.«4
Um die soziale Ungleichheit zu rechtfertigen, reicht das Naturrecht laut Rousseau nicht aus. Vielmehr konstatierte er, »dass die Ungleichheit, die im Naturzustand nahezu null ist, ihre Macht und ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Fähigkeiten und den Fortschritten des menschlichen Geistes bezieht und durch die Etablierung des Eigentums und der Gesetze schließlich dauerhaft und legitim wird.«5 Klar war für Rousseau, was der US-amerikanische Philosoph Frederick Neuhouser so formuliert: »Das Naturgesetz liefert keine Rechtfertigung für die große Mehrheit sozialer Ungleichheiten, von denen die uns bekannten Gesellschaften gekennzeichnet sind.«6
Rousseau hielt die Einkommens- und Vermögensverteilung für das zentrale Kriterium zur Beurteilung des Ausmaßes der sozialen Inegalität bzw. Egalität und daher den Gegensatz zwischen Arm und Reich für die ausschlaggebende Scheidelinie in jeder auf privatem Eigentum basierenden Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass Rousseau im Ancien Régime lebte, also nicht in einer modernen Industriegesellschaft, sondern in einer feudalen Ständeordnung, war seine Konzentration auf den (Groß-)Grundbesitz als Quelle des persönlichen Reichtums und der sozioökonomischen Ungleichheit nur logisch. Damals war schließlich reich, wer möglichst viel Land besaß und es von lehnspflichtigen Vasallen bestellen lassen, verpachten oder verkaufen konnte. Dies galt hauptsächlich für Kaiser, Könige und (von ihnen ernannte) Adlige, d. h. eine in jeder Hinsicht privilegierte und sozial exklusive Personengruppe. Von dieser war die übergroße Mehrheit der Bevölkerung materiell abhängig, bis das aus Kaufleuten, Privatbankiers und Industrieunternehmern bestehende Besitzbürgertum für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte die politökonomische Führungsrolle übernahm.
Übrigens vermutet der israelische Historiker Yuval Noah Harari, dass es Daten sind, die im 21. Jahrhundert den Grundbesitz sowie Fabriken und Maschinen als wichtigstes Vermögen ablösen werden, woraus er schlussfolgert, dass der Datenstrom politisch kontrolliert werden muss: »Wenn sich Daten in zu wenigen Händen konzentrieren, dann wird sich die Menschheit in unterschiedliche Arten aufspalten.«7 Harari befürchtet, dass durch die Verschmelzung von Menschen und Maschinen eine Machtkonzentration von apokalyptischen Ausmaßen entstehen kann, verbunden mit der Fähigkeit zur totalen Manipulation des Lebens. »Wenn wir verhindern wollen,...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut • Eigentum • Einkommen • Erbschaft • Gerechtigkeit • Gesellschaft • Hyperreiche • Ideologie • Neoliberalismus • Reichtum • Rückverteilung • Sozialstaat • Steuern • Steuerpolitik • Steuersystem • Umverteilung • Ungleichheit • Unternehmen • Wirtschaftspolitik |
ISBN-10 | 3-89438-900-1 / 3894389001 |
ISBN-13 | 978-3-89438-900-0 / 9783894389000 |
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