Technofeudalismus (eBook)

Was den Kapitalismus tötete
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-619-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Technofeudalismus -  Yanis Varoufakis
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Ohne dass wir es wirklich gemerkt haben, wurde der Kapitalismus ersetzt. Vielleicht waren wir zu abgelenkt von der Pandemie, von den endlosen Finanzkrisen und dem Aufstieg von TikTok. Aber in ihrem Windschatten, argumentiert Yanis Varoufakis, hat sich in den letzten Jahren ein neues, noch ausbeuterischeres System etabliert: der Technofeudalismus. In seinem neuen Buch vertritt der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und bekannte Politiker Yanis Varoufakis die These, dass der klassische Kapitalismus tot ist und eine neue wirtschaftliche Ära begonnen hat. Dazu haben zwei Entwicklungen der letzten Jahre entscheidend beigetragen: Die Geldpolitik der westlichen Regierungen nach der Finanzkrise 2008, die selbst die unrentabelsten und risikoreichsten Geschäftsmodelle finanzierbar machte, und die Privatisierung des Internets durch die großen Technologieunternehmen, die es geschafft haben, sich zu den »Feudalherren« dieses unregulierten Neulands zu machen und ihre eigenen Regeln durchzusetzen. Mit jedem Klick und jedem Like vergrößern sie ihre Macht, denn die Währung, die zu dem unglaublichen Reichtum der Konzerne führt, sind unsere Daten. Willkommen im Technofeudalismus, der neuen wirtschaftlichen Weltordnung, die unser aller Leben umwirft und die größte Bedrohung für unsere soziale Demokratie darstellt. Anhand von Geschichten aus der griechischen Mythologie und der Popkultur, von Homer bis Mad Men, erklärt Varoufakis diesen revolutionären Wandel und das um sich greifende System: wie es unseren Verstand versklavt, die Regeln der globalen Macht umschreibt und was es letztlich braucht, um es zu Fall zu bringen.

Yanis Varoufakis, geboren in Athen 1961 ist Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Autor. Er hat viele Jahre in Großbritannien, Australien und den USA an Universitäten gelehrt bevor er sich als Politiker engagiert hat. Er hat die Graswurzelbewegung DiEM25 mitgegründet und arbeitet heute als Professor für Ökonomie an der Universität Athen.

Yanis Varoufakis, geboren in Athen 1961 ist Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Autor. Er hat viele Jahre in Großbritannien, Australien und den USA an Universitäten gelehrt bevor er sich als Politiker engagiert hat. Er hat die Graswurzelbewegung DiEM25 mitgegründet und arbeitet heute als Professor für Ökonomie an der Universität Athen.

1. HESIODS KLAGE


Mein Vater war der einzige Linke, den ich kenne, der nicht verstand, warum es abwertend gemeint war, wenn man Maggie Thatcher als »die Eiserne Lady« bezeichnete. Und ich dürfte das einzige Kind gewesen sein, das in dem Glauben aufwuchs, Gold sei der ärmere Cousin von Eisen.

Mein Glaube an die magischen Qualitäten von Eisen begann im Winter 1966, der in meiner Erinnerung bitterkalt war. Weil meine Eltern so schnell wie möglich die vollgestopfte Mietwohnung verlassen wollten, in der wir lebten, während unser Haus in Paleo Faliro, einem Küstenvorort von Athen, umgebaut wurde, brachten sie uns mitten im Winter in ein unfertiges Haus zurück, das noch keine Heizung hatte. Glücklicherweise hatte mein Vater darauf bestanden, dass unser neues Wohnzimmer einen vernünftigen Kamin aus roten Backsteinen bekommen sollte. Und dort, in der Wärme des Kaminfeuers, stellte er mir im Lauf des Winters nach und nach seine »Freunde« vor, wie er sie nannte.

Die Freunde meines Vaters

Seine Freunde kamen in einem großen grauen Sack zu uns, den er jeden Abend aus der »Fabrik« nach Hause brachte, dem Stahlwerk in Eleusis, in dem er sechs Jahrzehnte als Chemieingenieur arbeitete. Sie waren äußerst unscheinbar. Einige sahen wie unförmige Felsbrocken aus, das waren Erzklumpen, wie ich später erfuhr. Andere waren genauso langweilige Stangen und unterschiedlich geformte Metallplatten. Wäre da nicht die liebevolle Art gewesen, wie er jedes Teil auf einem gefalteten weißen, handbestickten Tischtuch vor dem Kamin ablegte, ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie etwas Besonderes waren.

Zinn war der erste Freund, den er mir vorstellte. Erst gab er mir einen Brocken in die Hand, damit ich fühlen konnte, wie weich er war, dann legte er ihn in eine eiserne Schüssel und stellte sie in das lodernde Feuer. Als das Zinn zu schmelzen begann und das flüssige Metall die Schüssel füllte, leuchteten die Augen meines Vaters. »Alles Feste schmilzt zu Flüssigem, und wenn es genug Hitze bekommen hat, verdampft es. Sogar Metalle!« Sobald er sicher war, dass ich die große Verwandlung vom festen in den flüssigen Zustand angemessen gewürdigt hatte, gossen wir gemeinsam das flüssige Zinn in eine Gussform, tauchten sie zum Abkühlen in Wasser und zerbrachen sie dann, sodass ich das Zinn wieder anfassen und mich überzeugen konnte, dass unser Freund wieder seinen Normalzustand angenommen hatte – dass er zu seinem Ausgangszustand zurückgekehrt war.

Am nächsten Abend experimentierten wir mit einem anderen Freund: einem länglichen Stab aus Bronze. Diesmal gab es keine große Verwandlung, denn der Schmelzpunkt von Bronze liegt mindestens fünfmal so hoch wie der von Zinn. Doch der Stab begann in einem leuchtenden Orangerot zu glühen, und mein Vater zeigte mir, wie ich der heißen Spitze des Stabs mithilfe eines stählernen Hammers jede beliebige Form geben konnte. Als ich genug hatte, tauchten wir den Stab in kaltes Wasser, um ihn kalt und unverändert in seinen ursprünglichen, formbaren Zustand zurückzubringen.

Am dritten Abend kam mir mein Vater aufgeregter vor als an den Abenden zuvor. Er wollte mich mit seinem besten Freund bekannt machen, dem Eisen. Um die Spannung zu steigern, zog er seinen goldenen Ehering ab und hielt ihn mir hin. »Siehst du, wie Gold schimmert?«, fragte er mich. »Die Menschen haben sich zu allen Zeiten wegen des Aussehens in dieses Metall verliebt. Aber sie begreifen nicht, dass es nur das ist: glitzernd – nichts Besonderes.« Wenn ich wollte, werde er mir gerne demonstrieren, wie Gold, wenn es erhitzt und dann zur Abkühlung in Wasser getaucht wird, wie Zinn und Bronze in seinen früheren Zustand zurückkehrt. Froh, dass ich nicht auf der Demonstration bestand, wandte er sich seinem liebsten Objekt zu.

Er nahm ein Stück Eisenerz in die Hand und schaute den unscheinbaren Klumpen an wie Hamlet, der Yoricks Schädel betrachtet: »Nun, wenn du einen wirklich magischen Stoff haben willst, dann ist er das hier: Eisen. Der Zauberer unter den Materialien.« Und dann machte er sich daran, seine Behauptung zu beweisen, indem er einen Eisenstab der gleichen Tortur unterzog, die wir am Abend zuvor an dem Bronzestab vollzogen hatten, aber mit ein paar entscheidenden Unterschieden.

Bevor er das Eisen erhitzte, bekam ich Gelegenheit, mit dem Hammer auf die Spitze des Stabs zu schlagen, um mich zu vergewissern, dass er so weich und beinahe genauso formbar war wie Bronze. Als das Eisen im Feuer lag, half uns ein kleiner Blasebalg, die Flammen anzufachen, bis das Leuchten des Eisens das schummrige Wohnzimmer hellrot erstrahlen ließ. Wir zogen den Stab aus dem Kamin und brachten ihn mit dem kleinen Hammer in eine Form, die in meinen kindlichen Augen an ein Schwert erinnerte. Beim Eintauchen in kaltes Wasser gab das Eisen ein geradezu triumphierendes Zischen von sich. »Armer Polyphem!«, war der geheimnisvolle Kommentar meines Vaters.

»Erhitze es noch einmal«, sagte er zu mir. Ich schob den Stab zurück ins Feuer. »Und diesmal tauche ihn ins Wasser, bevor er glüht.« Weil mich das zischende Eisen begeistert hatte, freute ich mich, dass wir den Vorgang des »Abschreckens«, wie die Metallurgen sagen, drei- oder viermal wiederholten. Dann kündigte mein Vater an, dass der Moment der Wahrheit gekommen sei. »Nimm den Hammer und schlage mit aller Kraft auf die Spitze des Schwerts«, wies er mich an.

»Aber ich will es nicht kaputt machen«, protestierte ich.

»Tu es nur, du wirst schon sehen. Schone deine Kräfte nicht.«

Ich schonte sie nicht. Der Hammer schlug auf die Spitze des Schwerts und prallte direkt zurück. Ich schlug wieder und wieder darauf. Es hatte keine Wirkung. Mein Schwert war unempfindlich für die Schläge. Gehärtet.

Die Einführung eines Kindes in den Historischen Materialismus

Mein Vater konnte nicht länger an sich halten. Was ich gesehen hätte, erklärte er, sei nicht nur eine große Veränderung – wie bei dem Zinn, das geschmolzen war –, sondern eine große Umwandlung. Natürlich hatte Kupfer unsere Befreiung aus der Prähistorie erleichtert: Der Entdeckung, dass es eine Verbindung mit Arsen und Zinn eingehen konnte, bei der das härtere Metall Bronze entstand, verdankten die Bewohner Mesopotamiens, die Ägypter und Achäer neue Technologien, darunter neue Pflüge, Äxte und Bewässerungsanlagen, die ihnen letztlich erlaubten, die enormen landwirtschaftlichen Überschüsse zu erzeugen, mit denen sie den Bau großartiger Tempel und todbringender Armeen finanzierten. Aber damit sich die Geschichte so sehr beschleunigte, dass etwas entstehen konnte, das wir heute als Zivilisation bezeichnen, brauchte die Menschheit etwas noch viel Härteres als Bronze. Ihre Pflüge, ihre Hämmer und ihre Metallkonstruktionen mussten so hart sein wie die Spitze meines Schwerts. Die Menschen mussten den Trick erlernen, den ich in unserem Wohnzimmer erlebt hatte: wie man weiches Eisen in gehärteten Stahl verwandelt, indem man es in kaltem Wasser »tauft«.

Bronzezeitliche Gesellschaften, die das nicht lernten, seien untergegangen, erklärte mein Vater.

Die Schwerter ihrer gepanzerten Feinde durchbohrten ihre bronzenen Schilde, ihre Pflüge schafften es nicht, in weniger fruchtbare Böden einzudringen, die Metallstreben, die ihre Dämme und Tempel stützten, waren zu schwach, um die Anforderungen der vorausschauenden Baumeister zu erfüllen. Hingegen hatten Gemeinschaften, die die techne, die Kunst des »Stählens« von Eisen, beherrschten, Erfolg auf den Äckern, den Schlachtfeldern, auf See, im Handel, in den Künsten. Die Magie des Eisens lag der neuen Rolle der Technologie als treibende Kraft der Zivilisation und des Unbehagens daran zugrunde.

Für den Fall, dass ich die kulturelle Relevanz unseres kleinen Experiments – und des Anbruchs der Eisenzeit – bezweifeln sollte, erklärte mein Vater mir seine Anspielung auf den »armen Polyphem«, den einäugigen Riesen, der Homer zufolge Odysseus und seine Männer in eine Höhle sperrte, um sie beizeiten einen nach dem anderen zu verspeisen. Odysseus sann darauf, seine Männer und sich selbst zu befreien, und wartete ab, bis Polyphem betrunken in einen tiefen Schlaf gefallen war. Dann erhitzte er einen Holzstock im offenen Feuer der Höhle und rammte ihn mithilfe seiner Kameraden in das einzige Auge des Riesen. »Erinnerst du dich an das zischende Eisen?«, fragte mein Vater. Nun, Homer scheint ähnlich beeindruckt davon gewesen zu sein, zumindest nach dem Vers in der Odyssee zu urteilen, in dem die grausame Tat geschildert wird:

Taucht der Schmied eine Axt oder taucht er ein mächtiges Handbeil

Tief in das kälteste Wasser, dann gibt es gewaltiges Zischen:

Helfen will er dem Eisen, daß wieder zu Kräften es komme:

Gradso sott ihm das Auge am Pfahl, der aus Holz war vom Ölbaum.1

Odysseus und seine Zeitgenossen lebten vor der Eisenzeit und konnten nicht wissen, dass das Zischen des Eisens eine molekulare Härtung von historischer Bedeutung ankündigte. Aber Homer, der mehrere Jahrhunderte nach dem Trojanischen Krieg lebte, war ein Kind der Eisenzeit und wuchs inmitten der technologischen und gesellschaftlichen Revolution heran, die der Stahl gebracht hatte. Falls ich gedacht haben sollte, Homer sei ein Sonderfall gewesen, zitierte mein Vater Worte von Sophokles, die den anhaltenden Einfluss der Magie des Eisens belegten. Vier Jahrhunderte später verglich Sophokles eine Seele mit »Eisen in der Wassertauche gehärtet«.

Die...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2024
Übersetzer Ursel Schäfer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Demokratie • Dialektik der Informationsgesellschaft • Digitalisierung • Historischer Materialismus • Kapitalismus • Marxismus • Maschinenstürmer • Plattformökonomie • Politische Ökonomie • Sozialdemokratie • Soziale Gerechtigkeit • Technofeudalismus
ISBN-10 3-95614-619-0 / 3956146190
ISBN-13 978-3-95614-619-0 / 9783956146190
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