Deine TikTok-Challenge - Wie weit traust du dich zu gehen? (eBook)

Am nächsten Tag hatte Finn eine ganze Weile vor dem Spiegel verbracht. Er hatte versucht, die blöden Pickel ein bisschen abzudecken. Auf solche Kommentare hatte er nämlich echt keinen Bock mehr. Aber der Puder seiner Mutter war viel zu hell, er sah aus wie ein Clown. Am Ende hatte er ihn wieder abgewaschen.

Jetzt saßen die Zwillinge auf der gelben Couch in Jonas’ Zimmer und Finn hatte keine Ahnung, was ihn heute erwartete. Und zwar wirklich nicht.

Normalerweise brauchten sie hier Lenis Hilfe nicht, sie konnten Jonas’ Handy einfach in das Stativ mit dem Ringlicht klemmen. Aber heute hatte Jonas die Schwester wieder gebeten, zu filmen. Leni war es nur recht – sie würde sicher bald ihre „Honorar“-Forderungen erhöhen.

Außerdem hatte Jonas Finn gesagt, dass er auch sein eigenes Handy mitbringen sollte. Jonas’ Zimmer war zu genau einem Drittel in ein kleines Studio umfunktioniert worden. Die Jungs hatten eine Wand blau gestrichen und eine kleine Lampe sowie eine Pflanze aufgestellt, die allerdings ihre besten Tage schon hinter sich hatte. Außerdem lehnte wie zufällig Jonas’ Skateboard an der Wand – das konnte bestimmt nicht schaden.

Dass im kompletten Rest des Zimmers – auf dem Bett, dem Schreibtisch und in sämtlichen Regalen – vollkommenes Chaos herrschte, davon war auf den Videos zum Glück nichts zu sehen.

Die Aufnahme lief und Jonas erklärte: „Heute hab ich für Finn hier eine kleine Aufgabe mitgebracht. Bist du bereit, Finn?“

Leni hielt auf Finn und der nickte und zuckte die Achseln. „Bereiter geht’s nicht!“, sagte er. Dann musste er lachen. „Hört sich an wie ‚Breiter geht’s nicht‘“, sagte er. „Aber ich bin nicht breit, Leute. Ich hab nur ein bisschen Angst davor, was Jonas mal wieder mit mir vorhat.“

„Zu Recht, mein Lieber, zu Recht!“ Leni schwenkte um auf Jonas. „Du solltest jederzeit Angst vor deinem Evil Twin haben. Wir machen heute bei der #yourehot-Challenge mit, alles klar? Hol doch mal dein Handy raus!“

„Kann ich für diese Challenge nicht einfach mein Gesicht in die Kamera halten?“, witzelte Finn und zog das Smartphone raus.

„Ist super easy“, erklärte Jonas.

Leni machte ihre Sache gut, sie brauchte keine Anweisung, um nun Finns Bildschirm zu filmen.

„Die #yourehot-Challenge geht so: Du öffnest TikTok und schreibst der erstbesten Person, die du unter deinen Freunden und Freundinnen siehst.“

Wenig überzeugt folgte Finn den Anweisungen. Der erste Kontakt, der auftauchte, war Nam_iiii – das war Namika aus der Parallelklasse, die ihm eine Nachricht zu dem Video von gestern geschickt hatte.

„Und was schreib ich jetzt?“, fragte Finn.

„Na, was schreibst du wohl bei der #yourehot-Challenge?“ Jonas lachte und Leni näherte sich mit der Kamera seinem Gesicht. „Was könnte Finn wohl schreiben, was meint ihr denn? Mach schon, Junge!“

Eigentlich wollte Finn das nicht. Aber es musste alles so schnell gehen und Leni rückte ihm schon wieder mit dem Handy auf die Pelle. Außerdem war das Spontane hier ja der Witz an der Sache. Und ehe Finn es wirklich kapiert hatte, hatte er eine Nachricht an Namika verschickt, in der stand, dass er sie hot fände.

„Uiuiuiui“, rief Jonas. „Namika aus der Parallelklasse!“ Dann lachte er heiser. Dieses Mal gönnte er sich das anscheinend.

„Lucky-Namika, Alter! – Die Nachricht ist raus, Leute. Und natürlich werden wir euch auf dem Laufenden halten, wie die Person darauf reagiert hat! Ob das der Beginn einer großen Liebe ist? Was meint ihr? Schreibt doch mal in die Kommis!“

Dann beendete Leni die Aufnahme. „Okay, wir können auf keinen Fall den Namen drinlassen“, meinte Finn sofort zu Jonas. „Und den Account können wir auch nicht zeigen!“ „Meinst du, ich bin blöd?“, fragte Jonas. „Ich hab ja auch schon mal was von Datenschutz und so gehört. Wird natürlich gepiept und unkenntlich gemacht!“

Finn nickte. Er fühlte sich trotzdem nicht so wohl damit. Wie war es eigentlich gekommen, dass er immer den Clown spielen musste?

Finn war ein bisschen sauer auf seinen Bruder. Irgendwie machte der immer einen auf Big Boss. Aber auf der anderen Seite hatte er natürlich Recht: Manche Dinge mussten einfach spontan passieren, sonst waren sie überhaupt nicht witzig. In ihrer Anfangszeit hatten die Zwillinge manchmal Kommentare wie FAKE oder so unter ihren Clips stehen gehabt. Und das sollte echt nicht noch mal passieren.

Finn tat es allerdings ein bisschen leid, dass er ausgerechnet Namika erwischt hatte. Sie hatte es sowieso schon schwer genug. Letztes Jahr hatte sie auf einer Klassenfahrt ein paarmal an einer Zigarette gezogen. Und dann hatte sie alles vollgekotzt. Alle aus ihrer Klasse hatten drum rumgestanden und es mitbekommen. Ein Video gab es auch von der Aktion.

Naja, und weil es eine Lucky Strike gewesen war, hatte sie seitdem ihren Spitznamen weg. Das schien irgendwie nicht langweilig zu werden.

Obwohl es ein bisschen besser geworden war, seit Nora sich eingeschaltet hatte. Nora und Namika waren seit einiger Zeit ziemlich gut befreundet. Und mit Nora legte sich so schnell niemand an. Seitdem wurde der alberne Spitzname nur noch ausgepackt, wenn Nora nicht in der Nähe war.

Die beiden Mädchen hatten auch einen TikTok-Account. Da tanzten sie ein bisschen herum und machten Lip syncs und solche Sachen. Manchmal zeigten sie auch ein paar ganz nette Skateboard-Tricks. Sie hatten nicht besonders viele Follower, aber Finn sah sich ihre Videos eigentlich ganz gerne an. Auch wenn er das Jonas niemals sagen würde.

Während Finn seine Sachen fürs Fitnessstudio zusammenpackte, piepte sein Handy. Nam_iiii. Er zuckte kurz zusammen. Oje. Sie hatte ein von Herzchen umgebenes Smiley geschickt.

Abends kam die Mutter auf die erste Etage, wo die Jungs ihre Zimmer hatten.

Es war Mamas ganzer Stolz, dass sie seit einiger Zeit ein richtiges Häuschen bewohnten. Auch wenn es alt und zugig war und eigentlich dringend renoviert werden musste – es war ein ganzes Haus für ihre Kinder!

Das unverkennbare Schlurfen auf der Treppe – Finn würde ihre Schritte unter Hunderten erkennen. Dann folgte ein scharfes Klopfen an Jonas’ Tür.

„Wenn’s sein muss“, hörte Finn Jonas drinnen rufen. Und dann seine Mutter: „Hast du Leni schon wieder dein Handy gegeben?“

„Ja, und? Sie ist doch kein Kind mehr!“

Wieder Mutter, jetzt lauter: „Doch, genau das ist sie! Ich mache mir Sorgen, wenn sie dauernd TikTok benutzt. Wisst ihr eigentlich, was sich da teilweise für Leute rumtreiben? Es gibt Menschen, die machen sich im Internet ganz gezielt an Kinder und Jugendliche ran –“

„Wissen wir doch, Mom“, wehrte sich Jonas.

„Wir haben alles so eingestellt, dass ihr keine Fremden schreiben und nichts kommentieren können. Außerdem veröffentlicht sie nichts.“

„Als ob das ausreicht“, sagte seine Mutter.

„Und außerdem wisst ihr doch selbst, wie viel Mist bei TikTok zu sehen ist. Und Sachen, für die sie definitiv zu jung ist. Eben gerade hat sie mir Löcher in den Bauch gefragt, weil sie sich irgendwelche Kriegsvideos aus der Ukraine angeschaut hat.“

Dazu wusste Jonas nichts zu sagen.

„Im Übrigen fände ich es wirklich schön, wenn sie hin und wieder auch mal was anderes machen würde, als aufs Handy zu starren! Und das gilt auch für euch, Jungs.“

Finn hatte das Gefühl, dass er seinem Bruder helfen musste. Er steckte den Kopf durch die Tür und sagte: „Mom? Was glaubst du, warum Leni in Mathe letztens eine Zwei minus hatte?“

„Vielleicht haben ihr ihre großen Brüder geholfen?“, sagte seine Mutter mit ironischem Unterton.

„TikTok-Tutorials“, erklärte Finn triumphierend. „Ach, und ihr hättet ihr das nicht erklären können?“

Finn zuckte die Achseln. „Hab ich versucht, aber keine Chance. Ich hab es ja selbst kaum kapiert!“

Seine Mutter sah ihn einen Moment aus ihren müden, braunen Augen an. „Wie auch immer“, sagte sie dann. „Ich hab das Handy einkassiert. Sprecht das bitte in Zukunft mit mir ab. Und achtet drauf, was sie da so macht.“

„Her damit“, sagte Jonas und streckte die Hand aus. „Ich muss eh noch den Hot-Clip fertig machen!“

„Du zeigst mir das Video aber noch mal, bevor es online geht, gell?“, wandte Finn sich an ihn.

„Klar,...