Menschenschutzgebiet (eBook)

Wie die Stadt der Zukunft ein Teil der Natur wird
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
336 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31899-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Menschenschutzgebiet -  Uli Burchardt
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Warum wir Naturschutz radikal neu denken müssen
Straßenblockaden durch protestierende Bauern und 'Klimakleber', explodierende Energie- und Mietpreise, Wut auf die Umweltpolitik der Grünen und Zulauf für die AfD: Der Streit über den angemessenen Umgang mit der sich anbahnenden Klimakatastrophe spaltet unsere Gesellschaft und die Perspektive auf ein sozial gerechtes und umweltfreundliches Zusammenleben droht unter die Räder politischer Grabenkämpfe zu geraten.
Der Konstanzer Oberbürgermeister, Förster und gelernte Landwirt Uli Burchardt wirft einen frischen, unideologischen und hoffnungsvollen Blick auf die brennenden Themen unserer Zeit - von Ernährung über Landwirtschaft bis hin zu Digitalisierung und Klimaschutz. Entgegen des traditionellen Verständnisses von Umweltschutz hebt er den vermeintlichen Gegensatz zwischen 'Schädling Mensch' und 'schützenswerter Natur' auf. Virtuos verbindet er autobiographische Eindrücke und Beispiele aus seiner beruflichen Praxis mit den großen Umweltthemen unserer Zeit, um schließlich eine klimaneutrale und lebenswerte Stadt der Zukunft zu skizzieren: ein Menschenschutzgebiet - den besten Lebensraum, den es für uns Menschen je gab.

Uli Burchardt, geboren 1971, ist Nachhaltigkeits-Protagonist: Er hat Landwirtschaft gelernt, Forstwirtschaft studiert, war Manager bei Manufactum und Unternehmensberater, ist ein gefragter Redner und seit 2012 Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, der ersten Stadt Deutschlands, die den Klimanotstand ausgerufen hat, um bis 2035 eine klimaneutrale Stadt zu werden. Er ist Gründungspate der Klimaunion und Mitglied im Präsidium des Deutschen Städtetages. 2011 erschien von ihm der Bestseller Ausgegeizt - Das Manufactum-Prinzip.

Pflanzenschutzsaison


In meinem Betrieb in Tübingen gab es keine Rinder, deshalb sollte ich nach einem Jahr den Ausbildungsbetrieb wechseln. Bisher hatte ich immer nur auf Biobetrieben gearbeitet und meinen kleinen Teil dazu beigetragen, den Stein den Berg hinaufzurollen. Jetzt wollte ich etwas anderes kennenlernen. Ich hatte genug vom Hacken, ich wollte spritzen. Außerdem wollte ich größere Traktoren fahren.

Ich bewarb mich beim größten Ackerbaubetrieb am Bodensee, der auch eine große Bullenmast betrieb, und bekam die Stelle. Alles war anders! Der Hof war nicht nur sehr modern, er war auch hervorragend geführt, ein Bilderbuchbetrieb: Alles war sauber, alles war in Schuss, jedes Werkzeug hatte in der riesigen Maschinenhalle genau seinen Platz und jedes Rücklicht an jedem Anhänger funktionierte. Wir hatten riesige Traktoren, mit dem Fendt Favorit 615 den größten Schlepper, der damals, im Jahr der Wiedervereinigung, in Westdeutschland hergestellt und gängigerweise eingesetzt wurde: ein Turbodiesel mit 180 PS aus sechs Zylindern, sechs Liter Hubraum, 700 Newtonmeter Drehmoment, fast 7 Tonnen Leergewicht. Eine gewaltige, beeindruckende, brüllende Maschine. Ein geiles Teil. Wenn ich damit durch die umliegenden Dörfer fuhr, drehten sich die Menschen um nach diesem riesigen Schlepper. Nach den klapprigen, kleinen und alten Traktoren in Tübingen war ich hier in der modernen Landwirtschaft angekommen. Das machte Spaß. Ich war begeistert! Und dann kam der Pflanzenschutz.

Pflanzenschutzmittel lassen sich grob gesagt in drei Kategorien einteilen, und zwar in solche, die gegen Pilzkrankheiten wirken (Fungizide), Mittel gegen Unkräuter (Herbizide) und Mittel gegen Schädlinge, die schlimmste Bedrohung von allen (Insektizide). Es gibt unendlich viele Pilzkrankheiten, die Pflanzen schädigen. Manche Pilze befallen die Blätter, diese verfärben sich dann und funktionieren nicht mehr als Assimilationsfläche, die Photovoltaikanlage der Pflanze fällt sozusagen aus. Manche Pilze befallen auch direkt die Ähre des Getreides, wie zum Beispiel das Mutterkorn im Roggen oder Dinkel, dann wächst ein giftiger Pilz zwischen den Körnern. Pilzkrankheiten sind auch im Weinbau gefürchtet: Das ist der wichtigste Grund, warum Bioweinbau so schwierig und auch riskant ist, der falsche Pilzbefall im falschen Moment kann eine Bioweinernte vernichten. Einem Pilzbefall kann man zwar mit allen möglichen Tricks vorbeugen – manuell bekämpfen kann man ihn aber nicht. Das ist bei den Unkräutern anders. Unkräuter kann man hacken, platttreten, rausziehen, abschneiden, unterpflügen, mulchen, abflämmen und vieles mehr. Und das passiert auch jeden Tag und auf der ganzen Welt. Ohne die Bekämpfung von Unkräutern keine Landwirtschaft. Unkräuter werden vor allem deshalb bekämpft, weil sie Konkurrenten sind. Sie brauchen Fläche, Licht, Nährstoffe und Wasser, die eigentlich die Kulturpflanze bekommen soll. Im Extremfall können Unkräuter, wie zum Beispiel die Distel, eine Kultur sogar überwachsen, das heißt, wenn der Mensch nicht eingreift, gibt es zur Erntezeit nur noch Unkräuter, aber kein einziges Korn mehr. Die Bekämpfung von Unkräutern ist deshalb Voraussetzung für menschliches Leben. Ohne Landwirtschaft gäbe es keine Ernährung für Milliarden von Menschen. Und ohne Unkrautbekämpfung gäbe es keine funktionierende Landwirtschaft. Jeden Tag investieren wir Menschen viel Energie, um diejenigen Pflanzen, die wir anbauen wollen, um zu leben, gegen ihre Unkrautkonkurrenten zu verteidigen. In der Fachsprache der Gärtner und der Landwirte gibt es einen völlig selbstverständlich genutzten Fachbegriff für das Feld, auf dem genau das wächst und gedeiht, was man dort anbauen und ernten möchte. Und auf dem das andere eben nicht wächst, das man dort nicht haben möchte. Man nennt das: eine Kultur. Ich komme darauf zurück.

Tiere schließlich, vor allem Insekten, sind neben Pilzbefall und Unkrautkonkurrenz die dritte große Bedrohung für unsere Kulturpflanzen. Wildschweine graben ganze Wiesen und Äcker um, Rehe fressen Knospen ab, Kaninchen haben halb Australien leer gefressen. Wühlmäuse fressen Wurzeln weg, bis das junge Bäumchen mangels Wurzel einfach umfällt. Ein paar Schnecken können einem ganzen Salatbeet in einer Nacht den Garaus machen. Heuschreckenschwärme, die komplette Landstriche kahl fressen, kamen schon in der Bibel vor und sind bis heute die Plage ganzer Völker, Zystennematoden verursachen riesige Verluste beim Sojaanbau, der asiatische Reisbohrer dezimiert die Reisernte. Die Kirschessigfliege, der Maiszünsler, die Obstbaumspinnmilbe, der Apfelwickler, der Kartoffelkäfer und die Blattlaus, sie alle fressen das, was eigentlich wir essen wollen: unsere Grundnahrungsmittel, unsere Früchte, unsere Genussmittel.

Unkraut ist ärgerlich, Unkraut stört, Unkraut verringert die Ernte. Aber im Vergleich ist das eher noch harmlos: Schädlinge dagegen können ganze Ernten und Existenzen schlagartig vernichten. Es geht also um Leben oder Tod: die oder wir.

Schädlingsbekämpfungsmittel sind die giftigsten aller Pflanzenschutzmittel. Schließlich wirken sie nicht gegen Pflanzen oder Pilze, sondern sie bekämpfen Tiere. Sie schädigen deshalb häufig Nutzinsekten wie Bienen, aber ihre Wirkstoffe sind oft ebenso für Säugetiere und Menschen gefährlich. Deshalb findet man auf den Etiketten der Fungizide und Herbizide eher die »harmloseren« Warnsymbole wie Xi, reizend, oder Xn, gesundheitsschädlich – Insektizide tragen dagegen häufig das Totenkopfsymbol.

Auf dem Hof, auf dem ich mein letztes Lehrjahr antrat, gab es einen großen Keller unter dem alten Wohnhaus, den man von außen betreten konnte. Und in diesem Keller war das ganze Arsenal vorrätig: Dosen und Kanister, Eimer und Säcke, Flaschen, Kartons und Tüten. Unkrautbekämpfungsmittel wie Roundup, heute sehr bekannt als Glyphosat, und das berühmte Atrazin (das noch während meiner Lehrzeit, im März 1991, für die Anwendung in Deutschland verboten wurde), Halmverkürzer wie Cycocel, Fungizide wie Corbel und Desmel – und eben die Flaschen mit den Totenköpfen. Darunter Berühmtheiten wie E 605 forte, das Teufelszeug, das wenige Jahre zuvor mit dem Sandoz-Löschwasser in riesigen Mengen in den Rhein gelangt war.

Ich erinnere mich an jedes Detail meiner ersten Begegnung mit E 605. Es war eine Flasche aus Aluminium, darauf ein großer Schraubverschluss. Ich zog dicke Handschuhe an, drehte den Verschluss ab und goss die ganze Flasche in den Tank der Spritze. Gluck, gluck, gluck. Einen Liter, tausend Gramm. Die letale Dosis dieses Giftes, also die für einen Menschen tödliche Menge, liegt bei einem bis zwei Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, las ich nach. Für mich wäre also weit weniger als ein einziges Gramm tödlich. Diese Flasche könnte mehrere Tausend Menschen töten, dachte ich mir. Also jetzt gründlich die Hände waschen. Ich wusch die Hände samt Handschuhen. Aber irgendwann musst du den Handschuh ausziehen. Also mit der rechten Hand den linken Handschuh abziehen, jetzt ist eine Hand nackt. Jetzt versuchen, mit der nackten Hand den anderen Handschuh auszuziehen, ohne seine Außenseite zu berühren. Was, wenn ich was übersehen habe? Wenn jetzt doch irgendwo etwas von dem Zeug an mir ist? Es juckte mich. Wann immer ich Kontakt mit diesen Mitteln hatte, hatte ich den ganzen Tag das Bedürfnis, meine Kleidung zu wechseln, mich zu waschen, ich fühlte mich unwohl. Ich war sehr vorsichtig und wahrscheinlich auch nie in Gefahr. Aber ich war dann doch jedes Mal froh, wenn mein Chef oder der Geselle den chemischen Pflanzenschutz übernahmen. Ich wollte lieber pflügen, hacken, grubbern oder säen.

Apropos säen: Natürlich kam der Tag, an dem auch ich endlich säen durfte, so wie ich es ganz am Anfang beim Abendessen vor unserem Fenster gesehen hatte. Im Hellen und im Dunklen, mit allen Scheinwerfern an, ruhig und konzentriert. Säen ist schwierig. Säen ist Konzentration. Säen lässt sich nicht korrigieren und nicht rückgängig machen. Man muss die richtige Menge Saatgut in der richtigen Tiefe säen, man muss den jeweiligen Anschluss an die Spur davor möglichst auf den Zentimeter schaffen und in einem bestimmen Rhythmus sogenannte Fahrgassen herstellen: Man schließt zum Beispiel bei jeder dritten Fahrt die Säschare auf Höhe der Räder, damit später in der aufgehenden Saat alle neun Meter Spuren bleiben, in denen man zum Hacken, Spritzen oder Düngen durch die Kultur fahren kann. (Achten Sie mal drauf, wenn im Frühjahr das Getreide aufwächst, Sie sehen solche Fahrgassen auf fast jedem Acker.) Und natürlich muss man gerade fahren. Das ist leichter gesagt als getan: Einmal beim Säen niesen oder am Lenkrad ruckeln, am Radio drehen oder das Käsebrot aus der Tasche kramen, das gibt einen großen Wackler im Muster der Saat, den wochenlang jeder, der vorbeifährt, sehen kann. Zimmerleute zimmern gerade, Fliesenleger fliesen gerade und Landwirte säen gerade. So ist das. Eine Frage der Landwirtsehre. Das Gefühl, mit einem Traktor zum Säen in einen frisch vorbereiteten Acker hineinzufahren, ist übrigens großartig. Es ist ein bisschen wie Tiefschneefahren: gedämpft, weich, fluffig. Es riecht nach frischer Erde. Und ein paar Wochen danach die Saat aufgehen und wachsen zu sehen, ist einfach unvergleichlich.

Auf meinem neuen Ausbildungsbetrieb wurde auf dem Acker genauso präzise gearbeitet wie in der Werkstatt. Wir arbeiteten auf hohem Niveau und waren weit und breit als Einzige in gleich zwei Königsdisziplinen des Ackerbaus tätig, nämlich erstens dem Anbau von Zuckerrüben und zweitens der Saatgutvermehrung. Das heißt, wir bekamen von Züchtern sogenanntes Basissaatgut geliefert, und unsere vertraglich vereinbarte Aufgabe war es, daraus sogenanntes zertifiziertes Saatgut herzustellen, im...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • CDU • Deutschland 2050 • eBooks • Energiewende • Fridays For Future • Klima • Klimaideologie • Klimakrise • Klimawandel • Konstanz • Kosten • Nachhaltigkeit • Naturschutz • Neuerscheinung • Oberbürgermeister • Städtebau • Stadtpolitik
ISBN-10 3-641-31899-8 / 3641318998
ISBN-13 978-3-641-31899-4 / 9783641318994
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