Das gespaltene Indien (eBook)
448 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45929-5 (ISBN)
Der renommierte Ökonom Ashoka Mody ist emeritierter Gastprofessor für internationale Wirtschaftspolitik an der Princeton University. Er war stellvertretender Direktor in den Abteilungen Forschung und Europa des Internationalen Währungsfonds und zuvor unter anderem für die Weltbank tätig. 2018 veröffentlichte er sein erstes Buch EuroTragedy. A Drama in Nine Acts. Seine Artikel erscheinen bei Financial Times, Project Syndicate und Bloomberg View.
Der renommierte Ökonom Ashoka Mody ist emeritierter Gastprofessor für internationale Wirtschaftspolitik an der Princeton University. Er war stellvertretender Direktor in den Abteilungen Forschung und Europa des Internationalen Währungsfonds und zuvor unter anderem für die Weltbank tätig. 2018 veröffentlichte er sein erstes Buch EuroTragedy. A Drama in Nine Acts. Seine Artikel erscheinen bei Financial Times, Project Syndicate und Bloomberg View.
Vorwort
In den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit von Großbritannien wurde wiederholt der Aufstieg Indiens zur Supermacht angekündigt. Diese Prognose fand viele neue Befürworter, als sich im Januar 2024 die Reichen und Mächtigen in Davos versammelten. Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times und bekennender »Freund Indiens«, pries den Ausbau der physischen und digitalen Infrastruktur unter Premierminister Narendra Modi. Der amerikanische Außenminister Antony Blinken stimmte in die Lobeshymnen ein und erklärte, die Welt sehe »eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte« unter Modis Regierung und viele Menschen profitierten von den »bemerkenswerten Fortschritten« des Landes.
Tatsächlich hat Indien eine Reihe von Erfolgen vorzuweisen. Seit 1951 wählen Hunderte Millionen Menschen regelmäßig ihre Repräsentanten im nationalen Parlament und in den Volksvertretungen der Bundesstaaten. Indische Studenten tun sich an einigen der besten Universitäten der Welt hervor. Indische Informationstechnologiefirmen genießen Weltruf, und Menschen in aller Welt sind daran gewöhnt, mit Kundenbetreuern in indischen Call-Centern zu sprechen.
Obwohl sich die demokratische indische »Schildkröte« wirtschaftlich nur langsam voranbewegt, wird sie, so die mittlerweile vertraute Prognose, schließlich den autoritären chinesischen »Hasen« hinter sich lassen. Die Vorstellung, die größte Demokratie der Welt könne sich in eine wirtschaftliche Weltmacht verwandeln, ist verlockend, und zwar nicht nur für die Bürger Indiens, sondern für die freie Welt, die sich über ein starkes Gegengewicht zum wirtschaftlichen und geopolitischen Riesen China freuen würde.
Aber beruhen die zuversichtlichen Vorhersagen auf einer objektiven Analyse? Oder sind sie bloßes Wunschdenken?
In diesem Buch arbeite ich die historischen Entwicklungen auf, die den heutigen Zustand Indiens erklären. Unsere Geschichte beginnt in dem hoffnungsfrohen Augenblick im Jahr 1947, in dem Indien seine Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte. Nach der blutigen Teilung Britisch-Indiens in die Staaten Indien und Pakistan sehnte sich die indische Bevölkerung, die in tiefer Armut lebte und zum Großteil weder lesen noch schreiben konnte, nach einem neuen Leben. Die Sterblichkeit sank, weil Indien lernte, schnell und wirkungsvoll auf Hungersnöte zu reagieren, und weil Medikamente zugänglich wurden, die sich in Europa im Kampf gegen Epidemien bewährt hatten. Aufgrund der sinkenden Sterblichkeit stieg die Zahl junger Arbeitsuchender deutlich. Nun stand die indische Politik vor der Aufgabe, Arbeitsplätze für Millionen Menschen zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit der politischen Reaktion auf diese Herausforderung zieht sich wie ein roter Faden durch dieses Buch.
Die Zahl der Arbeitsplätze stieg von Anfang an nur langsam. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre löste die Enttäuschung über die nach wie vor schlechten Lebensbedingungen im ganzen Land heftige Proteste aus. Unfähig, das wütende Land zu befrieden, schlug Premierministerin Indira Gandhi am Ende des Jahrzehnts den Weg zum Autoritarismus ein. Im Jahr 1975 verhängte sie den Ausnahmezustand. Obwohl die Demokratie im Jahr 1977 formal wiederhergestellt wurde, hatten das soziale Vertrauen und der demokratische Geist gelitten. Die Korruption fraß sich auf höchster Ebene in die Strukturen von Regierung und Staatsverwaltung, die staatliche Zwangsmacht wurde immer öfter missbräuchlich eingesetzt, und es wurde üblich, Gewalt anzuwenden, um Gruppeninteressen zu verfolgen und sich in Streitigkeiten durchzusetzen. Die kurzsichtige Fixierung auf medienwirksame Maßnahmen führte dazu, dass öffentliche Güter wie Bildung, Gesundheit, städtische Infrastrukturen, Justizwesen und Umwelt vernachlässigt oder sogar zerstört wurden.
Und während Indien unter einem anhaltenden Mangel an Arbeitsplätzen und hoher Inflation litt, wurden einige ostasiatische Volkswirtschaften dank Investitionen in Humankapital und Stadtentwicklung international wettbewerbsfähig und näherten sich der Vollbeschäftigung.
Ab Mitte der achtziger Jahre häuften einige wenige Inder fabelhaften Reichtum an. Gleichzeitig befreiten sich viele Menschen aus tiefster Armut. Aber Hunderte Millionen Inder führten weiter ein unsicheres Leben knapp über dem Subsistenzniveau. Die verbreitete Frustration begünstigte das Wachstum des organisierten Verbrechens und schürte die Gewaltbereitschaft des »wütenden Hindu«.
Der Hindu-Nationalismus, der gewalttätige Mobs zu unablässiger Aktivität antrieb, riss weitere Löcher in das soziale Gewebe.
Ein Dreivierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit liegen Indiens Demokratie und seine Wirtschaft in Trümmern. Die schwedische Denkfabrik V-Dem stuft Indien mittlerweile als »elektorale Autokratie« ein, als ein Land, in dem Wahlen stattfinden, aber weder die Rechtsstaatlichkeit noch die Meinungsfreiheit gewährleistet sind. In der Coronapandemie ist offenkundig geworden, wie fragil die indische Wirtschaft ist. Die erste Coronawelle brachte die Wirtschaft zum Erliegen, und von den 100 Millionen vernichteten Arbeitsplätzen sind 25 Millionen möglicherweise für immer verloren. In der zweiten Welle wurden weitere Arbeitsplätze zerstört. Diese Einbußen haben einen ohnehin großen Mangel an Arbeitsplätzen verschärft, und in absehbarer Zukunft werden weiter Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen. Die indische Beschäftigungskrise ist eine Dauerkrise.
Auf den folgenden Seiten zeichne ich die Geschichte der indischen Regierungen seit der Unabhängigkeit nach, aber im Grunde handelt dieses Buch von der fortschreitenden Erosion der sozialen Normen und vom Verlust der politischen Rechenschaftspflicht. Die demokratischen Spielregeln und Institutionen haben sich in Werkzeuge der Privilegierten und Mächtigen verwandelt. Die Justiz ist nicht länger blind, und die gesellschaftlichen Akteure arbeiten nicht zusammen, um allen Menschen Bildung, Gesundheit und städtische Infrastrukturen anzubieten. Die rasch voranschreitende Umweltzerstörung vergrößert die von der Klimakrise verursachten Schäden. Und da es eine Wiederherstellung von Normen und Rechenschaftspflicht nur geben kann, wenn die Verantwortlichen gezwungen sind, Rechenschaft abzulegen, ist Indien in einer ausweglosen Lage gefangen.
Es ist naheliegend, aber falsch, die Schwierigkeiten Indiens auf die verabscheuungswürdige Kastenordnung zurückzuführen. Die indische Gesellschaft steckt in einer Sackgasse, weil sie moralisch versagt hat: Sie leidet unter allgegenwärtiger Korruption, unter der Verflechtung von Kriminalität und Politik und unter sozialer Gewalt. Diese Übel infizierten in historischen Schlüsselmomenten Politik und Gesellschaft, und von da an war es leicht, jedes Mal, wenn sich eine Chance zu Veränderungen bot, den falschen Weg einzuschlagen.1
Die indische Gesellschaft kann sich aus dieser Falle nur dann befreien, wenn sie begreift, dass die Wirtschaft ein moralisches Gebäude ist, dessen Stabilität davon abhängt, dass seine Bewohner den Instinkt zur Befriedigung ihres Eigennutzes unterdrücken. Nur so können Korruption, Kriminalität und Gewalt zurückgedrängt werden und kann soziales Vertrauen wachsen. Der verbreitete Glaube, wohlmeinende Planer könnten die Wirtschaft jederzeit in die richtige Richtung lenken, beruht auf der falschen Vorstellung, das Wirtschaftssystem sei eine riesige Maschine, in der die Menschen nichts anderes als kleine Rädchen sind. Ohne eine verbindende Ethik von Vertrauen und Kooperation werden geschickte politische Manöver und technologische Allheilmittel nur für immer neue Enttäuschungen sorgen.
In diesem Buch erzähle ich die Geschichte des unabhängigen Indien chronologisch und achte darauf, die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen nicht rückblickend, also in Kenntnis der folgenden Entwicklungen, zu kritisieren. In der chronologischen Darstellung erkennen wir Schlüsselmomente, in denen Entscheidungen fielen, die später kaum rückgängig gemacht werden konnten. Die Persönlichkeiten und Worte der politischen Führer haben großes Gewicht, aber ich ziehe an vielen Stellen Darstellungen aus kreativen ethnographischen Arbeiten heran, um zu veranschaulichen, wie das indische Volk und insbesondere die jungen Menschen leben. Außerdem nehme ich immer wieder auf den indischen Film Bezug, der wertvolle Aufschlüsse über das gesellschaftliche und kulturelle Leben ...
Erscheint lt. Verlag | 4.9.2024 |
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Übersetzer | Stephan Gebauer |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arbeitslosigkeit • Bevölkerung • Bildung • China • Demokratie • Frauen • Hindutva • incredible • India • Modi • Nationalismus • Nehru • Scheitern • Supermacht • Wachstum |
ISBN-10 | 3-593-45929-9 / 3593459299 |
ISBN-13 | 978-3-593-45929-5 / 9783593459295 |
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