Volk und Elite (eBook)
371 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78108-1 (ISBN)
Der populistische Appell an das »Volk« und die Mobilisierung gegen die »Eliten« dominieren mittlerweile die Politik in vielen Ländern der Welt. Aber wo liegen die geschichtlichen Wurzeln dieser Politikform? Und wie hängt sie mit gesellschaftlichen Krisenprozessen zusammen? Welche Spielarten des Populismus sind zu unterscheiden und was ist ihr Verhältnis zu Demokratie und Verfassung? Kolja Möller verfolgt die Wege des Populismus, die bereits im 11. Jahrhundert beginnen und bis zu den jüngsten Konflikten im Zuge der Globalisierung führen, und er entwickelt eine umfassende Gesellschaftstheorie dieser Politikform. Ein unverzichtbares Buch, um die gegenwärtige populistische Welle zu verstehen.
Kolja Möller arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften der TU Dresden und im Forschungsprojekt »Legal Populism« (gefördert durch die German-Israeli Foundation). Im Suhrkamp Verlag hat er herausgegeben: <em>Populismus. Ein Reader</em> (stw 2340).
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Prolog
Es gibt nur wenige Romane, in denen die historischen Erfahrungen des Antifaschismus in so dichter Form beschrieben werden wie in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Der Roman beginnt mit einem langen Gespräch zwischen drei Antifaschisten. Sie treffen sich am 20. September 1937 vor dem Pergamonfries in einem Berliner Museum – Auftakt einer Handlung, in der sich die Figuren während der 1920er und 1930er Jahre dem Faschismus in den Weg stellen. Der ist zu dieser Zeit schon auf dem Siegeszug, draußen dröhnt das »taktfeste Schmettern nagelbeschlagner Stiefel«.[1] Doch die drei lassen sich von den widrigen Bedingungen nicht beirren, sondern unterhalten sich über den Kampf zwischen Göttern und Titanen in der griechischen Mythologie, welcher auf dem Fries dargestellt ist. Sie interpretieren die Szenen als Verbildlichung politischer Ordnungskonflikte. Die ganze Bedeutung dieser Einstiegsszene in der Ästhetik des Widerstands erschließt sich erst am Ende des Romans nach einer langen Reise des Ich-Erzählers, die ihn von Berlin in den spanischen Bürgerkrieg und über Paris bis ins skandinavische Exil führt. Gezeichnet von den politischen Niederlagen und dem Verlust enger Freunde und Weggefährten sowie seinen tiefen Persönlichkeitskrisen, wendet er sich am Schluss erneut dem Herakles gewidmeten Friesabschnitt zu. Von dieser Herakles-Figur ist im Fries allerdings nur die von seinem Umhang stammende Löwenpranke erhalten geblieben. Sein Platz ist leer. Dabei war aber, trauen wir der Überlieferung, gerade Herakles, der als unehelicher Sohn einer Sterblichen und eines Gottes weder zu den Giganten noch zu den Göttern gehörte, ausschlaggebend für den Sieg der Götter. Peter Weiss schreibt:
[U]nd ein Platz im Gemenge würde frei sein, die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehn, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müßten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.[2]
10Mit dieser Schlusspassage wird die Handlung des Romans erschlossen: Seine Figuren sind stets damit beschäftigt, diesen leeren Platz zu füllen. Sie nehmen Abstand von sich und der Welt, wie sie ist, und überlegen, wie sie so in die Geschichte eingreifen können, dass Veränderungen ermöglicht werden. Was heißt es, den leeren Platz zu füllen, der den Konflikt entscheidet und einer neuen Ordnung zum Durchbruch verhilft? Den leeren Platz zu besetzen, ist in den Augen der drei Antifaschisten nicht allein eine Frage des Willens, sondern der realen Möglichkeiten, die sich im Geschichtsverlauf ergeben.
Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen von demokratischen Verfassungen, dass sie einen solchen »leeren Platz« bereithalten. Sie schreiben nicht feingliedrig inhaltlich vor, wie genau er zu besetzen ist, aber gründen sich auf die Volkssouveränität – auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Von dort aus erhält die Ordnung ihre Legitimation und kann verändert, umgewälzt oder gar revolutioniert werden. Dass politische und soziale Bewegungen immer wieder auf das »We, the people« zurückkommen, ist dementsprechend kein Zufall, sondern hängt mit der Art zusammen, wie der Bereich der Politik in Demokratien konfiguriert und der leere Platz dem Volk zugeordnet ist. Wer nicht nur Geländegewinne erzielen, sondern die Ordnung verändern will, muss erfolgreich das Volk repräsentieren.
Die demokratische Verfassung löst das Problem des leeren Platzes jedoch nie endgültig, sondern – darauf haben unterschiedliche politische Theorien immer wieder hingewiesen – stellt es auf Dauer, und das mit allen Risiken. Schließlich schwanken die Appelle ans Volk zwischen Emanzipation und identitärer Schließung – bis hin zu einer autoritären Transformation der Ordnung, die den leeren Platz in der Folge auslöscht, indem sie ihn dauerhaft besetzt. In diesem Sinne – das ist eine zentrale These der folgenden Überlegungen – ist der zugespitzte Populismus, der für sich beansprucht, das Volk gegen die Eliten zu vertreten, eine wiederkehrende politische Handlungsoption. Die Auseinandersetzung mit seiner Theorie und Geschichte soll den Blick dafür schärfen, wie er genau zu verstehen ist und welche Trajektorien sich im historischen Verlauf nachweisen lassen. Dieser Zugriff beschränkt sich nicht darauf, populistische Politikformen zurückzuweisen oder zu verteidigen. Vielmehr wird der Frage nachgegangen, inwieweit populistische 11Politikformen dazu geeignet sind, den »furchtbaren Druck«, der auf den Machtunterworfenen und ihrer Geschichte lastet, tatsächlich zu überwinden, oder ob sie sich ganz im Gegenteil eher als Blockade erweisen.
Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst im ersten Teil des Buches eine systematische Theorie zum Verhältnis von Volkssouveränität, Gesellschaft und Populismus entwickelt (Kapitel 1-3), in deren Mittelpunkt die folgenden Thesen stehen: Der Populismus ist in der Art, wie das politische und rechtliche System konstitutionalisiert, d.h. in der demokratischen Verfassung miteinander verknüpft sind, als Kommunikations- und Handlungsoption angelegt. Er übernimmt eine spezifische Funktion, indem er die Volkssouveränität im Sinne einer konstituierenden Gegenmacht in die regulären Verfahren des politischen Systems einführt, um die jeweiligen Eliten und Funktionsträger:innen abzulösen (Populismus als Politikform) und öffentliche Amtsmacht zu erobern (Populismus an der Macht). Obwohl sich verschiedene Formen von Populismus durchaus unterscheiden, weisen sie doch ein gemeinsames soziales Substrat auf. Sie treten in Situationen auf, in denen die strukturellen Kopplungen unterschiedlicher Sozialsysteme wie insbesondere Politik, Recht und Wirtschaft in Krisen geraten (populistische Momente). Populistische Politikformen lassen sich demnach nicht nur im Hinblick darauf untersuchen, mit welchen Ideologien sie verknüpft sind und wie sie ihr Volk der Volkssouveränität jeweils bestimmen, sondern auch, inwiefern sie aussichtsreich auf die jeweiligen Krisen reagieren und eine transformative Veränderung bewirken (Kritik des Populismus).
Auf diesen Thesen aufbauend werden im zweiten Teil des Buches unterschiedliche Etappen einer Problemgeschichte nachgezeichnet. Dabei wird ersichtlich, wie der Bezug auf das Volk in die Geschichte eintrat und schrittweise zur Fundierungsnorm der Politik avancierte. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Veränderungen gelegt, die Volkssouveränität und Populismus über die Jahrhunderte durchliefen.
Zu Beginn dieser Problemgeschichte wird analysiert, wie die Grundstrukturen der Volkssouveränität schon in den frühen Volksbezügen des katholischen Kirchenvolks (populus dei) und der Stadtstaaten (popolo) angelegt waren (Kapitel 4). Beide Entwicklungslinien werden in der Folge in einem sich von der Gesellschaft 12und der Kirche lösenden Bereich politischer Herrschaftsausübung miteinander kombiniert. Dies mündet mit den bürgerlichen Revolutionen des 18.Jahrhunderts in ein modernes Verständnis der Volkssouveränität (Kapitel 5). Fortan gerät der Populismus in ein Spannungsverhältnis zum prozeduralen Legitimationsmodell, wie es in den einschlägigen bürgerlichen Vertragstheorien angelegt ist. Dies hält die sozialen Bewegungen des 19.Jahrhunderts indes nicht davon ab, wieder auf die Verkörperung des Volkes zurückzukommen (Kapitel 6). Sie bringen sich als Volk der Arbeit in Stellung, das in den ökonomischen Produktionsverhältnissen begründet ist. Damit verschiebt sich die Fragestellung zudem dahingehend, ob der Volkswille überhaupt als Ausgangspunkt für eine gelingende soziale Transformation tauglich ist. Eine sozialwissenschaftliche Aufklärung, an die die marxistisch geprägte Arbeiterbewegung anschloss, identifizierte Fehlstellungen und kritisierte eine populistische Lesart der Volkssouveränität. Doch ließ sich diese Lesart nicht einfach verdrängen. Der Kampf um die demokratische Volkssouveränität avancierte vielmehr zum Kernprojekt der sozialen Bewegungen. Das politische System inkludierte das Volk als Masse in seine...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | AfD • aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Eliten • Globalisierung • Neuererscheinung • neues Buch • STW 2452 • STW2452 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2452 |
ISBN-10 | 3-518-78108-1 / 3518781081 |
ISBN-13 | 978-3-518-78108-1 / 9783518781081 |
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