Pop-up-Propaganda (eBook)

Epikrise der russischen Selbstvergiftung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
337 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2038-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pop-up-Propaganda -  Irina Rastorgueva
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Während innerhalb Russlands das Verbot kritischer Medien und die Gleichschaltung der verstaatlichten Sender eine beinahe karikaturhafte Erzählung über traditionelle Werte und die Notwendigkeit der »Militärischen Spezialoperation« hervorbringen, arbeiten sorgfältig geplante Propagandaaktionen im Rest der Welt an der Destabilisierung demokratischer Gesellschaften. Ein planmäßiger Wahnsinn überzieht das Land. Er zeigt sich in inflationär gebrauchten Euphemismen und Hassrede, als Denunziation und in einem bis ins Subtilste durchdachten Strafregime. Und es ist ein Wahnsinn mit Geschichte. Denn die Gewalt, die die russische Gesellschaft unerbittlich im Griff hat, ist eine Fortführung der paranoiden Suche nach Feinden, der nächtlichen Verhaftungen, Durchsuchungen und Folterungen sowie der Gulags aus dem Sowjetregime - in grellem, neuem Gewand und verschmolzen mit dem Gangstertum der Neunzigerjahre. In ihrem einzigartigen Ton, der so präzise wie ironisch ist, zeigt Irina Rastorgueva in einer Montage aus Zeitungsfundstücken und unabhängigen Berichten, aus der eigenen Erfahrung genauso wie aus der Analyse kremlkritischer und russlandtreuer Autoren das Wirken der russischen Selbstvergiftung.

Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin für mehrere russische Zeitschriften und Radiosender. 2006 bis 2015 war sie Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über die Theorie und Geschichte der Literatur und des Journalismus des 20. Jahrhunderts. 2011 gründete sie das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin und künstlerische Produktionsleiterin des Far Eastern Theatre Forum / Theatre go round Festival in Sapporo (2015). Seit 2017 arbeitet sie als Autorin und Grafikerin in Berlin. Sie schreibt u. a. für die FAZ, die NZZ und das Magazin Osteuropa. Gemeinsam mit Thomas Martin übersetzt sie und gibt die Werke von Georgi Demidow im Verlag Galiani heraus.

Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin für mehrere russische Zeitschriften und Radiosender. 2006-2015 war sie Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über die Theorie und Geschichte der Literatur und des Journalismus des 20. Jahrhunderts. 2011 gründete sie das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin und künstlerische Produktionsleiterin des Far Eastern Theatre Forum / Theatre go round Festival in Sapporo 2015. Seit 2017 arbeitet sie frei als Dramaturgin und Regisseurin in Berlin und schreibt u. a. für die Berliner Zeitung, die FAZ und das Magazin Osteuropa. Seit 2021 hält sie Vorlesungen an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Department Design.

Vorwort


Am 9. September 2004 veröffentlichte Anna Politkowskaja im Guardian einen Artikel mit dem Titel »Poisoned by Putin« (»Von Putin vergiftet«) über ihre Reise nach Beslan (Nordossetien), als Terroristen die Schule stürmten, und darüber, wie russische Sicherheitsdienste versuchten, sie im Flugzeug zu vergiften und sie wie durch ein Wunder überlebte. Sie schreibt darüber, wie damals, im Jahr 2004, fast alle Journalisten über das wahre Bild der Geschehnisse in Beslan gelogen haben, dass niemand das Vorgehen der Spezialdienste kritisierte, infolge dessen beinahe zweihundert Kinder starben. Nur ein Journalist der Zeitung Iswestija berichtete offen über die Geschehnisse und wurde sofort gefeuert. Im letzten Absatz schreibt Politkowskaja: »Wir rasen zurück in den sowjetischen Abgrund, in ein Informationsvakuum, das den Tod durch unsere eigene Unwissenheit heraufbeschwört. Alles, was wir haben, ist das Internet, wo es noch freien Zugang zu Informationen gibt. Ansonsten gilt: Wenn Sie weiterhin im Journalismus arbeiten wollen, vergessen Sie nicht, dass Sie Putin gegenüber absolut unterwürfig sein müssen. Andernfalls droht der Tod, die Kugel, Gift oder ein Prozess – je nach dem, was unsere Spezialdienste, Putins Wachhunde, für richtig halten.«

Politkowskaja wurde an Putins Geburtstag am 7. Oktober 2006 im Aufzug ihres Wohngebäudes im Zentrum Moskaus erschossen. Die Person, die den Mord angeordnet hat, wurde nie gefunden. Und sie war nicht das einzige Opfer von Putins Regime. Die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen führt an, dass Russland bei der Zahl der ermordeten Journalisten in Europa führend ist. Seit 2001 wurden in Russland mindestens 37 Medienmitarbeiter umgebracht.

Jeder, der seither versuchte, der Kreml-Propaganda die Wahrheit entgegenzusetzen, wurde entweder getötet oder verließ Russland. In Spuren sickert die Realität immer noch durch Telegram-Kanäle und Onlinemedien, aber jetzt sind nicht nur diejenigen, die die Wahrheit schreiben, in Gefahr, sondern auch diejenigen, die sie lesen. Und natürlich sollten wir nicht vergessen, dass die Loyalität gegenüber der Propaganda nur diejenigen satt macht, die sich an ihrer Verbreitung beteiligen, während sie den Konsumenten, also der großen Mehrheit der Bevölkerung, lediglich eine Nachahmung des Lebens bietet, eine schlafwandlerische Existenz in gut gepolsterter Unwissenheit.

Im Vierteljahrhundert von Putins Herrschaft hat sich die Kreml-Propaganda so weit von der Realität entfernt, dass sie zu einem eigenständigen Bild der Welt geworden ist, in der nicht nur die Behörden, sondern auch ein großer Teil der Bevölkerung lebt. Bis 2008 ging es in der Propaganda um Stabilität, die Überwindung der Krise, die Bekämpfung des Terrorismus, den Aufbau einer Machtvertikale mit dem Ziel der Herstellung von Ordnung im Land. Damals wurde durch die Propaganda im öffentlichen Bewusstsein die Annahme geformt und verstärkt, dass Putins Kandidatur alternativlos sei und von der Mehrheit unterstützt werde. Später kamen der Hass auf den Westen, die Bildung von inneren und äußeren Feindbildern und die Idee einer Rückkehr zur schönen sowjetischen imperialen Vergangenheit hinzu. Seit 2012 hat sich das Feindbild endgültig gefestigt und die Propaganda ist immer aggressiver und militaristischer geworden. Und mit dem Ausbruch eines umfassenden Krieges in der Ukraine hat Russland zusätzlich eine Zensur über alles Militärische verhängt, und den Medien und Nutzern sozialer Medien ist es gesetzlich verboten, Informationen zu veröffentlichen, die von den staatlich verbreiteten abweichen.

Über die russischen Propagandisten von heute könnte man ein eigenes Buch schreiben. Fast alle von ihnen waren einmal Journalisten, einige von ihnen sogar begabte. Es ist kaum zu glauben, aber 2002 sagte Wladimir Solowjow im ein Jahr zuvor von der Gazprom-Media Holding übernommenen Sender NTW: »Ein Journalist muss seinem Publikum gegenüber verantwortlich sein, und Präsident Putin ist kein Gott, der uns das Recht auf Wahlfreiheit vorenthält.« Und dann wurde er zu einem der wichtigsten Sprachrohre des Putinismus und kaufte sich zwei Villen am Comer See in Italien. Jetzt ist Wladimir Solowjow ein Befürworter der Wiedereinführung der Todesstrafe, ein Liebhaber der sowjetischen Unterdrückung und sagt oft, dass die russische Armee in die baltischen Staaten ein- und durch Berlin hindurchmarschieren sollte. Dmitrij Kisseljow, der die Welt heute mit Atomwaffen bedroht, weigerte sich im Januar 1991, eine zensierte Version der gewaltsamen Auflösung von Demonstrationen in Vilnius zu lesen, wofür er von der lettischen Regierung mit einer Medaille ausgezeichnet wurde. Er hatte einst als Journalist in der Ukraine gearbeitet und vertrat absolut prowestliche Ansichten.

Es sind diese Leute, die mit großem Aufwand täglich Kreml-Narrative in die Köpfe der Russen hämmern, ihren Glauben an Putins Unverzichtbarkeit und die Aggressivität des Westens stärken und den Hass auf die Ukraine und die sogenannten Vaterlandsverräter fördern. Mit leichter Hand haben sie dafür gesorgt, dass Russland im Fernsehen und in der Realität zu völlig unterschiedlichen Ländern geworden sind. Heute kann ich diese Leute nicht als Journalisten bezeichnen, genauso wenig wie Putin als Präsidenten.

Bevor ich dieses Buch geschrieben habe, habe ich drei Jahre lang russische Nachrichten aus einer Vielzahl von Quellen gelesen – unabhängige TV-Nachrichtenkanäle, elektronische Publikationen wie Meduza, Novaya Gazeta, Radio Liberty, SOTA, OVD-Info und andere sowie staatliche Nachrichtenseiten wie RIA Novosti, TAS und sogar Russia Today, ich sehe gelegentlich Folgen von Solowjow, Itogi Nedeli (»Ergebnisse der Woche«) mit Kisseljow, die Talkshow 60 Minuten mit Olga Skabejewa und Jewgeni Popow, Sendungen wie StopFake, die nichts anderes tut, als falsche Informationen zu verbreiten, und so weiter.

Ich lese täglich mehrere Hundert Nachrichten aus verschiedenen Quellen. Nach den ersten fünf verblasst die Realität: »Ein Mann wollte sich vor dem Gebäude des Innenministeriums verbrennen und wurde beschuldigt, die russische Armee zu verunglimpfen«; »Aufgrund von Überschwemmungen wurden die Einwohner von Kurgan über die Unterbrechung der Wasserversorgung informiert und aufgefordert, einen Wasservorrat anzulegen – 16,5 Badewannen pro Person«; »In Orenburg nahm eine Einwohnerin eine Videobotschaft an Putin auf, in der sie sich über schlechte Straßen, fehlende Schulen, Kindergärten und öffentliche Verkehrsmittel beklagte – daraufhin kamen die Ordnungshüter zu ihr«. Überflüssig zu sagen, dass sie nicht in friedlicher Absicht kamen.

Dieses Buch ist eine Collage aus Fakten, Nachrichten, Artikeln und Studien, aus Notizen und Mitteilungen von Freunden, Familienangehörigen und Bekannten, aus den Anweisungen verschiedener Menschenrechtsorganisationen, es ist eine Collage von Absurdität, Angst und Gewalt. Ich führe die Quellen im Einzelnen nicht auf, denn das würde ein Drittel des Buches einnehmen und die Informationen, auf die ich mich beziehe, sind leicht zu finden. Einige für die Neue Zürcher Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschriebene Artikel habe ich für dieses Buch überarbeitet. Auch könnten ununterbrochen und »grenzenlos« verschiedenste Details und Erläuterungen hinzugefügt werden, aber mir scheint, dass das hier Geschriebene ausreicht, um zu verstehen, wie die russische Propagandamaschine arbeitet und warum als Ergebnis dieser erbarmungslos verrichteten Arbeit Menschen sterben und Städte zerstört werden, was diejenigen antreibt, die Kriegsgegner als Verräter an ihrem Heimatland bezeichnen und warum sie bereit sind, ihre eigenen Kinder dem Tod zu überlassen.

Was in Russland, mit Russland, zwischen anderen Ländern und Russland geschieht, ist vom Standpunkt der Rationalität und Logik aus kaum zu beschreiben. Dieses Geschehen sprengt den Rahmen der »Normalität«, sodass es sich, egal, wie man es beschreibt, als dystopischer Roman mit Elementen des Absurden oder als Lehrbuch der Psychiatrie erweist. Davon unbenommen funktioniert die »Gesellschaft des Spektakels«, wie sie der französische Situationist Guy Debord bereits in den 1960er-Jahren beschrieben hat, weiterhin. Auf der einen Seite steht der Männerchor: Keine Waffen, Kälte, miese Ausrüstung, Ratten, Mäuse, schlechtes Essen, kein Wasser, kein Geld, wir werden alle hier sterben. Der Chor der Frauen auf der anderen Seite: Bringt die Männer, Väter, Söhne zurück, sie haben keine Ausrüstung, nur Ratten und Mäuse, sie hungern und frieren, bringt sie zurück. Putin sitzt in der Mitte und trifft sich mit Witwen und mit Kindern, die keine Männer, keine Väter mehr haben: Weihnachten, das orthodoxe, ist das familiärste Fest, sagt er, herzlichen Glückwunsch. Die Ukraine erstickt...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Desinformation • Frieden • Hassrede • Ironie • Kreml • Krieg • Propaganda • Putin • Putinismus • Russland • Sowjetunion • Spezialoperation • Vladimir Putin • Zensur
ISBN-10 3-7518-2038-8 / 3751820388
ISBN-13 978-3-7518-2038-7 / 9783751820387
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