Unversehrt. Frauen und Schmerz (eBook)

Wie blickt unsere Gesellschaft auf weiblichen Schmerz? | Eine feministische Erkundung | Für Leserinnen der SPIEGEL-Bestsellerautorin Mely Kiyak | Gender Pain Gap

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0755-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unversehrt. Frauen und Schmerz - Eva Biringer
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»Ein Mann bekommt Schmerzmittel. Eine Frau etwas für die Nerven.«

Wie weiblicher Schmerz unterschätzt, übergangen und abgewertet wird. Eine feministische Erkundung

Männer sollen stark sein, Frauen sind es angeblich nicht. Dabei bekommen sie Kinder und schmerzhafte Perioden, sie leiden häufiger an chronischen Schmerzen und sind stärker von häuslicher und sexueller Gewalt betroffen. Gleichzeitig wird ihr Schmerz weniger ernst genommen und schneller ruhiggestellt: Auf einen schmerzmittelabhängigen Mann kommen gut doppelt so viele Frauen.

Was müssen Frauen ertragen, und was tun sie sich selbst an? Gibt es eine spezifische Form von weiblichem Schmerz, und wenn ja, wo liegt sein Ursprung? Und wie könnte eine Welt aussehen, in der weiblicher Schmerz Gehör findet?

In ihrem ersten Buch »Unabhängig« zeigt Eva Biringer, wie sich vor allem Frauen mit Alkohol betäuben, um in einer gegen sie gerichteten Welt funktionieren zu können.

Mit »Unversehrt« legt Eva Biringer den Finger in die Wunde einer Gesellschaft, die den Schmerz der Frauen systematisch abwertet und gleichzeitig fetischisiert. In der Männerkörper in der Medizin noch immer die Norm sind, Schmerz als Währung für erbrachte Leistung und Lustgewinn akzeptiert ist, während seine unfreiwillige Variante betäubt oder disqualifiziert wird.

Ein autobiografisches Plädoyer, weiblichen Schmerz ernst zu nehmen und ein Aufruf an alle Frauen, ihn in etwas Machtvolles zu verwandeln.




<p>EVA BIRINGER, geboren 1989 in Albstadt-Ebingen, hat Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft studiert. Als freie Autorin schreibt sie unter anderem für <i>Die Zeit</i>, <i>Welt am Sonntag</i>, <i>Der Standard</i>, <i>Merian</i>, <i>Berliner Zeitung </i>und <i>Salon </i>über Stil- und Kulturthemen. Sie lebt in Wien und Berlin.</p>

Einleitung


Meine
Großmutter

Wenn ich an meine Großmutter denke, sehe ich eine Frau vor mir, die mit Bauchschmerzen auf dem Sofa liegt.

Es plagte sie ein Schmerz, gegen den sie ihr Leben lang ankämpfte. Er ließ sie ohne ihr Deifelszeig, wie ihr Hausarzt die von ihm verordneten Schlaf- und Beruhigungsmittel nannte, nicht schlafen, und er hinderte sie an Sonntagsausflügen ebenso wie am genussvollen Essen. Es war ein Schmerz, den meine Großmutter wahrscheinlich immer schon hatte.

Dabei war das Schicksal meiner Großmutter so sehr nichts Besonderes, dass es fast nicht erwähnenswert scheint. Als uneheliches Kind geboren, aber in der Obhut einer liebevollen Oma aufgewachsen. Einfache Verhältnisse, aber keine Armut. Im Winter ein unbeheiztes Schlafzimmer, so kalt, dass der Atem Wolken bildete, aber keine Frostbeulen, und später im Leben ein unaufhörlich bollernder Ölofen – fünfundzwanzig Grad in ihrem Wohnzimmer waren keine Seltenheit. Aufgewachsen im Weltkriegs- und Nazideutschland, aber fernab vom Kriegsgeschehen. Vielleicht keine Liebesheirat, aber sicher keine gewalttätige Ehe und vermutlich eine, in der man sich auf Basis gegenseitigen Respekts arrangierte. Ein früh verstorbenes Kind, aber dafür zwei gesunde. Eine beachtliche Krankenakte, ja, aber hat nicht jeder seine Zipperlein?

Und doch steht meine Großmutter sinnbildhaft für ein Frauenschicksal des letzten Jahrhunderts. Für die gesellschaftliche Erwartung, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, andere dafür umso mehr. Dafür, den eigenen Schmerz zu überhören beziehungsweise zu überfühlen, weil es, weil alles ja muss. Um dann, wenn sich der Schmerz doch einen Weg bahnt, ruhiggestellt zu werden.

Wirklich gesund scheint sie nie gewesen zu sein. Schon als sie so alt war wie ich jetzt, Mitte dreißig, ruhte meine Großmutter viel auf dem Sofa, neben sich griffbereit die Flasche Hirschquelle Heilwasser mit extra wenig Kohlensäure, weil die besser war für ihre Verdauung. Kopf- und Bauchschmerzen habe sie schon damals ständig gehabt, erinnert sich meine Mutter, unternehmungslustig sei sie nie gewesen und immer voller Sorgen. Einmal wurde sie auf Kur geschickt. Entsetzlich fand sie es dort, so weit weg von zu Hause, von ihrer Familie getrennt, im Doppelzimmer mit einer Unbekannten. Das Essen bekam ihr nicht, die sogenannten Anwendungen, fremde Hände auf ihrem Körper, waren ihr, die sich weder Kosmetikerinnen- noch Friseurbesuche gönnte, hochgradig suspekt. Zurück zu Hause schwor sie sich: nie wieder Kur. Zusätzlich zum Magen machte einige Jahre später auch noch die Galle Probleme und wurde schließlich durch einen den ganzen Bauch entlang verlaufenden Schnitt entnommen. Statt einer Verbesserung hatte sie anschließend mit noch mehr Verdauungsproblemen zu kämpfen als zuvor. Von nun an saß ihr ständig die Angst im Nacken, es nicht rechtzeitig auf eine Toilette zu schaffen, was sie selbst kurze Autofahrten, wenn möglich, unbedingt vermeiden ließ. Spätestens da war ihr Körper ihr zum Feind geworden. In den folgenden Jahren verbrachte meine Großmutter wie viele ältere Menschen eine Menge Zeit in Arztpraxen, wohin meine Mutter sie oft begleitete. Ihr Hausarzt behandelte sie drei Jahrzehnte lang. Interessanterweise richtete Dr. Stolz das Wort öfter an die Tochter der Patientin als an diese selbst, so als wäre meine Großmutter ein Kind. Seine all die Jahre über unveränderte Haltung: Frau Blickle ist im Grunde kerngesund. Traumhafte Blutwerte, stabiles Herz-Kreislauf-System. Und der Bauch – ja, was soll man machen. Wenn jemand tagein, tagaus hochsensibel in sich hineinhört, findet sich immer was. Magen-Darm-Tee trinken soll sie, bei gutem Wetter öfter mal vom Sofa auf die Terrasse wechseln. Sonnenschutz nicht vergessen! Und wenn beides nicht hilft: ihr Deifelszeig nehmen.

Meine Großmutter führte viele Jahre lang Tagebuch. In bewundernswert sauberer Handschrift und mit einer Sorgfalt, die an die fleißige Volksschülerin erinnert, die sie einmal gewesen war, notierte sie darin, was sie gegessen und getrunken hatte, welche Predigten sie gehört, wie viele Körbe Laub gekehrt, mit wem sie telefoniert, wer ihr Endivien gebracht und wann sie den Ölofen angezündet hatte, bisweilen sogar, wie oft sie auf die Toilette gegangen war. »Wochenputz hinten«, »Ofen entrußt«, »Glatteis im Hof gesalzen«, »Geranien eingepflanzt«, »alle Polster gebürstet & entstaubt«, solche Hinweise finden sich zuhauf.

Ab und an notierte sie, gut geschlafen zu haben oder etwas wie »mittags war es erträglich«. Die positivste Formulierung: »Ein arbeitsreicher, erträglicher, gesegneter Tag.« Auch ging es ihr besser, wenn sie mit ihrer Nachbarin telefoniert oder einen Friedhofschwatz gehalten hatte, Besuch von ihren Kindern bekam, einen tröstenden Anruf von meiner Stiefmutter oder einen von mir: »Eva rief aus Berlin an und hat allerhand erzählt, aber ich konnte nur ein paar Worte mit ihr reden.« Bekam sie ein Paket von einer Freundin, notierte sie »so groß, schrecklich«, als glaubte sie, es nicht verdient zu haben.

Hauptsächlich jedoch ist ihr Tagebuch eins über ihre Leiden. Meistens schien es ihr schlecht zu gehen. »Schon wieder Bauchweh, überall Schmerzen. Ein schmerzhafter, trauriger Tag, ein trostloser, ein schrecklich schmerzhafter Tag. Zum Sterben elend. Total nervös«. »Blitze in Knie und Hand«, ein juckender Hautausschlag auf der Brust. Magenkrämpfe fühlten sich an »wie mit einem Messer reingestochen«. »Ein ganz verzweifelter, elender, kranker Sonntag« heißt es da oder »so hundeelend, konnte kaum essen«. Mal ist sie »ganz verrückt nervös«, mal »zittrig-verzagt«. Über einen ersten Advent schreibt sie: »Einen so kranken, elenden Tag hab ich noch nie erlebt, so verzweifelt, ich kann nur beten, liegen u. den Bauch wärmen.« Den Bauchschmerzen begegnete sie mit einem warmen Kirschkernsäckle, Flohsamenkuren und einer Heizdecke, von der wir immer fürchteten, sie könnte in Flammen aufgehen. Darüber hinaus hielt der altmodische Aufklappspiegel im Bad noch ganz andere Optionen bereit, von pflanzlichen Beruhigungstropfen bis hin zu stark abhängig machenden Benzodiazepinen, die als Beruhigungs- und Schlafmittel verordnet werden. Ihr Deifelszeig. Mit Blick auf deren Nebenwirkungen drängt sich mir die Frage auf, ob das, was meine Großmutter quälte, nicht damit zusammenhing. In ihren eigenen Worten: »Nervenschock, ich dachte, es ist aus. Puls verrückt. Ich bin total erledigt & verzweifelt« oder »Nachts eine Herz- oder Nervenattacke, ich dachte zu sterben«.

Auf den ersten Blick gleichen die Tagebücher meiner Großmutter jenen Morgenseiten, die von Mental-Health-Göttinnen als Kreativmethode empfohlen werden. Mit einem Unterschied: Bei meiner Großmutter findet sich kein Stream of Consciousness, kein innerer Monolog, sondern maximal Verweise auf »Denken«. Je detaillierter sie Alltägliches festhielt, desto weniger Raum blieb für das Dazwischen. »Im Kopf und Leib ein Durcheinander«, »geträumt von Sorgen und Krank- und Alleinsein«. Wovon genau? Abgesehen von einzelnen Adjektiven wie »mies«, »durcheinander« oder »schrecklich« nehmen ihre Träume keine Gestalt an. Nur ein einziges Mal wird sie konkret: »Kind geboren, schrecklicher Traum.« Am liebsten schien ihr gedankliche Leere zu sein: »Bis halb sechs ins Kissen geschlüpft und nichts denken.« Ins Kissen schlüpfen: So sprach sie vom Dösen.

All das hat, denke ich, nichts mit mangelndem Reflexionsvermögen zu tun und schon gar nichts mit mangelnder Sorgfalt, das beweisen ihre nachträglichen Korrekturen und unterstrichenen oder mit Fragezeichen versehenen Worte. Wohl eher fehlte ihr für alles nicht den Körper Betreffende schlicht die Sprache. Für eine Frau ihres Jahrgangs war es nicht vorgesehen, die Stimme zu heben und ihrem Innersten Ausdruck zu verleihen. Wer hätte ihr schon zuhören sollen?

Offenbar ging es ihr besser, wenn sie mit jemandem sprechen konnte. Meistens jedoch war sie allein, mit einem gegen die Stille anplärrenden Fernseher, oder in ihren Worten: »Mit keinem Menschen nur 1 Wort geredet.« Auch wenn jenes Dorf, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, voller bekannter Gesichter war, führte das nicht zwangsläufig zu einem regen Sozialleben. In einer anonymen Großstadt wäre es sicher noch viel schlimmer gewesen, aber auch in ihrem Heimatdorf konnte es passieren, dass sie auf dem Friedhof und dem Weg dorthin niemand Bekannten traf. Zwiesprache hielt sie dann nur innerlich, am Grab ihres sechzehn Jahre vor ihr verstorbenen Mannes.

Was wäre wohl aus meiner Großmutter geworden, wenn ihren Nöten mehr Gehör geschenkt worden wäre? Wenn sie ihr Heilwasser nicht mit einem Medikamentencocktail gemischt hätte? Wieso nahm niemand ihre Schmerzen ernst?

Als eine Tochter ihrer Zeit war sie eine des Krieges, der Unterordnung, der Depression und nicht zuletzt der Sprachlosigkeit über alles, was sie selbst betraf. Sie führte ein Leben für andere, deren Wohlergehen, aber auch deren Schmerz. Selbstloses Kümmern, Pflege aus Liebe, prinzipiell kostenlos, dafür mit hohen Kosten für sich selbst verbunden. Gleichzeitig glaubte sie, keinen Raum einnehmen, niemandem eine Last sein zu dürfen. Als ich hörte, dass meine Großmutter ihr Leben lang von der aufgehenden Sonne aus dem Schlaf gerissen wurde, machte mich das traurig und wütend. Warum hatte nie jemand Rollläden oder blickdichte Vorhänge angebracht? Weil sie wohl nie darum gebeten hatte. Bescheidenheit und Bedürfnislosigkeit waren ihr anerzogen worden, jede Form von unnötiger...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Krankheiten / Heilverfahren
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Sozialpsychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Sucht / Drogen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Medizin / Pharmazie Allgemeines / Lexika
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Gynäkologie / Geburtshilfe
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • Diskriminierung • Ethik • Feminismus • Frauen und Medizin • Frausein • Geburt • Gender Data Gap • gender pain gap • Körper • Körperlichkeit • Krankheit • Medizin • Medizingeschichte • Migräne • Neuer Feminismus • Periodenschmerz • PMS • Rollenbilder • Schmerzen • Trauma • Wechseljahre • Weiblichkeit
ISBN-10 3-7499-0755-2 / 3749907552
ISBN-13 978-3-7499-0755-7 / 9783749907557
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