Geschichte der baltischen Länder (eBook)

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2024 | 4. Auflage
130 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-82365-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichte der baltischen Länder -  Ralph Tuchtenhagen
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Jahrhundertelang wurden Esten, Letten und Litauer von mächtigen Rittern, Großgrundbesitzern und finanzkräftigen Stadtbürgern regiert. Erst der schwedische Absolutismus, die Altersschwäche des russischen Kaiserreiches, die Industrialisierung und die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts haben die Entstehung der heutigen baltischen Staaten ermöglicht.

RALPH TUCHTENHAGEN, Professor für Skandinavistik/Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, schildert die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen, welche die nordöstlichen EU-Staaten bis heute prägen.

III. Mittelalter (13.–16. Jahrhundert)


1. (Alt-)Livland


Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gelangten die heutigen Territorien Estlands und Lettlands dauerhaft unter die Herrschaft fremder Mächte. Die «Ostmeer-Heiden», wie sie in den Gesta Danorum des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus (*ca. 1150, †1220) genannt werden, unterhielten zu diesem Zeitpunkt mit ihren Nachbarn (Karelier, Tavasten/Hämäläiset, Finnen, Wikinger, Novgoroder Rus’, Königreiche Dänemark und Schweden) bereits seit mehreren Jahrhunderten weit ausgreifende Handelskontakte oder waren mit ihnen in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Das Erbe dieser frühen Begegnungen übernahmen nach der Gründung Lübecks (1158/59) und dem Aufkommen der Hanse in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mehr und mehr Kaufleute, christliche Missionare und Kreuzritter aus dem Norden des Heiligen Römischen Reiches. Sie wirkten dabei eng zusammen. Der Handel mit der noch nicht christianisierten Bevölkerung im südlichen und östlichen Teil der Ostsee war für die hansischen Fahrtgemeinschaften lukrativ, aber wegen der weit verbreiteten Seeräuberei auch gefährlich. Die Kaufleute brauchten den bewaffneten Schutz der Kreuzfahrer, die ihrerseits mit Hilfe der Kirche versuchten, die eingesessene Bevölkerung zu christianisieren und zu unterwerfen.

Bei der Kirche stießen solche Bestrebungen auf offene Ohren. Die religiöse Erneuerungsbewegung des 11. und 12. Jahrhunderts und die Entstehung zahlreicher neuer Orden führten zu Missionsbestrebungen, die sich im 12. Jahrhundert vor allem auf die slavischen, baltischen und ostseefinnischen Gebiete der südlichen und östlichen Ostseeküste konzentrierten. Nachdem eine um 1180 begonnene friedliche Missionierung der Düna-Liven durch den vom Bremer Erzbistum entsandten Segeberger Augustiner-Chorherren Meinhard (?–​1196) gescheitert war, erklärte der Papst das Livenland zum Kreuzzugsgebiet. Nach wechselnd erfolgreichen Unternehmungen schwedischer, dänischer, gotländischer und deutscher Ritterheere in den Jahren 1197 und 1198 gelang es schließlich dem wiederum vom Bremer Erzbistum entsandten Bischof Albert de Bekeshovede (auch: Albert von Bexhövede oder Buxhövden, *ca. 1165, †1229) im Jahre 1200 im Rahmen einer konzertierten Aktion von Kreuzrittern und Kaufleuten aus Gotland, Sachsen, Westfalen und den rechtselbischen Gebieten, nach Absprache mit dem rivalisierenden dänischen König Knud VI. (1182–​1202) und mit dem Segen des Papstes, einen Kreuzzug ins Livenland zu unternehmen, der 1201 zur Gründung des Hafens und der Stadt Riga (lett. Rīga) an der Dünamündung führte. In Riga wurde 1201 oder 1202 ein Dom mit einem eigenen Kapitel errichtet. Der Papst erklärte die Stadt und ihre Umgebung zum Marienland, das als Grundlage zur Belehnung von Kreuzrittern diente und damit zur Entstehung eines livländischen Vasallentums beitrug. Den Schutz des Landes übernahm schon bald ein von Kreuzrittern aus dem Gebiet zwischen Soest und Kassel 1204 oder 1205 gegründeter Ritterorden, die fratres milicie Christi de Livonia (Brüder der Ritterschaft Christi zu Livland), die nach ihrem Mantelwappen, einem Kreuz über einem nach unten zeigenden Schwert auch «Schwertbrüder» genannt wurden. Als Bischof Albert den Stauferkönig Philipp von Schwaben (1198–​1208) im Jahre 1207 als Lehnsherren gewann, wurde das Livenland ein Lehen des Heiligen Römischen Reiches.

Da Bischof Albert mit Hilfe des Schwertbrüderordens immer mehr Eroberungen ostseefinnischer und baltischstämmiger Gebiete auf sein eigenes Erfolgskonto buchen konnte, war der Orden gezwungen, sich anders zu profilieren, wollte er nicht zusehen, wie sein Machtstatus gegenüber dem Bischof zunehmend sank. 1208 brach er im Bündnis mit den Rigaer Kaufleuten und den Tālava-Letten einen mit kürzeren Unterbrechungen 20 Jahre lang tobenden Esten-Krieg vom Zaun, in den nach und nach und in wechselnden Koalitionen auch der Bischof von Riga, die Städte Novgorod und Pskov (dt. Pleskau), das Königreich Dänemark und die Kurie in Rom hineingezogen wurden. Die Rigaer Kaufleute und die Tālava-Letten rächten sich dabei für gewalttätige Übergriffe von Esten. Der Orden kämpfte um Macht und Ansehen gegenüber dem Bischof, der nun um seine dominierende Stellung im Kreuzzugsland fürchten musste. Novgorod und Pskov verteidigten vorgebliche Tributrechte gegenüber den Esten. Dänemark erhob Ansprüche auf das Estenland als Missionsgebiet des Erzbistums Lund. Und die Kurie wahrte ihre Rechte auf Zuteilung eroberter Kreuzzugsgebiete an die Kreuzfahrer. Die Einzelheiten des Esten-Krieges können hier vernachlässigt werden. 1218 waren bis auf die Insel Saaremaa (dt. Ösel) alle estnischen Verbände besiegt. Als die Kurie nach der Entsendung eines Kreuzfahrerheeres unter dem Dänenkönig Valdemar II. Sejr (1202–​1241) sowohl den Dänen als auch den Deutschen das Missionsrecht zusicherte, zog sich der Krieg, in dessen Verlauf wahrscheinlich die Stadt Reval (estn. Tallinn = dän. Danskerborg, 1219; vielleicht aber auch erst um 1235) gegründet wurde, noch weitere Jahrzehnte zwischen den Konfliktparteien hin, bis das Estenland 1227 endgültig unter die Botmäßigkeit der Schwertbrüder und der Kurie gelangte.

Nach der Eroberung entwickelte sich in Livland und Estland eine eigene Sozialstruktur, die von der zugewanderten Geistlichkeit, dem Adel und Bürgertum auf der einen und den ostseefinnischen und baltischen Einwohnern auf der anderen Seite bestimmt war. Die überwiegend aus dem nördlichen Sachsen und Holstein, aber auch aus Westfalen, Ostsachsen, den Königreichen Frankreich und Dänemark stammenden Geistlichen waren aufgrund ihrer Herkunft aus Klöstern, geistlichen Orden und Stiften zumeist gut ausgebildet und versahen ihren Dienst als Missionare und Seelsorger unter der baltischen und ostseefinnischen Bevölkerung wie auch unter den anderen Deutschen. Sie waren in geistlichen Orden wie den Augustinerchorherren, Zisterziensern, Schwertbrüdern, Dominikanern oder Franziskanern organisiert. Darüber hinaus bestand Livland aus vier Diözesen (Riga seit 1202, Dorpat seit 1210, Ösel-Wiek seit 1217, Kurland seit 1234), während Estland seit 1219 ein Suffraganbistum des dänischen Erzbistums Lund bildete. Die Bischöfe fungierten als Oberherren der Kirche wie des Landes. Als Kirchenherren waren sie der Kurie in Rom, als Landesherren dem Römischen Kaiser lehnsrechtlich verpflichtet. Doch beschränkte sich die Herrschaftsausübung von Papst und Kaiser auf gelegentliche Interventionen bei Konfliktfällen, vor allem zwischen Bischöfen und Orden oder livländischen Ständen und außerlivländischen Mächten.

Der Adel setzte sich teils aus bischöflichen Vasallen, teils aus Ritterbrüdern zusammen. Die Vasallen fungierten als Vögte und Burgherren, also als kirchlicher Dienstadel. Dessen Existenzgrundlage war das Lehen, auf dem er Mühlen zur Steigerung seiner Einkünfte betrieb und als Guts-, Gerichts- und Zinsherr über die Bauern regierte. Hier lag der Ursprung der Erbuntertänigkeit der Zinsbauern. Die Zahl der von ihr Betroffenen nahm seit dem 13. Jahrhundert stetig zu. Zwischen den Vasallengeschlechtern gab es durch Erbteilung gewaltige Unterschiede nach Vermögen und Rang. Aber auch der Stillstand der territorialen Expansion, Kriege, Seuchen u.ä. hatten einen Einfluss auf Prosperität und Armut und führten in einigen Fällen sogar zum Verschwinden von Vasallengeschlechtern.

Eine weit größere Unabhängigkeit genoss der Ritteradel. Der Schwertbrüderorden lebte nach eigener Regel. Der Orden vom Sankt-Marien-Hospital der deutschen Jerusalemfahrer (Ordo fratrum hospitalis sanctae Mariae Theutonicorum Ierosolimitanorum), kurz: der Deutsche Orden, hatte die Regel des Templerordens übernommen. Die Mitglieder beider Orden entstammten überwiegend dem Ministerialien-, teilweise auch dem edelfreien und bürgerlichen Stande und kamen meist aus Thüringen, Westfalen, aus dem Rheinland und den oberdeutschen Landschaften. Nach der Niederlage des Schwertbrüderordens gegen die Litauer und seiner Inkorporation in den Deutschen Orden (1237) waren im Deutschen Orden bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2024
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Baltikum • Baltische Staaten • Estland • Geschichte • Lettland • Litauen • Nationalismus • Ostsee • Republik • Sowjetunion • Unabhängigkeit • Wissen
ISBN-10 3-406-82365-3 / 3406823653
ISBN-13 978-3-406-82365-7 / 9783406823657
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