Wachstum bremsen oder untergehen (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491987-4 (ISBN)
Timothée Parrique, geboren 1989 in Versailles, ist Wirtschaftswissenschaftler und an der Universität Lausanne (Schweiz) an der Faculté des Hautes études commerciales im Bereich der ökologischen Wirtschaftsforschung tätig. Seine Doktorarbeit aus dem Jahr 2019 beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen von Degrowth. Er ist in der internationalen Degrowth- und Klimaschutz-Bewegung sehr bekannt und zählt zu den wichtigsten Kritikern des Wachstumsprinzips.
Timothée Parrique, geboren 1989 in Versailles, ist Wirtschaftswissenschaftler und an der Universität Lausanne (Schweiz) an der Faculté des Hautes études commerciales im Bereich der ökologischen Wirtschaftsforschung tätig. Seine Doktorarbeit aus dem Jahr 2019 beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen von Degrowth. Er ist in der internationalen Degrowth- und Klimaschutz-Bewegung sehr bekannt und zählt zu den wichtigsten Kritikern des Wachstumsprinzips. Andrea Hemminger ist promovierte Philosophin. Sie übersetzt seit vielen Jahren philosophische und sozialwissenschaftliche Literatur aus dem Französischen, darunter Werke von Michel Foucault, Esther Duflo, Manon Garcia und Pierre Charbonnier. Sie lebt in Frankreich.
Einleitung Die Ökonomie, eine Frage von Leben und Tod
Bei dieser Art von Büchern wäre es üblich gewesen, zunächst festzustellen, dass unsere Lage extrem ernst ist. Ich hätte die gewohnte Bestandsaufnahme der ökologischen Kataklysmen und ihrer sozialen Folgen vorgenommen, einige schockierende Zahlen herausgegriffen und mit der einen oder anderen Geschichte garniert, um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch warum Zeit verlieren? Jeder weiß, dass es ein Problem gibt, das in der Geschichte der Menschheit ohnegleichen ist. Der Umweltkollaps,[1] mit dem wir nunmehr konfrontiert sind, fordert jeden Tag seinen Tribut an Katastrophen, und nur wenige würden es jetzt wagen, die abgrundtiefe Verantwortung unserer Spezies zu bestreiten.
Willkommen im Anthropozän. So nennen die Wissenschaftler die mit dem Beginn der industriellen Revolution zusammenfallende Zeit, »in der die menschlichen Aktivitäten starke Auswirkungen auf die Ökosysteme der Erde haben und diese auf allen Ebenen verändern«.[1] Es wäre also die Menschheit als Ganzes (anthropos), die skandalöse Sapiens-Familie, der die Verantwortung für die Apokalypse zukommen würde: eine allgemeine Schuld, für die sich jeder Einzelne gleichermaßen zu schämen hätte und die nur kollektiv gesühnt werden könnte.
Wirklich die ganze Menschheit? 2021 besaßen die reichsten 10 % der Haushalte der Welt 76 % des Gesamtvermögens und vereinnahmten mehr als die Hälfte aller Einkünfte, womit sie über 38-mal mehr Vermögen und sechsmal mehr Einkommen verfügten als die ärmste Hälfte der Menschheit.[2] Schlimmer noch: Die reichsten 1 % (lediglich 51 Millionen Menschen) haben 38 % des gesamten seit 1995 geschaffenen Wohlstands empfangen, während die ärmste Hälfte der Menschheit nur 2 % erhalten hat. Die gleiche Situation herrscht in einem Land wie Frankreich, wo das reichste Dezil fast die Hälfte des nationalen Vermögens besitzt und ein Drittel des gesamten Einkommens vereinnahmt.[3]
Wer von einem Recht auf Vermögen spricht, spricht auch von einem Recht auf Verschmutzung. Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung sind für die Hälfte der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich.[2] Zwischen Reichtum und Emissionen besteht eine nahezu perfekte Symmetrie. Diese »Verschmutzungselite«[3] verschmutzt viermal mehr als die ärmste Hälfte der Menschheit.[4]
Diese »globale Apartheid«[4] stellt eine doppelte Ungerechtigkeit dar: Die Reichen verschmutzen die Umwelt, und die Armen leiden darunter. Der somalische Fischer, der mitansehen muss, wie seine Fische immer weniger werden und wie der Meeresspiegel steigt, hat wahrscheinlich noch nie ein Flugzeug genommen; er war weder an der Erwärmung, die er erbt, noch an der Überfischung beteiligt. Trotzdem wird er den vollen Preis dafür bezahlen, und zwar als einer der Ersten. Es sind die verwundbarsten Bevölkerungsgruppen, angefangen bei jenen in den ärmsten Ländern, die verschmutztes Wasser trinken, giftige Dämpfe einatmen, in der Nähe von Mülldeponien leben, unter Überschwemmungen und Hitzewellen leiden etc. Der Begriff des Anthropozän täuscht über tiefe Ungleichheiten hinweg: Selbst wenn wir alle derselben Spezies angehören, sind wir weder gleich in Bezug auf die Verantwortung noch in Bezug auf die Gefahren, denen wir angesichts der Umweltkatastrophen von heute und morgen ausgesetzt sind.
Um es klar zu sagen: Der ökologische Kollaps ist keine Krise, sondern eine Misshandlung.[5] Der Klimawandel ist eine »langsame«[6] und diffuse Gewalt, eine Abnutzung, die sich allmählich und außerhalb der Sichtweite vollzieht und heute vor allem die am stärksten verarmten Bevölkerungsgruppen trifft, nach und nach aber die soziale Leiter emporklimmen wird. Diese Situation hat nichts mit einer vermeintlichen menschlichen Natur zu tun, sondern ist vielmehr das Symptom einer spezifischen sozialen Organisation, die eng mit einer bestimmten politischen Weltanschauung verbunden ist. Das ist zumindest die Argumentation, die ich mit diesem Buch vertreten werde: Die Hauptursache für die ökologische Entgleisung ist nicht die Menschheit, sondern der Kapitalismus, die Vorherrschaft des Ökonomischen über alles andere und das hemmungslose Streben nach Wachstum.
Vergessen wir also das Anthropozän und ziehen die Begriffe Kapitalozän, Ökonozän und BIPozän vor.[7] Reden wir nicht um die Sache herum: Die Wirtschaft ist zu einer Massenvernichtungswaffe geworden. Der Ökonom Serge Latouche greift in seinen Schriften die Terminologie von Hannah Arendt auf und spricht von der »ökonomischen Banalität des Bösen«:[8] einem System, das das Massaker am Lebenden orchestriert und gleichzeitig die Schuld derjenigen verwässert, die dafür verantwortlich sind. Jeder macht sich emsig an seine Arbeit und rechtfertigt sein Handeln, indem er sich sagt, wenn er beschließen würde, dies nicht zu tun, würden es andere an seiner Stelle tun.
Wie viele Bankangestellte sind damit beschäftigt, toxische Finanzprodukte zu erfinden, und wie viele Ingenieure bemühen sich, Superyachten zu entwerfen? Wie viele Führungskräfte entlassen aus »ökonomischen« Gründen? Wie viele Werbefachleute werben für schädliche und sinnlose Produkte? Wie viele Schlachthofarbeiter misshandeln und töten Tiere maschinell? Wie viele Lobbyisten lügen, um die Interessen der fossilen Energien zu schützen? Ich muss doch meine Rechnungen bezahlen, werden diejenigen antworten, denen man vorwirft, die Welt zu zerstören. Wenn ich es nicht tue, wird es jemand anderes an meiner Stelle tun.
Diese Gewalt ist ein zutage tretendes Phänomen, eine Art spontane Unordnung, die niemand direkt vorausgeplant hat und die unsere unspektakulärsten sozialen Verhaltensweisen bis zur Absurdität aufrechterhalten. Wir müssen einen Kredit zurückzahlen, eine Rechnung begleichen, die Aktionäre zufriedenstellen, Umsatz machen; wir sind Geiseln eines Systems, das teilweise Verhaltensweisen vorgibt, die ansonsten als unmoralisch gelten würden.
Würden wir unseren Freunden Geld zu Wucherzinsen leihen? Würden wir Werbung machen, um unsere Angehörigen zu nötigen, Produkte zu kaufen, die sie nicht brauchen? Würden wir uns dafür entscheiden, einen Freund zu entlassen, weil jemand am anderen Ende der Welt billiger arbeiten kann? Nein, freilich nicht. Wenn die Kobaltmine in meinem Garten läge und meine Kinder darin arbeiten würden, würde ich es mir zweimal überlegen, ob ich schon wieder ein neues Mobiltelefon brauche.
Dennoch haben wir keine Wahl. Die Ökonomie drängt sich uns mittels bestimmter Regeln auf, die wir vereinbarungsgemäß respektieren müssen: einen Preis, einen Arbeitsvertrag, einen Immobilienkredit, Buchhaltungsrichtlinien. Das Problem ist nicht die Existenz der Ökonomie an sich (jede Gesellschaft hat ihre produktiven Aktivitäten schon immer auf die eine oder andere Weise organisiert), sondern die Regeln, die wir ihr heute geben, sowie das zentrale Ziel, das sie antreibt: Wachstum. Egal, ob es sich um das Einkommen von Individuen, den Gewinn der Unternehmen oder das BIP eines Landes handelt, scheint in der Ökonomie mehr immer gleichbedeutend mit besser zu sein.
Was ist Wachstum? Das Wort ist allgegenwärtig, wird aber nie wirklich erklärt und noch weniger dekonstruiert. Als magisches Argument in Wahlkampagnen, als unverwüstliche Antwort auf die Verzweiflung der Haushalte hat es die Vorstellungswelt unserer Zeitgenossen so sehr durchdrungen, dass keiner von ihnen sich noch verbietet, seine Meinung zu diesem Thema zu äußern. Doch wenige wissen nicht nur, was das Wachstum ist und wie es gemessen wird, sondern auch, welche komplexen Verbindungen es zu Natur, Beschäftigung, Innovation, Armut und Ungleichheiten, Staatsverschuldung, sozialem Zusammenhalt und Wohlstand hat. In den 1930er Jahren aus einem buchhalterischen Begriff (dem Bruttonationalprodukt) geboren, ist es zu einem Mythos mit tausend Konnotationen geworden. Fortschritt, Prosperität, Entwicklung, Schutz, Innovation, Macht, Glück – das Wachstum ist nicht mehr nur ein Indikator, sondern ein symbolisches Gefäß, das mit kollektiven und individuellen Projektionen angefüllt ist.
Grünes Wachstum, kreislaufförmiges Wachstum, inklusives Wachstum, blaues Wachstum; fünfzig Nuancen von Wachstum, aber noch immer Wachstum. Der Einfluss dieser Wachstumsmatrix auf unsere kollektive Vorstellungswelt ist so groß, dass wir uns, anstatt uns über die Folgen unseres Wirtschaftsmodells für den Planeten Gedanken zu machen, um die Auswirkungen der Klimaerwärmung auf das BIP sorgen. Das ist eine verkehrte Welt. Wir können uns unseren Planeten leicht in allen möglichen Dystopien im Stil von Black Mirror vorstellen, sich aber eine Wirtschaft vorzustellen, in der weniger produziert wird als heute, kommt der Häresie gleich.
Früher hatte das Wachstum eine klare Funktion: die Ankurbelung der amerikanischen Wirtschaft nach der Großen Depression, die Herstellung der für den Krieg wichtigen Ausrüstung, die Überwindung des Hungers, die Beseitigung von Armut, die Gewährleistung von Vollbeschäftigung oder den Wiederaufbau Europas. Seine Messung erlaubte, den Fortschritt auf diese verschiedenen Ziele hin einzuschätzen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde der Indikator zum Ziel: Wachstum um des Wachstums willen, ohne jeglichen zugrunde liegenden Zweck. Doch produzieren um des Produzierens willen...
Erscheint lt. Verlag | 27.11.2024 |
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Übersetzer | Andrea Hemminger |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Armut und Klimakrise • Bruttosozialprodukt Kritik • Degrowth • Degrowth Einführung • grünes Wachstum • Kapitalismus-Kritik • Klimawandel • Kreislaufwirtschaft Grenzen • Lebensqualität • Nachhaltigkeit • Natürliche Ressourcen • Ökologie und Wirtschaft • overshoot • Postwachstum • Postwachstumsgesellschaft • Postwachstumsökonomie • Soziale Ungleichheit • Suffizienz-Strategie • Umweltpolitik • Umweltschutz • Ungleichverteilung • Wirtschaftssystem • Wirtschaftswachstum |
ISBN-10 | 3-10-491987-9 / 3104919879 |
ISBN-13 | 978-3-10-491987-4 / 9783104919874 |
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