Der darstellende Mensch (eBook)

Kunst, Leben, Politik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-28194-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der darstellende Mensch -  Richard Sennett
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Ein höchst aktuelles Buch über die komplexe Macht nonverbaler Kommunikation. Das neue Buch des großen Soziologen Richard Sennett
In immer mehr Ländern beherrschen Demagogen die politischen Bühnen. Was sie alle eint, ist die Fähigkeit, ihre Anhänger mitzureißen, sie sind begnadete Darsteller. Ausgehend von dieser beunruhigenden Tatsache untersucht Sennett die ambivalenten Beziehungen zwischen Darstellung in der Politik, in der Kunst und im täglichen Leben und macht uns bewusst: Wenn alle dieselbe nonverbale Welt der körperlichen Gesten und Inszenierung teilen, können auch die Rollen und Rituale des alltäglichen Handelns bösartig oder erhebend, repressiv oder befreiend sein. In weitgespanntem Bogen führt Sennett durch Spielarten des darstellenden Menschen vom Redner im antiken Athen bis zum Straßenmusiker in Harlem. Dabei entsteht eine Partitur der Performance, die erkennen lässt, worauf es ankommen könnte in diesem Spiel: die Bewahrung der Freiheit.

Richard Sennett lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und an der New York University. Er ist der Autor von u. a. 'Der flexible Mensch'. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Die offene Stadt (2019), der dritte Teil seiner Homo-Faber-Trilogie nach Zusammenarbeit (2012) und Handwerk (2008).

Vorwort:
Auf der Bühne


Der Autor stellt seine Ware aus

Eine Kunst


»Die ganze Welt ist Bühne«, sagt der »melancholische Jacques« in Shakespeares Wie es euch gefällt. Das ist kein neuer Gedanke. Das Bild des Lebens als Bühne oder Theater lässt sich bis in die Antike zu dem römischen Dichter Juvenal zurückverfolgen, bei dem es heißt: »Ganz Griechenland ist eine Bühne, und alle Griechen sind Schauspieler«, wie auch nach vorn bis zu dem amerikanischen Soziologen Erving Goffman, der meinte, das »soziale Leben« sei »ein Mosaik aus Darbietungen« unterschiedlichster Art. Der Gedanke verdeckt allerdings mehr, als er enthüllt.

Als ich mit der Niederschrift dieses Essays über die Gesellschaft und die darstellenden Künste begann, beherrschten diverse Demagogen die Bühne der Öffentlichkeit. Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Bühnenaufstellung, Beleuchtung und Kostümierung sind nonverbale Mittel, die bei Darbietungen aller Art zum Einsatz kommen, ebenso wie Tempowechsel bei Sprache und Klängen oder die ausdrucksstarke Bewegung von Händen und Füßen.

Tatsächlich ist Darstellung eine der Künste — eine unreine Kunst. Wir sollten keinesfalls versuchen, ihr krummes Holz zu begradigen, indem wir Darstellungen an die richtigen sozialen Werte ketten. Das war Rousseaus Gedanke, den er Mitte des 18. Jahrhunderts in seinem Brief an d’Alembert über das Schauspiel darlegte, und das ist auch, was autoritäre Regime von jeher tun. Reinheit im Namen der Tugend ist zutiefst repressiv. Wir sollten die Kunst in ihrer ganzen Unreinheit verstehen wollen. Doch genauso sollten wir auch Kunst schaffen wollen, die moralisch gut ist, und zwar ohne jede Unterdrückung. Ein antiker Gott zeigt, wie das gehen könnte.

Janus waltet über den Dingen


Wenn jemand als »janusköpfig« bezeichnet wird, ist damit gemeint, dass er unaufrichtig sei. Das Gesicht, das er der Welt zeigt, entspricht nicht seiner wahren Person. Die Römer sahen Janus anders. Er war ein Gott des Übergangs, des Durchgangs, der Möglichkeiten. Der erste Tag im Januar ist nach ihm benannt, weil er den Gang über eine zeitliche Schwelle markiert. In der Antike brachte man über Türen oder Toren Plaketten mit dem Januskopf an, um den Übergang von der Straße ins Innere des Hauses zu kennzeichnen.

Alle römischen Rituale begannen mit einem Gebet an Janus, und die Menschen hoffen auf eine gute Zukunft. Er war jedoch kein Gott, der für Ruhe und Sicherheit stand. Als Gott der Übergänge und Verwandlungen eröffnete er den Weg durch Zeit und Raum, ließ das Ziel aber im Unbestimmten. So hielten frühchristliche Theologen Janus im Unterschied zu Jesus für einen grausamen Gott, weil er sich weigerte, die Gebete der Menschen zu erhören und ihnen zu sagen, wie die Dinge ausgehen würden. Janus tat nur eines: Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die neue Seite im Kalender, auf die Plakette über der Tür. Diese Unbestimmtheit hat jedoch auch ihre gute Seite.

Darstellende Kunst, im guten janusköpfigen Geiste ausgeführt, konzentriert sich auf den Prozess statt auf ein festgelegtes, fertiges Ergebnis. Darbietungen verändern sich mit der Zeit, weil es keine festgelegte Bedeutung gibt. Gute Künstler suchen stets nach Möglichkeiten, ein Werk mit neuer Frische zu erfüllen, es einen Schritt weiter zu treiben, es anders zu machen. Und ebenso fordert eine offene Darbietung die Zuschauer auf, sich an der Reise des Ausdrucks zu beteiligen, statt der Reise des Darbietenden passiv zuzuschauen. Janusköpfige Kunst ist zwar offen, aber durchaus nicht ohne Form. Mit wachsender Erfahrung lernt der Künstler die besonderen Punkte kennen, an denen Ausdruck sich verändern lässt — und wie ihm das gelingt.

Ich bilde mir nicht ein, die offene, im Zeichen des Janus stehende Ausübung der Kunst werde die Macht der manipulativen, bösartigen Darbietung auflösen. Auch bösartiger Ausdruck ist emotional überzeugend. Doch die Ausübung von Kunst kann dem entgegenwirken, indem sie ein Modell für Freiheit anbietet — eines, in dem nicht mehr der Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit vorherrscht und Ausdruck stattdessen zur Erkundung wird.

Eine berüchtigte Phrase


Ich habe noch nie der berühmten Behauptung geglaubt, dass »die Vergangenheit ein fremdes Land« sei. Wie mag es gewesen sein, als afrikanischer Krieger im 17. Jahrhundert gefangen, versklavt und nach Amerika gebracht zu werden? Natürlich können wir diese Erfahrung nicht in all ihren Einzelheiten verstehen, doch es wäre absurd, wenn wir bestreiten wollten, dass wir sie als menschliche Wesen sehr wohl nachempfinden können. Umgekehrt sind wir keine derart besonderen Wesen, dass dieser Krieger nicht in der Lage wäre, uns zu verstehen. Aus demselben Grunde wäre es schiere Arroganz, wenn man meinte, Platon, Machiavelli oder Kant hätten uns nichts Relevantes zu sagen, weil sie — Pech für sie — vor der Moderne lebten.

In meiner ganzen schriftstellerischen Arbeit habe ich nach dem gesucht, was die Menschen über Zeiten und Räume hinweg miteinander verbindet. Die Unterschiede, die es gibt, können Möglichkeiten des Lebens oder Ausdrucks offenlegen, die untergegangen oder durch Macht erstickt worden sind. Die Vergangenheit ist Kritik an der Gegenwart.

Dieses Buch


Daher die Geschichte, die ich hier erzähle. Buch I betrachtet die beunruhigende, mehrdeutige, gefährliche Macht darstellerischen Ausdrucks. Buch II untersucht die Orte, an denen Darbietungen stattfinden, und genauer noch die schrittweise Trennung der Bühnen von den Straßen. Buch III geht der Frage nach, wie der Darsteller in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte als eigenständige Person hervortrat. Buch IV schaut auf den Zuschauer, dessen Rolle heute im Dunkeln liegt. Buch V versucht zu klären, wie die Dunkelheit sich durch würdigere Formen der Darbietung ein wenig erhellen ließe. Buch VI macht sich Gedanken über die Frage, wie Darstellung sowohl die Politik als auch das alltägliche Leben emporheben könnte.

Ich


Ich nähere mich der Darstellung und Darbietung aus einer besonderen persönlichen Perspektive als Darbietender. In meiner Jugend bereitete ich mich darauf vor, Berufsmusiker zu werden, und spielte hauptsächlich klassische Kammermusik. Dann arbeitete ich als Klangkünstler für experimentelle Tanzgruppen. Eine Handverletzung und ein fehlgeschlagener chirurgischer Eingriff setzten meinem Cellospiel ein Ende, und auch in der Klangkunst verlor ich den Mut. So vollzog ich denn eine große Wende und fand eine Nische als Autor von Schriften über die Gesellschaft, vor allem über Arbeit in Städten und die Gestaltung öffentlicher Räume. Auch in diesem neuen Leben schlug ich mir das alte nicht vollkommen aus dem Sinn.

Zweimal habe ich versucht, die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft auf soziologischer Ebene zu untersuchen — zunächst 1977 in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens und dann, vierzehn Jahre später, in Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Welchen akademischen Wert diese Bücher auch haben mögen, sie wurden jedenfalls nicht aus der Perspektive des Künstlers geschrieben. Als Musiker weiß ich von jeher, dass eine große Gefahr besteht, darstellende Kunst oder Musik auf eine simple Manifestation, eine Abbildung der Gesellschaft zu reduzieren. Die ethischen Probleme des Darstellens und Aufführens liegen jedoch tiefer, und zwar innerhalb der Kunst.

»Darstellung« und »Aufführung« decken ein breites Spektrum an Darbietungen ab. Ich wollte, meine Erfahrungen mit der...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2024
Übersetzer Michael Bischoff
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Performer Art, Life, Politics
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bühne • Demagoge • Kunst • Macht • Performance • Politik • Preisgekrönt • Schauspieler • Shakespeare • Soziologie • Theater • Trump • Urbanistik
ISBN-10 3-446-28194-0 / 3446281940
ISBN-13 978-3-446-28194-3 / 9783446281943
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