Leid - Die emotionalen Wellen des Lebens (eBook)
208 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-31744-7 (ISBN)
Dieses Buch hilft, den eigenen Weg durch Leidensphasen zu finden
Wer schon einmal eine schwere Lebensphase durchgemacht hat, kennt das Problem: Offenes, angemessenes Leiden ist ein gesellschaftliches Tabu. »Halb so wild« oder »das wird schon wieder«, heißt es da. Diese Haltung ist gleichermaßen tief in unserem Leistungsdenken verwurzelt wie auch schädlich. Denn die Bagatellisierung verhindert den Aufbau nötiger Resilienz, sagt Dr. Nady Mirian. Leid gehört unweigerlich zum Leben dazu. Was wir brauchen, ist ein neuer gesellschaftlicher Blick, der uns den Raum zur individuellen Verarbeitung von Trauer und Schmerz ermöglicht.
Dieses Buch ist ein mutmachender und wohlüberlegter Aufruf, unser Recht auf Leiden fernab von Tabus, Scham und Effizienzdenken zurückzuerobern.
»Nady Mirian ist eine einzigartige Kennerin der menschlichen Seele. Ein großes Buch für alle, die tiefer blicken wollen.« Gilda Sahebi
»Ein Universum existentieller Gefühle zwischen zwei Buchdeckeln, in dem Leid sein darf. Aushalten, atmen, annehmen.« Nora Hespers
»Ein Must-Read über das Menschsein - und eine nuancierte Antwort darauf, warum es sich lohnt, das Durcheinander namens Leben mit beiden Händen zu ergreifen.« Shila Behjat
Dr. Nady Mirian hat die Frage nach einem konstruktiveren Umgang mit Leid zum Kern ihrer Arbeit gemacht. Die Deutsch-Iranerin ist neben ihrer Arbeit als approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin auch als Dozentin an der Universität zu Köln für Historische Bildungsforschung und Bildungswissenschaften tätig. Sie hat zudem an der Universität Paris Nanterre gelehrt und intensiv zur Geschichte der Psychiatrie, Resilienz und Cybermobbing geforscht.
Unsere Gesellschaft sagt: »Betäube dein Leid«
Die Theorie lässt alles so leicht aussehen: Ein Schluck belebendes Zitronenwasser, Yoga und Meditation, ein bewusstes Essverhalten, den Wecker auf 5.00 Uhr stellen, um das meiste aus jedem Tag zu machen. Das sollen hilfreiche Tipps sein, um den Alltag zu gestalten. Heißt es zumindest häufig in den sozialen Netzwerken.
Routine ist gut und Struktur auch. Aber warum hypen wir seit Jahren derartigen »How I healed my pain«-Content, der uns diese Ratschläge als ultimative Wahrheiten, um uns von allerlei Leid zu befreien, verkaufen will? Tatsache ist, dass wir die Posts, Videos und Reels dieser Art wohl schlicht gerne anschauen, sonst würden sie nicht weiter produziert. Irgendetwas in uns muss heilen. Wir schauen diese Videos mit Wissbegierde – aber mit welchem Ziel?
Vermutlich sind wir so »lost« in unserem Leid, dass wir diese Anleitungen von außen brauchen, um unser bislang unbekanntes Gefühl der Schwere zu betäuben. Das ständig positive, ritualisierende und strukturierte Weitermachen ist Teil der heutigen Pseudo-Heilkultur. Die »Think-positive«-Indoktrination, in der wir gefangen sind, ist für mich kaum auszuhalten.
Ich tendiere eher dazu, mich an realistischen und nahbaren Lebensgeschichten zu orientieren. Es sind die Menschen hinter diesen Erlebnissen und Erzählungen, deren Leid- und Lebenserfahrung, deren Leidverarbeitung und -offenbarung mich stärken und ermutigen, weiterzumachen.
Der Schriftsteller und Philosoph David Foster Wallace prägte mich nicht nur mit seinen Werken, sondern auch mit seiner Biografie. Er war aber auch alkoholabhängig und litt an einer schwergradigen Depression, sodass er 2008 sein Leben beendete. Wundert es dich, weshalb ein alkoholabhängiger und depressiver Mensch mich inspiriert, vor allem beruflich auch als Psychotherapeutin?
Das ist ganz einfach zu erklären, denn die Diagnosen und sogar seine eher dysfunktionalen Bewältigungsstrategien sagen für mich nicht viel über den Menschen aus, dem sie attestiert werden, aus. Denn hinter den Diagnosen steckt viel mehr: In den Interviews, die ich mir ansah, und in den Texten, die ich las, beeindruckte mich seine offene, ehrliche und intelligente Art und Weise, über seine Wunde, die Depression, in Austausch zu gehen. An Depressionen zu leiden ist für Betroffene sehr schwierig. Es ist eine psychische Erkrankung, die nicht nur unsere Gefühle sediert, sondern uns die Freude am Leben nimmt. Es ist für mich eine der schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen, an denen Menschen leiden können. Zum einen lähmt die depressive Verstimmung die Betroffenen geradezu, zum anderen setzt unsere schnelllebige Gesellschaft sie unbewusst unter Druck, funktionieren zu müssen. Betroffene fühlen sich hierüber noch schlechter, da das Verständnis von außen oftmals nicht adäquat ist. Die eigene Verletzlichkeit in all seiner Ernsthaftigkeit zu zeigen – und zwar nicht als leichtverdauliche Posts in den sozialen Netzwerken –, braucht jede Menge Mut.
Wallace zeigte Mut, indem er versuchte, mithilfe verschiedener therapeutischer Unterstützungen gegen seine Depression vorzugehen, das inspiriert mich. Er hielt an seinen Zielen fest, schrieb seine Bücher und lehrte als Professor, um nur einige Beispiele zu nennen. Das ist nicht so einfach, wie es von außen aussieht. Ich habe viel mit Klient*innen gearbeitet, die an Depressionen litten und mir häufig sagten, dass es sowohl sehr schwierig für sie sei, die Depression an sich als auch ihrem Umfeld das eigene Empfinden der Depression zu beschreiben. Es ist ein innerer Kampf, den man mit sich und dem Umfeld austrägt. Es gibt vielleicht Worte, die das Krankheitsbild beschreiben können. Schwieriger wird es, wenn man versucht, die Depression zu beschreiben, weil diese sich je nach Persönlichkeitsstruktur unterschiedlich äußern kann.
Mit 22 Jahren schrieb Wallace einen Text für die Studentenzeitung The Amherest Review namens »The Planet Trillaphon«. Darin schreibt er von einem jungen depressiven Menschen, der aufgrund seiner Depression, der »üble[n] Sache« und der starken Medikamente, zum Planet Trillaphon geschickt wurde.21 Auf dem Planeten Erde war kein Platz mehr für ihn. In dieser Erzählung beschreibt Wallace die Depression bildlich als eine Ganzkörper-Magen-Darm-Grippe, bei der der gesamte Körper wehtut und dir am gesamten Körper übel ist: »Du und die Übelkeit, ihr werdet ›eins‹, wie man so sagt«.22
Um seine eigene Depression in den Griff zu kriegen, probierte der Schriftsteller jahrelang mehrere Therapiearten aus: Psychotherapie, Psychopharmaka, Elektrokrampftherapie. All diese Versuche unternahm er in der Hoffnung, seine Depression heilen zu können. Diese Ikone der Wissenschaft und Literatur, als die ich Wallace sehe, verlor mit 46 Jahren den Kampf gegen seine Depression. Wallace kämpfte, bis er nicht mehr konnte. Dieser Kampf, dieser Wille, die Depression immer wieder behandeln zu wollen, sich Hilfe zu suchen, inspirierte mich sehr. Das eigene Leid für sich anzunehmen, verarbeiten und integrieren zu lernen ist eine bedeutsame Ressource, die viel Mut voraussetzt. Von außen sieht alles häufig so einfach aus. Menschen nehmen Medikamente, gehen zur Therapie und damit hat sich’s – dies ist aber nie wirklich der Fall. Alleine bis Antidepressiva einmal richtig auf einen selbst eingestellt sind, kann es mitunter ein langer und beschwerlicher Weg mit vielen schlaflosen Nächten sein, und auch für jede Therapie gilt: Es ist schon an sich immer sehr schwierig, ernsthaft an sich zu arbeiten, vor allem dann, wenn man an einer schwergradigen Depression leidet.
Wie wir unser schlechtes Verhältnis zu Leid erlernen
Wallaces weltberühmter Vortrag »Fish in the water« aus dem Jahr 2005, den er vor den Absolvent*innen des Kenyon College in Ohio hielt, ist für mich bis heute ein passgenaues Bildnis der Themen Leid und Gesellschaft. Wallace eröffnet seine Ansprache mit einer Parabel über zwei junge Fische im Wasser, die von einem älteren Fisch nach der Temperatur des Wassers gefragt werden. »How is the water?«, fragt der ältere Fisch. »What the hell is water?«, erwidern die jungen Fische.23 Ebenso könnte man den Umgang unserer Gesellschaft mit den eigenen Leiderfahrungen so darstellen. Ich frage dich: »Wie empfindest du das Leiden um dich herum?« Und du antwortest verdutzt: »Was ist Leid?«
Leid ist im gesellschaftlichen Rahmen ein blinder Fleck. Einerseits wissen wir, dass wir alle leiden oder leiden werden, dennoch ist die individuelle Leiderfahrung zu oft ein gesellschaftlich verstecktes Thema. Wir haben das »Leid-geh-weg«-Krankheitsbild, das stetig zu einem rationalen und hochfunktionalen Konstrukt aus Überwachung und Kontrolle heranwächst. Überwachung und Kontrolle erfahren wir vor allem über die Institutionen, in denen wir groß werden.
Denken wir an die Schule als Sozialisationsinstanz, die neben der Bildungsfunktion auch unser Leistungsverhalten optimieren möchte. Die Schule als Institution wird auch von außen gelenkt, unter anderem durch die machtvolle Gesellschaftsordnung des Kapitalismus. Die Funktion des Kapitalismus ist es, dass wir funktionieren, besser, schneller und stärker werden. Dabei gibt es keinen Platz für unsere Gefühle – sie stehen hier im Weg.
Dem Sozialphilosophen Michel Foucault zufolge leben wir institutionell, beispielsweise in Psychiatrien, Gefängnissen oder auch Schulen, in einem Panopticon.24 Das Panopticon, oder auch das panoptische Gefängnis, ist ein Architekturkonzept, das auf den englischen Philosophen und Sozialreformer Jeremy Bentham zurückgeht. Es handelt sich dabei um ein Gefängnismodell, das architektonisch so gestaltet ist, dass Wärter die Insassen aus ihrer Position rund um die Uhr überwachen und kontrollieren können, ohne dass die Insassen wissen, ob und wann sie beobachtet werden. Das ständige Gefühl der Überwachung wirkt disziplinierend, sodass ein Ordnungsprinzip etabliert werden kann, das die Wirkung von Überwachung und Kontrolle entfaltet, ohne dass diese allzeit durch die Wärter vollstreckt wird.25 Foucault griff jenes panoptische Prinzip auf, um zu zeigen, dass diese Machtdynamik in gesellschaftlichen Konstruktionen nicht etwa auf das Gefängnismodell beschränkt ist, sondern auch in anderen Institutionen wie beispielsweise der Psychiatrie oder Schule über Disziplinierung und Überwachung wirkt.
Mit Blick auf das Thema dieses Buches sehe ich einen weiteren Bereich, auf den sich die Wirkmechanismen eines Panopticons übertragen lassen: unseren Umgang mit Leid. Das menschliche Leiden wird von den Menschen, die uns umgeben, kontrolliert, überwacht und vor allem bagatellisiert. Das panoptische Prinzip, das uns umgibt, ist auch hierbei institutionell geprägt:
Mit Eintritt in den Kindergarten erlernen wir einen sittenhaften, gesellschaftlich akzeptierten Umgang mit unseren Gefühlen. Wir bringen Kindern früh Regeln bei, um mit ihren Gefühlen umzugehen. Dies geschieht etwa in Streitsituationen, die für Kinder in Ersterfahrungen sehr belastend sein können. Eine Streitsituation wird häufig pädagogisch »heruntergespielt«, indem die Kinder aufgefordert werden, sich zu entschuldigen und »lieb« zueinander zu sein. Der Streit, die Wut oder die Trauer des Kindes werden dabei nicht genügend thematisiert oder ernst genommen. Doch hierüber erfahren Kinder meiner Meinung nach viel zu wenig Validierung, sie werden stattdessen in ihrer Gefühlswelt beeinträchtigt und lernen dabei, ihre Gefühle selbst zu unterdrücken. Ein Spruch...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Achtsamkeit • Akzeptanz • Angst • cyrulnik • Denken • Depression überwinden • dr. christian peter dogs • eBooks • Emotionen • Essay • Flucht • Gefühle • Gesellschaftskritik • Glücklich • gräfen • Healing • Innere Stärke • Kindheitserinnerung • Krieg • Kultur • Kummer • Kunz • Kurt • Last • leidverarbeitung • Migration • Neuerscheinung • Parastou Forouhar • Persönliches Wachstum • Positiv denken • Privilegien • Psychologie • Psychotherapie • Resilienz • Scham • Scheitern • Seele • Selbstfürsorge • Selbstliebe • Selbstwirksamkeit • Suizid • Tabubruch • teresa enke • Trauer • Trauma • Verlust • was ist normal? • Weinen |
ISBN-10 | 3-641-31744-4 / 3641317444 |
ISBN-13 | 978-3-641-31744-7 / 9783641317447 |
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