Jahre der Angst, Momente der Hoffnung (eBook)

Eine Gefühlsgeschichte der Migration
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491754-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jahre der Angst, Momente der Hoffnung -  Mohammad Sarhangi
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Wie Exil, Fremdheit und Diskriminierung Gefühle prägen »Vom Balkon aus schaute ich auf einen Spielplatz, auf dem Kinder meines Alters umherliefen und sich amüsiert rauften. Nach kurzem Zaudern fragte ich sie, ob ich mitspielen dürfte. Die Antwort war: ?Nein, mit Ausländerkindern spielen wir nicht.? Ich weiß nicht mehr, was ich damals empfunden habe. Im Nachhinein war klar: Künftig würde ich in den Spiegel sehen und einen Ausländer erkennen.« Es sind Ereignisse wie diese, die Gefühle der Ausgrenzung produzieren: Angst, Scham, Wut, Verzweiflung, aber auch Sehnsucht und Hoffnung. Der Historiker Mohammad Sarhangi analysiert, inwieweit die vielfältigen Erfahrungen der Migration die Gefühle von Migrant:innen prägen und formen - auch über Generationen hinweg. Eindrücklich verwebt er seine eigenen Erfahrungen mit Oral-History-Interviews und autobiographischen sowie literarischen Publikationen zu einem aufschlussreichen wie berührenden Buch.

Mohammad Sarhangi, geboren 1980 in Iran und aufgewachsen in Deutschland, ist promovierter Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin). In Zusammenarbeit mit Carolin Emcke und Manuela Bojadzijev wirkte er wissenschaftlich-kuratorisch mit an dem viel beachteten Oral-History-Projekt »Archiv der Flucht« am Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Mohammad Sarhangi, geboren 1980 in Iran und aufgewachsen in Deutschland, ist promovierter Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin). In Zusammenarbeit mit Carolin Emcke und Manuela Bojadzijev wirkte er wissenschaftlich-kuratorisch mit an dem viel beachteten Oral-History-Projekt »Archiv der Flucht« am Haus der Kulturen der Welt (HKW).

Prolog


An den Krieg kann ich mich nicht erinnern.[1] Obwohl er begann, als ich wenige Monate alt war, und noch andauerte, als wir Iran[2] verließen, um nach Deutschland zu migrieren. Vielleicht muss ich etwas präzisieren: Ich kann mich nicht an Gefechtshandlungen, Raketenangriffe oder zerstörte Gebäude erinnern. Was mir jedoch in Erinnerung geblieben ist, sind die Spuren, die der Krieg im zivilen Alltag hinterlassen hatte; die indirekten Auswirkungen des Krieges. Die Ernsthaftigkeit in den Augen meiner Großeltern, die Strenge der Eltern, die zunehmende Traurigkeit in den Straßen, in denen wir Tauben verjagten, der Augenblick, in dem mein Onkel schweigend von der Front heimkehrte und meine Umarmung nicht erwidern konnte, oder die Nächte, in denen wir im Keller des Großelternhauses Schutz suchten.

Eines Nachts fuhren wir mit Familienangehörigen und Bekannten aus der näheren Nachbarschaft im Anhänger des Lastwagens meines Vaters einige Kilometer außerhalb Teherans, um einem möglichen und wahrscheinlich ernst zu nehmenden Luftangriff zu entkommen. Wir blieben einige Tage in einer abgelegenen Steinwüste, wo wir gemeinsam aßen und nachts im Lastwagenanhänger schliefen.

Am Mittag des zweiten Tages lief ich barfuß über den heißen, steinigen Boden, bis ich einen stechenden Schmerz an einem meiner Zehen verspürte. Als ich hinunterblickte, sah ich eine fette Ameise, die sich in meinen großen Zeh festgebissen hatte. Ich brach in Tränen aus und lief humpelnd zu meiner Mutter. Ich flehte sie an, diesen Ort zu verlassen. Mein Vater bemerkte das kleine Drama, woraufhin meine Mutter ihm erklärte, was passiert war. Er schaute mich an, richtete seinen tatarischen Schnurrbart auf meinen Fuß, hievte mich auf die Ladefläche des Anhängers und zerdrückte die Ameise zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne ein Wort zu sagen. Der fette kleine Korpus zerplatzte unter dem Druck seiner Finger.

Wenn ich heute an den Krieg denke, erinnere ich mich vor allem an die Ameisenepisode. Diese und ähnliche Erinnerungen teile ich mit vielen Angehörigen meiner Generation. Damit meine ich jene Generation von Iraner*innen,[3] die kurz vor oder kurz nach der Revolution von 1979 auf die Welt gekommen sind und das Glück hatten, sich durch Flucht und Migration[4] ihrer Eltern der brutalen Konsolidierung der Islamischen Republik und den verheerenden Auswirkungen des Krieges entziehen zu können.

Im Juni 1986 reisten wir in den »Geltungsbereich des Asylverfahrensgesetzes« ein, wie es auf dem Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL)[5] steht, der viele Jahre die Wände meiner wechselnden Arbeitszimmer schmückte, bis ich entschied, dass die Zeit gekommen war, ihn abzuhängen. Diesem Dokument ist zu entnehmen, dass meine Eltern im September 1986 »die Anerkennung als Asylberechtigte« beantragten. Während ihr Antrag im September 1988 bewilligt wurde, lehnte das BAFL meinen Antrag (ich war damals acht Jahre alt) und den meines zweijährigen Bruders ab. Die Ablehnung folgte einer bürokratischen Logik. Unsere »Asylanträge stützen sich«, wie es in dem Bescheid heißt, »auf das Verfolgungsschicksal« unserer Eltern und erfüllten daher »nicht die Voraussetzungen des Artikels 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG)«, wonach nur diejenigen asylrechtlichen Schutz genießen, die gemäß der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 »begründete Furcht vor Verfolgung« aufgrund ihrer »Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe« oder aufgrund ihrer »politischen Überzeugung« haben. Mein zweijähriger Bruder und ich verfügten demnach nicht über ein eigenes Verfolgungsschicksal, und daher drohte uns in unserem Herkunftsland auch keine Gefahr an Leib und Leben oder die Beschränkung unserer persönlichen Freiheit. Die Entscheidung im Wortlaut des Bundesamtes: »Da die Anerkennung eines Ausländers als Asylberechtigter stets eine eigene Verfolgung voraussetzt, kann auch die familiäre Verbundenheit der Antragsteller mit ihren Eltern allein nicht zu ihrer Anerkennung als Asylberechtigte führen.«

Was haben meine Eltern gefühlt, als sie diesen Bescheid erhalten haben? Konnten sie ihn verstehen, oder mussten sie jemanden bitten, ihn zu übersetzen? Woher wussten sie, dass sie dagegen Einspruch erheben konnten? Was sie dann auch taten. Wir zogen nach Hamburg, wohnten in verschiedenen Unterkünften und warteten auf den neuen Bescheid, der im November 1991 eintraf. Die Klage meiner Eltern hatte Erfolg, meinem Bruder und mir wurde die »Rechtsstellung von Asylberechtigten gewährt«. Meine Eltern verbrachten vier Jahre zwischen Angst und Hoffnung. Die Hoffnung auf ein neues, besseres Leben, vor allem für ihre Kinder, und die Angst davor, dass all ihre Mühen umsonst gewesen sein könnten. Und obwohl die Anerkennung als Asylberechtigte anfangs eine große Erleichterung darstellte, wirkte die Angst fort, denn es bestand die Gefahr, dass wir irgendwann wieder zurückkehren mussten. Angst und Hoffnung begleiten meine Eltern noch heute, obwohl wir alle längst die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben. Mein Vater gestand mir erst kürzlich, dass sein Magen noch immer »bebt«, wenn er den Briefkasten öffnet. Die Angst hat sich längst in seinen Körper eingeschrieben – mitsamt den anderen in Zusammenhang mit den Migrationserfahrungen stehenden Gefühlen.

Die Regeln der Migration prägen und produzieren die Gefühlswelt und das Gefühlswissen von Migrant*innen auf tiefgreifende Weise. Ich möchte untersuchen, wie sie es tun. Dieses Buch handelt von Gefühlen, die durch die Erfahrungen der Migration, des Exils, der Fremdheit und der Alltagsdiskriminierung geprägt werden. Gefühle, die wir mit Begriffen wie Verzweiflung, Sehnsucht oder Hoffnung zu beschreiben versuchen, jedoch nicht immer fassen können. Gefühle, die häufig als wiederkehrendes Motiv in den Geschichten von Geflüchteten geschildert werden und in literarischen sowie in filmischen Fiktionalisierungen auftauchen, wie etwa in Philippe Liorets Spielfilm Welcome aus dem Jahr 2009, in welchem ein 17-jähriger kurdischer Junge mit allen Mitteln versucht, nach England zu gelangen, um mit seiner großen Liebe vereint zu sein. Seine verzweifelte Sehnsucht treibt ihn dazu, durch den Ärmelkanal von Calais nach England zu schwimmen. Einen ähnlichen Zustand beschreibt Tahar Ben Jelloun in seinem Roman Verlassen: »Das Land verlassen. Es wurde zu einer Obsession, einer Art Wahn, der ihn Tag und Nacht beschäftigte. Wie sollte er es schaffen, wie der Demütigung entkommen? Weggehen, die Erde verlassen, die ihre Kinder verstößt, diesem schönen Land den Rücken zukehren […].«[6] Und in Dadaab[7], dem größten Flüchtlingslager der Welt, hat die Realität die Fiktion schon längst eingeholt. Dort haben somalische Geflüchtete für ein komplexes Gefühl den Begriff »Buufis« geprägt.[8] Dieser bezeichnet eine geistige Erschöpfung, mehr noch eine geistige Erkrankung, von der es in Dadaab heißt, dass sie wie HIV sei, du wirst sie nicht mehr los: »Es ist eine Art Depression, die in der unauslöschlichen Hoffnung nach einem Leben anderswo wurzelt und gleichzeitig einen Schatten auf das derzeitige Leben wirft.«[9]

Auf den folgenden Seiten stelle ich, basierend auf Quellen und wissenschaftlichen Publikationen, Mutmaßungen über ein Thema an und entwickle eine Theorie, die nicht »wahrer« oder »richtiger« ist als andere Theorien, die sich auf dasselbe Thema beziehen oder sich daran abgearbeitet haben. Meine Thesen entstanden in einer simulierten Diskussion mit den Arbeiten verschiedener Autor*innen und Forscher*innen. In dieser Hinsicht habe ich dieses Buch nicht alleine geschrieben, sondern beim Schreiben immer wieder auf bereits bestehendes Wissen zurückgegriffen. Ohne dieses Wissen, ohne die Arbeiten von Autor*innen und Wissenschaftler*innen, die mich inspiriert haben, wäre es mir gar nicht erst möglich gewesen, ein eigenes Buch zu verfassen. Wann immer ich auf »fremdes Wissen« zurückgreife, mache ich es im Text kenntlich. Die Leser*innen mögen es mir also verzeihen, dass ich im Text viele Bezüge zu anderen Wissensproduzent*innen herstelle und sehr oft aus ihren Texten zitiere. Zuweilen wird sich mein Buch wie eine Art Textcollage lesen. Das ist von mir intendiert. Ich möchte, dass die Leser*innen wissen, woher mein Wissen stammt und was ich damit mache bzw. wie ich damit arbeite.

Der vorliegende Text ist ein Versuch im wahrsten Sinne, ein Gedankenexperiment, das in zehn Jahren womöglich anders ausfallen und andere Erkenntnisse hervorbringen würde. Es ist auf einem weißen Blatt entstanden, und wer »vor einem weißen Blatt Papier sitzt«, erklärt der Soziologe Armin Nassehi, »kann eine ganze Welt erschaffen, indem er sie schreibend fixiert«.[10] Die schreibende Person läuft jedoch Gefahr, dem »Irrtum des weißen Blattes« zu erliegen, denn das »weiße Blatt entzieht sich der Komplexität der Welt geradezu, sein Zugzwang ist nicht die Komplexität des Beschriebenen. Die Zugzwänge des Schreibens verlangen eher Geschichten, die aufgehen, und genau deshalb erzeugt die Praxis des Schreibtisches und des Beschreibens des weißen Blattes meistens kohärente Geschichten, die aufgehen in einer inkohärenten Welt, die eben nicht aufgeht.«[11]

Mein Schreiben ist begrenzt, ebenso die Perspektive, aus der heraus ich versuche,...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abschiebungen • Angststörung • Archiv der Flucht • Armin Nassehi • Asylkompromiss • Asyl-Politik • Didier Eribon • Diskriminierung von Ausländern • Emotionsforschung • Exklusion • Flucht und Migration • Geflüchtete • generationenübergreifende Traumata • Identität • Lisa Feldmann Barrett • muslimischer Antisemitismus • Oral History • Pierre Bourdieu • Rassismus in Deutschland • Suche nach Heimat
ISBN-10 3-10-491754-X / 310491754X
ISBN-13 978-3-10-491754-2 / 9783104917542
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