Ethik der Appropriation (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
87 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3031-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ethik der Appropriation -  Jens Balzer
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Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr »fremder« Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern wie man richtig appropriiert. Kenntnisreich skizziert Balzer im Rückgriff auf die Entstehung des Hip Hop wie auf die erstaunliche Beliebtheit des Wunsches, »Indianer« zu sein, in der bundesdeutschen Nachkriegszeit eine Ethik der Appropriation. In ihr stellt er einer schlechten, weil naturalisierenden und festlegenden, eine gute, ihre eigene Gemachtheit bewusst einsetzende Aneignung entgegen. Ausgehend von dem Denken des Kreolischen Édouard Glissants und Paul Gilroys »Schwarzem Atlantik« sowie der Queer Theory Judith Butlers wird eine solche Aneignungsethik auch zur Grundlage eines aufgeklärten Verhältnisses zur eigenen Identität.

Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor im Feuilleton von DIE ZEIT.

Jens Balzer, geboren 1969, lebt in Berlin und ist Autor im Feuilleton von DIE ZEIT.

1. Wunsch, Indianer zu werden


Ein Fragment von Franz Kafka aus dem Jahr 1912: »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.«1

Eine Kindheitserinnerung aus den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts: Ganze Tage, Nächte, ganze Ferienwochen versinkt der kleine Junge – kaum, dass er lesen gelernt hat – in den grünen Bänden mit den »Reiseerzählungen« Karl Mays. Er lässt sich durch den Orient und das wilde Kurdistan leiten und durch den noch wilderen Westen der USA. Er träumt sich in weite Prärien, bewaldete Gipfel und tiefe Schluchten hinfort, fern der dicht besiedelten Kleinstadtlandschaften, in denen er seine sonst traumlose Kindheit verbringt. Seine Lieblingshelden sind Old Shatterhand, der tapfere Westmann, ein gebürtiger Deutscher, der in den märchenhaften, aber gesetzlosen Gegenden der Neuen Welt für Gerechtigkeit sorgt, und sein Blutsbruder Winnetou, der edle Häuptling der Apachen. Winnetou ist stark und tapfer, aber auch weise und sanft. Er hat wundervolle lange, blauschwarze Haare und lebt im Einklang mit der Natur. Im Kinderzimmer des Jungen hängt ein riesiges Poster von ihm an der Wand: ein »Starschnitt« aus dem Jugendmagazin Bravo. Dieser zeigt den französischen Schauspieler Pierre Brice, der in den deutschen Winnetou-Filmen die Titelrolle verkörpert. Im Sommer reist der kleine Junge mit seinem Vater zu den Karl-May-Spielen im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg, wo die Wildwest-Romane Karl Mays auf einer Freilichtbühne aufgeführt werden. Professionelle Schauspieler verkleiden sich als Indianer und Cowboys, aber auch viele Laiendarsteller aus dem Dorf sind dabei. Erwachsene und Kinder malen sich rote Farbe in das Gesicht und ziehen sich Fransenanzüge aus Wildleder an, sie schmücken ihre Köpfe mit Federkränzen und tanzen wilde Tänze zur Beschwörung von Manitu. Die Karl-May-Spiele sind eine elementare Form des Theaters, wobei die Grenze zwischen der Bühne und dem Publikum durchlässig ist. Wenn die Schauspieler etwas rufen, rufen die Zuschauer zurück, manchmal schießen sie im Publikumsrund auch mit ihren mitgebrachten Platzpatronengewehren. Am Ende dürfen die Kinder nach vorne rennen und die Pferde, auf denen die Indianer und Cowboys eben noch geritten sind, mit Mohrrüben füttern. Die Karl-May-Spiele sind das Bayreuth des kleinen Mannes, eine klassenlose Form der Schauspielkunst, ästhetische Utopie.

Ein Ereignis aus dem Jahr 2021: Auf dem Parteitag der Berliner Grünen wird die Spitzenkandidatin für die Senatswahlen, Bettina Jarasch, nach ihren biografischen Prägungen gefragt. Sie soll etwas Persönliches sagen und als Mensch sichtbar werden. »Was wolltest du werden, bevor du Regierende Bürgermeisterin werden wolltest?«, ist eine Frage. Sie antwortet: »Als Kind wäre ich gern Indianerhäuptling geworden.« Darauf erhebt sich Unmut unter den Delegierten. »Indianer«, das sei eine diskriminierende, koloniale Fremdbezeichnung, heißt es in den parallel zur Bühnenveranstaltung laufenden Chatgruppen. Bettina Jarasch solle sich umgehend für den Gebrauch dieses Wortes entschuldigen. Und es dauert keine zwei Stunden, bis sie es tut. »Ich verurteile meine unreflektierte Wortwahl und meine unreflektierten Kindheitserinnerungen, die andere verletzen können«, sagt sie: »Ich habe einen Ausdruck benutzt, den Menschen als diskriminierend empfinden können, und zwar sehr konkret. Deshalb haben wir die Worte nicht uneingeordnet im Livestream stehen lassen, sondern transparent darauf hingewiesen, dass wir den Ausdruck nachträglich gelöscht haben.« In der Youtube-Aufzeichnung ihrer Befragung ist der Satz »Als Kind wäre ich gern Indianerhäuptling geworden« nicht mehr zu hören, stattdessen kann man eine Texttafel lesen: »An dieser Stelle wurde im Gespräch ein Begriff benutzt, der herabwürdigend gegenüber Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen ist. Wir haben diesen Teil daher entfernt. Auch wir lernen ständig dazu und wollen weiter daran arbeiten, unser eigenes Handeln und Sprechen weiter auf diskriminierende Denkmuster zu hinterfragen.«

So sitzen jene, die einst von Indianern träumten, heute schief in der Luft auf ihren rennenden Pferden. Erst kommen ihnen die Sporen abhanden und die Zügel, dann der Pferdehals und der Pferdekopf, und schließlich schlagen sie unsanft in der Wirklichkeit auf einem Boden auf, der nichts mehr hat von der märchenhaften Wildnis der endlosen Weiten des Westens, sondern sich bloß noch wie glatt gemähte Heide anfühlt.

Wie können sich unschuldige Kindheitserinnerungen in den Skandal einer herabwürdigenden Diskriminierung verwandeln? Das ist die Frage, die nach dem Vorfall auf dem Grünen-Parteitag diskutiert wird. Doch eigentlich wird diese Frage gerade nicht diskutiert. Es wird überhaupt nicht diskutiert, weil sich das Meinungsfeld sogleich in erwartbarer Weise in zwei unversöhnliche Lager zerteilt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Umgang mit der Äußerung von Bettina Jarasch hysterisch, dogmatisch und demokratiefeindlich finden. Man fragt sich, wie es sein kann, dass ein derart harmloser Satz derart diktatorisch zensiert und die Urheberin dann auch noch dazu gezwungen wird, vor dem versammelten Plenum Selbstkritik zu üben. Erinnert das nicht an die stalinistischen Schauprozesse? Zeigt sich damit nicht wieder, dass die Grünen eben nichts anderes als eine Verbotspartei sind? Was ist das für ein Land, in dem man nicht einmal mehr sagen darf, dass man als Kind gerne Indianerhäuptling geworden wäre?

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die Verständnis für den Unmut besitzen, weil sie die Faszination weißer Menschen mit dem »Indianertum« in einem größeren historischen Rahmen betrachten, der über Kindheits- und Märchenfantasien hinausweist in die jahrhundertealte Geschichte des Kolonialismus hinein. Wenn weiße Menschen sich als Indianer verkleiden, wenn sie Federschmuck aufsetzen und sich in Fransenanzüge kleiden und dann auch noch das Gesicht rot schminken, dann kleiden sie sich als Angehörige einer politisch, wirtschaftlich und militärisch dominanten Kultur in das Kostüm einer Kultur, die von weißen Kolonialisten auf grausame Weise unterworfen und nahezu ausgerottet worden ist. Da hilft es auch nichts, wenn man behauptet, dass man die Indianer beim Indianerspielen ja gar nicht diskriminieren und demütigen will, sondern sie – um die Terminologie des späten Karl May zu bemühen – als »Edelmenschen« schätzt und verehrt. Wer sich das Gesicht rot anmalt, um als »Rothaut« zu wirken, vollzieht damit einen diskriminierenden Akt. Denn die rote Hautfarbe der Indianer gibt es nur in den kolonialen Fantasien ihrer Unterdrücker und Mörder, wie es auch »den Indianer« als solchen nur als koloniale Fantasie gibt. In Wahrheit bilden die Menschen, die das Land vor der Ankunft der späteren Kolonialherren besiedelten, eine unüberschaubare Vielzahl von Kulturen. Sie werden erst aus der Warte der Unterdrücker zu einer ethnischen oder auch rassischen Identität verschmolzen: »Indianer«, das ist ein Sklavenname.

Wenn man es so betrachtet, dann handelt es sich bei den vermeintlich so unschuldigen Indianerspielen, die bei Kindern den Wunsch wecken, Indianerhäuptling zu werden, um einen exemplarischen Fall von kultureller Aneignung, von »cultural appropriation«. Die einschlägige Definition dieses Begriffs hat die Juristin Susan Scafidi in ihrem Buch Who Owns Culture? Appropriation und Authenticity in American Law aus dem Jahr 2005 formuliert: »Cultural Appropriation, das ist: wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.«2

Wer kulturelle Appropriation betreibt, der eignet sich nach diesem Verständnis etwas an, das ihm nicht gehört. In der Aneignung ist also immer auch eine Enteignung inbegriffen, ein Diebstahl, eine illegitime Tat. Wer sich als deutsches Kind in den 1970er-Jahren als Indianer verkleidete – nach den märchenhaften Bildern, die von Karl May vorgezeichnet wurden –, der fügte damit den realen Vorbildern dieser Märchenfiguren ein Unrecht zu, weil er sich bei ihren »kulturellen Ausdrücken« bediente, um »die eigene Individualität auszudrücken«. Wer so etwas tat, kann entsprechend der Definition Scafidis auch dann nicht auf mildernde Umstände hoffen, wenn er damals erst sieben Jahre alt war....

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Debatten • Diversität • Diversity • Essay • Hip Hop • Karl May • Kulturelle Aneignung • Kulturkritik • Kulturtheorie • Social Media
ISBN-10 3-7518-3031-6 / 3751830316
ISBN-13 978-3-7518-3031-7 / 9783751830317
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