Deutschlandtour (eBook)
352 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27748-2 (ISBN)
Hasnain Kazim zieht aus, sein Land zu erkunden. Mit seinem Lieblingsverkehrsmittel, dem Fahrrad, macht er sich auf, ein aktuelles Deutschlandporträt zu zeichnen. Was eint die Menschen, was trennt sie? Kazim radelt entlang von Elbe, Ruhr, Rhein, Oder/Neiße, Neckar und Donau und lässt dem Zufall Raum. Er trifft unterschiedliche Menschen, spricht mit ihnen über ihr Leben in diesem Land: Worüber darf man eigentlich noch lachen? Was ist Heimat? Das Buch ist auch eine Selbstverortung: Von einigen wird Hasnain Kazim regelmäßig sein Deutschsein abgesprochen. Wann und wie also gehören Menschen hierhin? Was ist Diversität? Kann man mit Wohlwollen und Zugewandtheit nicht doch mit allen reden, sie vielleicht sogar versöhnen und Gräben überwinden? Eine Fahrradtour in dem Versuch, mit der Kraft des Wortes zu verbinden. Und die deutsche Seele zu ergründen.
Hasnain Kazim ist gebürtiger Oldenburger und Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer. Er wuchs im Alten Land, vor den Toren Hamburgs, und in Karatschi in Pakistan auf, studierte Politikwissenschaften und schlug eine Laufbahn als Marineoffizier ein. Er schrieb unter anderem für das dpa-Südasienbüro in Delhi und von 2004 bis 2019 für den SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE, die meiste Zeit davon als Auslandskorrespondent in Islamabad, Istanbul und Wien. Für seine Arbeit wurde er bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter der »CNN Journalist Award«. Er lebt als freier Autor nach wie vor in der österreichischen Hauptstadt und hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem »Grünkohl und Curry«, »Plötzlich Pakistan« und »Krisenstaat Türkei«. Das Taschenbuch »Post von Karlheinz« (2018), das seine Dialoge mit wütenden Leserinnen und Lesern versammelt, stand viele Wochen auf der Bestsellerliste. »Auf sie mit Gebrüll!« (2020), eine Anleitung zum richtigen Streiten, wurde ebenfalls direkt nach Erscheinen ein Bestseller. Zuletzt erschienen »Mein Kalifat. Ein geheimes Tagebuch, wie ich das Abendland islamisierte und die Deutschen zu besseren Menschen machte« und das dazugehörige »Kalifatskochbuch. Weisheiten und Rezepte«.
Zum Geleite
Es waren magische Momente. Wir bretterten mit unseren Fahrrädern durch unser Dorf, liefen durch die Obstplantagen, fuhren an die Elbe, waren frei und glücklich. Manchmal trauten wir uns sogar, die Ortsgrenze zu überqueren. Das war dann das ganz große Abenteuer. Meine Mutter sagte mir, ich solle zu Hause sein, wenn’s dunkel wird. Im Winter also früh, im Sommer spät, zumindest an den Wochenenden und in den Sommerferien. Die anderen Kinder hatten auch keine genaueren Vorgaben als ich. Wir aßen Kirschen von den Bäumen, später, im Herbst, Äpfel. Wir radelten ins Freibad am Deich, kauften uns an der Bude Pommes rot-weiß und hin und wieder eine Frikadelle, für fünfzig Pfennig Gummizeug, Eis, manchmal sogar beides. Abendbrot aßen wir mal bei dem einen, mal bei der anderen. Wer uns suchte, fand uns dort, wo unsere Räder im Vorgarten lagen. Manchmal dachten wir mit und riefen zu Hause an, um Bescheid zu sagen, von Wählscheibentelefon zu Wählscheibentelefon, die Telefonnummer vierstellig: sieben vier sieben sieben.
Wie alt mögen wir gewesen sein? Acht? Vielleicht neun? Sicher nicht zehn. Das Böse war weit weg, in unserer wunderbaren Schwimmbad-Pommes-Welt und auch im großen weiten Universum. Rocky Balboa kämpfte dagegen, Maverick auch, Colt Seavers, Howie Munson und Jody Banks sowieso, und wir bejubelten sie dafür. Ach, diese Eindeutigkeiten! Hier die Guten, da die Bösen! Begeistert spielten wir diese Kämpfe nach, klärten wie TKKG und Drei Fragezeichen Verbrechen auf, mit Wasserpistolen und Wasserbomben, unsere Fahrräder waren mal Panzer, mal Kampfjet. Sie konnten auch Polizeiauto, Rennwagen oder Pick-up sein, Raumschiff von Captain Future oder, eher bei den Mädchen, Pferd.
Unsere Eltern sagten nichts gegen unsere Spiele. Mag sein, dass manche nicht gut fanden, dass wir Wasserpistolen und Erbsenpistolen und Pistolen mit diesen roten Knallerringen hatten, die immer so gut rochen, wenn man geschossen hatte. Ich bekam davon aber nichts mit. Und soweit ich weiß, ist aus niemandem von uns ein Killer geworden. Ich glaube sogar, niemand von uns besitzt heute überhaupt eine echte Schusswaffe. Wasserpistolen allerdings, finde ich immer noch, gehören in die Grundausstattung eines jeden Menschen.
Insgeheim wünschten wir uns in unserer kindlichen Naivität, dass das Böse zu uns käme, damit wir es bekämpfen und Helden sein könnten, wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Mal einen Mord aufklären! Einem Verbrecher das Handwerk legen! Aber weil das Böse nicht kam und wir mit unseren Fahrrädern nicht zu ihm fahren konnten, fantasierten wir es uns herbei. Vermuteten in diesem oder jenem Haus einen Schatz. Oder irgendeinen Spuk. Sahen in dem griesgrämigen Alten, der in dem düsteren Haus lebte, einen Bösewicht. Oder in dem Lumpensammler, der sein altes, bepacktes Fahrrad – was schleppte er da eigentlich in den Taschen mit sich herum? Diebesgut? Waffen? Einen abgeschnittenen Kopf? – durch das Dorf schob und wirres Zeug knurrte, wenn wir ihm zu nahe kamen.
Woher stammten diese Zuschreibungen? Hatte sie uns jemand in den Kopf gesetzt? Übernahmen wir sie von anderen? Von den Erwachsenen oder von Freunden? Oder entsprangen sie unserer eigenen Fantasie?
Wir suchten das Neue. Das Unbekannte. Das Überraschende. Wir freuten uns über jede Seitenstraße, jeden Hinterhof, jeden Winkel, den wir entdeckten, denn wir sehnten uns nach der Fremde, nach einem Land, in dem uns niemand kannte und wo wir uns behaupten konnten.
Mit zunehmendem Alter kam mir zwar das Gefühl der Unbeschwertheit abhanden; ich glaube, das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Was aber nie verloren ging, war die Sehnsucht nach dieser Freiheit, die ich auf meinem gelben Rad empfunden hatte, Sechzehn-Zoll-Reifen, ohne Gangschaltung, durchs Dorf fahrend, vagabundierend, streunend, ziellos und doch mit dem guten Gefühl, auf einer großen Mission zu sein, nämlich irgendwie die Welt zu retten oder wenigstens irgendwo einen Apfel zu klauen.
Ich beschloss, dieser Sehnsucht nachzugehen. Mich auf den Sattel zu schwingen und in die Freiheit zu radeln, wie damals als Kind, ohne Ziel und doch nicht ohne Plan. Gewiss nicht, um Verbrecher zu jagen oder das Böse aufzuspüren und zu bekämpfen, aber mit der Absicht, das Land zu erkunden, Neues zu entdecken, zu verstehen. Im Grunde genommen, da weiterzumachen, wo ich als Kind aufgehört hatte. Mich im besten Sinne des Wortes gehen zu lassen. In den Tag hinein zu fahren. Ohne festes Ziel, sich in der Welt verlierend, getrieben von der Lust, alles stehen und liegen zu lassen und einfach davonzufahren, gewiss auch eine Art Flucht. Losfahren und schauen, wohin es einen treibt. Wem man begegnet. Dem Zufall Raum lassen. Nicht jeden Tag das Gleiche, immer wieder. Schauen, welche Gedanken von einem Besitz ergreifen. Ein Driften, ein Schweben, fast schwerelos, ich weiß, jetzt übertreibe ich, man verweilt hier, bleibt dort, löst sich wieder, zieht weiter, endlos viel Zeit, frei von Zwängen, ohne Verpflichtungen.
Als Auslandskorrespondent habe ich viele Länder kennenlernen, sie mir systematisch erschließen dürfen: in alle Regionen, Provinzen, Bundesländer reisen, die Regierenden treffen, mit Oppositionellen sprechen, Akteure der Zivilgesellschaft beobachten, Kulturschaffende kennenlernen, Literatur lesen.
Jetzt wollte ich mir endlich Deutschland vornehmen.
Dem Land wie zum ersten Mal begegnen.
Eine Deutschlanderschließung.
Radelnd.
Denn mit dem Fahrrad sieht man viel, bekommt viel mit. Man nimmt Kontakt zu seiner Umgebung, zur Natur, zur Landschaft auf, man ist zu Lande unterwegs, auf dem Boden, geerdet sozusagen, nicht so wahnsinnig langsam wie zu Fuß, weswegen das Wandern nicht meine Art der Fortbewegung ist, aber eben auch nicht so schnell wie mit dem Auto, mit dem man so viel verpasst und übersieht und vorbeirauschen lässt. Und schon gar nicht wie mit dem Flugzeug, wo man innerhalb von Stunden andere Zeitzonen erreicht, das Fortbewegen also gar nicht im wahrsten Sinne des Wortes erfährt oder, genauer, erfliegt, sondern sich wie in eine fremde Welt katapultiert vorkommt.
Mit dem Rad kann man gut hundert Kilometer am Tag schaffen, das ist nicht wenig, aber auch nicht übermäßig ambitioniert, wenn man einigermaßen in Form ist. Am Ende einer solchen Etappe weiß man, was man geleistet hat. Man hat für seine Strecke gearbeitet. Wissenschaftler haben berechnet, dass keine Fortbewegungsart so effizient, dass nirgends der Einsatz von Energie im Verhältnis zur zurückgelegten Strecke so günstig sei wie beim Fahrradfahren. Das will ich gerne glauben! Und dann macht es auch noch so viel Spaß (außer man fährt bergauf oder hat Gegenwind; Regen hingegen macht mir nicht so viel aus)! Die frische Luft! Der Fahrtwind! Die tolle Aussicht! Das Fahrrad lässt Zeit und Raum zum Denken, ohne sich in den Untiefen der Grübelei zu verlieren, weil man dazu dann doch zu sehr aufs Fahren, auf die Straßen und Wege und den Verkehr achten muss. Man findet Ruhe in der Bewegung, Konzentration in der Zerstreuung, Erkenntnis im Entkommen. Das Rad gesteht einem zu, die Umgebung wahrzunehmen und gleichzeitig seinen Gedanken nachzuhängen.
Ich mag Fahrräder. Sie ziehen mich als Objekt an. Wenn schöne Fahrräder vorbeifahren, muss ich ihnen zwanghaft hinterherschauen. Welche Marke? Welches Modell? Welche Ausstattung? Das hat schon zu manchen missverständlichen Situationen geführt. Fahrräder sind eben nicht nur effizient, sondern können auch wahnsinnig schön sein. Sie sind so einfach und so praktisch, technisch ist da kaum noch etwas zu verbessern. In dieser Kombination – Effizienz, Schönheit, Einfachheit, Ausgereiftheit – sind sie geradezu genial. Eine Erfindung des Himmels!
Wunderbar.
Ich besitze mehrere Fahrräder. Ein Luxus, ich weiß, aber einer, den ich mir guten Gewissens leiste. Ich habe alle Räder selbst gekauft im Laufe der Jahre, da ist nichts gesponsert, und schon gar nicht habe ich mir für dieses Buch was schenken lassen von einem Radhersteller, damit ich dessen Produkt noch bewerbe. Ich bin ja nicht … Aber ich will nicht lästern.
So habe ich zwei Räder, die man Reise- oder Expeditionsräder nennt, beide haben einen Rahmen aus Stahl. Das größere davon ist bullig und schwer, wie ein Traktor, wahrscheinlich könnte man damit einen Dschungel durchqueren, jedenfalls hält es sich selbst auf unebenen Schotterpisten ruhig auf der Straße und verzeiht so manches Schlagloch. Das kleinere ist wendig, bergauf geht es damit wie im Flug, mehr Geländewagen. Beide sind toll.
Ich habe auch ein Rennrad, wobei es mehr Alltagsrad mit Rennlenker ist. Es taugt auch für die Stadt, für den Ausflug in den Wald, für die Fahrt über Feldwege. Heute nennt man so etwas »Gravelbike«. Der größte Vorzug dieses Rades ist, dass es unglaublich elegant ist. Ästhetisch kommt da kein anderes Rad ran: anthrazitfarbener Stahlrahmen aus Finnland, Lenker und Sattel aus cognacfarbenem Rindsleder, Gepäckträger und Schutzbleche chromglänzend. Dazu schwarze Slicks, Reifen ohne Profil. Die Einzelteile habe ich mir selbst ausgesucht und zusammenbauen lassen. Zum Reisen ist dieses Rad okay, zum Schnellfahren auch, aber geradezu perfekt ist es zum Flanieren. Zum Sehen und Gesehenwerden. Ein Rad, nach dem sich Köpfe umdrehen, jedenfalls die von Fahrradliebhabern.
Dann ist da noch mein oranges Klapprad, zu dem man heute »Faltrad« sagt, was auch schicker klingt und es wahrscheinlich teurer macht. Was früher eine Angelegenheit für Camper war, ist heute ebenfalls ein Zeichen der Avantgarde. Meines nenne ich »Orange«. Meine Orange begleitet mich auf Lesereisen, sie gilt im Zug als Handgepäck, ich bin also nicht auf einen reservierten...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Zusatzinfo | mit Farbbildteil |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-641-27748-5 / 3641277485 |
ISBN-13 | 978-3-641-27748-2 / 9783641277482 |
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