Der Sturz des Himmels (eBook)
957 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2014-1 (ISBN)
Davi Kopenawa ist einer der bedeutendsten Fürsprecher seines Volks, der Yanomami, und Schamane. Er ist über Brasilien hinaus in der ganzen Welt bekannt als Anführer der amerikanischen Indigenen bei ihrem Kampf um den Erhalt des Amazonaswaldes. Im Jahr 2019 wurde ihm der Alternative Nobelpreis verliehen.
Davi Kopenawa ist einer der bedeutendsten Fürsprecher seines Volks, der Yanomami, und Schamane. Er ist über Brasilien hinaus in der ganzen Welt bekannt als Anführer der amerikanischen Indigenen bei ihrem Kampf um den Erhalt des Amazonaswaldes. Im Jahr 2019 wurde ihm der Alternative Nobelpreis verliehen. Bruce Albert ist Anthropologe und Forschungsdirektor am Institut de recherche pour le développement. Seit 1975 arbeitet er überwiegend zu den Yanomami, bei denen er sich seither regelmäßig aufhält und für deren Rechte er sich einsetzt. Er hat zahllose ethnografische und anthropologische Arbeiten zur gesellschaftlichen Organisation, zur Kultur sowie zum schamanischen und kosmologischen Denken der Yanomami veröffentlicht. Karin Uttendörfer arbeitet als Übersetzerin, Autorin und Herausgeberin in Berlin und Paris. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören u. a. Eric Hazan, Jacques Yonnet, Marcel Aymé, Judith Perrignon und Mathieu Riboulet. 2017 war sie Mitglied der Jury für den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis. Für ihre Übersetzung von Jean-Baptiste Del Amos Tierreich wurde sie 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Tim Trzaskalik, 1970 in Bonn geboren, ist Autor und Übersetzer. Er lebt und arbeitet im Finistère und im hessischen Hinterland.
Vorbemerkung
Dieses Buch, Lebensbericht, Autoethnografie und kosmopolitisches Manifest in einem, lädt zu einer Reise in die Geschichte und in das Denken eines Yanomami-Schamanen ein, der heute (2023) etwa siebenundsechzig Jahre alt ist, Davi Kopenawa. Geboren im Norden des brasilianischen Amazonasgebiets, am oberen Rio Toototobi, in einer Region, die damals noch sehr weit von der Welt der Weißen entfernt war, sah sich Davi Kopenawa später, im Laufe seines oft abenteuerlichen Lebens, mit einer Reihe von Personen konfrontiert, die am Voranrücken der Kolonialgrenze großen Anteil hatten (SPI1-Agenten, Soldaten der Grenzkommission, dann Missionare, Straßenbauarbeiter, Goldgräber und Viehzüchter). Seine Erzählungen und Reflexionen, die ich in seiner Sprache auf Band aufgenommen, transkribiert, übersetzt, anschließend auf Französisch neu arrangiert und niedergeschrieben habe, stellen in ihrer poetischen und dramatischen Intensität wie auch in ihrem Scharfsinn und Humor eine bisher noch nie gehörte Version der historischen »Fehlbegegnung« der Amerindianer mit den Rändern unserer »Zivilisation« dar.
Von Beginn unserer Zusammenarbeit an war es Davi Kopenawas Anliegen, mit seinem Zeugnis ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Meine Vorbemerkung soll einige unverzichtbare Kontextinformationen zu seinem Verständnis bieten. Angefangen mit einem kurzen Überblick über die Yanomami Brasiliens und ihre Geschichte, gefolgt von einer biografischen Skizze zu Davi Kopenawa, dessen Worte die lebendige Quelle des Buchs sind, wie auch zum Autor dieser Zeilen, der beim Verschriftlichen versuchte, die Weisheit und Würze dieser Worte zu restituieren. Schließlich wird kurz von unserer Begegnung die Rede sein, von der Entstehungsgeschichte dieses Textes und seinem Inhalt; Themen, die in den Anhängen wesentlich konsistenter wieder aufgegriffen werden, die aber am Anfang des Buchs zumindest zu erwähnen mir nützlich erschien, ehe die Lesenden sich an die Lektüre machen.
Die Yanomami in Brasilien
Die Yanomami2 bilden eine Gesellschaft von Jägern, Sammlern und Brandrodungsbauern, die ein etwa 220 000 Quadratkilometer großes Tropenwaldgebiet zu beiden Seiten der Serra Parima besiedeln, der Wasserscheide zwischen dem oberen Orinoco (im Süden Venezuelas) und den rechtsseitigen Zuflüssen des Rio Branco sowie den linksseitigen des Rio Negro (im Norden Brasiliens).3 Sie formen eine riesige, isolierte, kulturelle und sprachliche Gesamtheit, die sich in mehrere verwandte Sprachen und Dialekte unterteilt. Ihre Bevölkerung wird auf etwas mehr als 54 000 Menschen geschätzt4, was sie zu einer der größten amerindianischen Gruppen mit einer weitgehend beibehaltenen traditionellen Lebensweise in Amazonien macht.
In Brasilien erstreckt sich das Territorium der Yanomami, das 1992 unter dem Namen Terra Indígena Yanomami legalisiert wurde, über 96 650 Quadratkilometer, eine Fläche, die geringfügig größer ist als die einiger europäischer Länder wie Portugal, Ungarn oder Irland. Hier leben annähernd 29 000 Menschen in etwa 366 lokalen Gruppen. Jede dieser Gemeinschaften besteht in der Regel aus einer Gruppe von kognatischen Verwandten, deren Familien idealerweise durch Heiratsbeziehungen über mindestens zwei Generationen miteinander verbunden sind und die in einem oder mehreren kegel- oder kegelstumpfförmigen Gemeinschaftshäusern wohnen.5
Die ersten sporadischen Kontakte der Yanomami Brasiliens mit Weißen, Sammlern von Waldprodukten, ausländischen Reisenden, Militärs von Expeditionen zur Grenzdemarkierung oder Agenten der SPI fanden in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts statt. Von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre wurden an der Peripherie ihres Territoriums einige wenige Missionen (katholische und evangelikale) und SPI-Posten eingerichtet, erste regelmäßige Kontaktstellen, die Quellen für industriell hergestellte Güter, aber auch Infektionsherde für tödliche Epidemien waren. Zu Beginn der 1970er-Jahre sollten diese ersten Vorstöße der Weißen eine plötzliche Intensivierung erfahren, zunächst mit der Eröffnung eines Abschnitts der transamazonischen Fernstraße Perimetral Norte südlich der Yanomami-Gebiete, dann, nach zehn Jahren Pause, mit dem Ausbruch eines beispiellosen Goldrauschs in ihrer Zentralregion. Nachdem die Fernstraße 1976 aufgegeben wurde und die Invasion der Goldgräber ab Mitte der 1990er-Jahre relativ eingedämmt werden konnte, zeigen sich seit 2015 neue Bedrohungen für die Integrität der Terra Indígena Yanomami, sei es durch die Bergbauunternehmen, sei es durch die Agroindustrie, die ihre Aktivitäten im Westen des Bundesstaates Roraima möglicherweise ausweiten könnten.
Davi Kopenawa, Schamane und Wortführer der Yanomami
Davi Kopenawa wurde um 1956 in Marakana (Mõrama hi araopë) geboren, einem großen Gemeinschaftshaus mit etwa 200 Bewohnern, gelegen in den Ausläufern des tropischen Regenwalds am oberen Rio Toototobi im äußersten Nordosten des brasilianischen Bundesstaates Amazonas, nahe der Grenze zu Venezuela. Er lebt seit Ende der 1970er-Jahre in der Gemeinschaft seiner Schwiegereltern, am Fuß des »Windbergs« (Watorikɨ), am linken Ufer des Rio Demini, knapp hundert Kilometer südöstlich des Rio Toototobi.
Als Kind erlebte Davi Kopenawa, wie die Gruppe seiner Herkunft durch zwei aufeinanderfolgende Epidemien von Infektionskrankheiten dezimiert wurde, ausgelöst von SPI-Agenten (1959–1960) bzw. von Mitgliedern der New Tribes Mission (1967). Eine Zeit lang war er dem Bekehrungseifer dieser nordamerikanischen Missionare, die sich ab 1963 am Rio Toototobi niedergelassen hatten, ausgesetzt. Er verdankt ihnen seinen biblischen Vornamen, das Erlernen des Schreibens und einen wenig verlockenden Einblick in das Christentum. Trotz seiner anfänglichen Neugier stoßen ihn ihr Fanatismus und ihre Fixiertheit auf die Sünde schnell ab. Ende der 1960er-Jahre beginnt er, gegen ihren Einfluss zu rebellieren, nachdem er die meisten seiner Verwandten durch eine von der Tochter eines der Pastoren übertragene Masernepidemie verloren hat.
Verwaist und entsetzt über den wiederholten Verlust geliebter Menschen, aber fasziniert von der materiellen Macht der Weißen, verlässt Davi Kopenawa daraufhin als Jugendlicher seine Heimatregion, um auf einem Posten der FUNAI6, die 1967 die Nachfolge der SPI angetreten hatte, am Unterlauf des Rio Demini, in Ajuricaba, zu arbeiten. Dort strebt er, nach seinen eigenen Worten, danach, »ein Weißer zu werden«. Er wird sich am Ende nur mit Tuberkulose anstecken. Dieses Unglück bringt ihm einen langen Krankenhausaufenthalt ein, den er dazu nutzt, die Grundlagen des Portugiesischen zu lernen. Geheilt kehrt er für eine Weile in sein Gemeinschaftshaus in Toototobi zurück, bevor er 1976, nach der Eröffnung der Perimetral Norte, als Dolmetscher von der FUNAI angestellt wird. Als solcher reist er einige Jahre lang kreuz und quer durch das Yanomami-Gebiet und wird sich dabei sowohl über dessen Größe und Ausdehnung als auch, jenseits lokaler Unterschiede, über dessen kulturelle Einheit bewusst. Aus dieser Erfahrung gelangt er zu einem genaueren Verständnis von der räuberischen Logik jener, die er das »Volk der Waren« nennt, und den Gefahren, die von ihr für das Fortbestehen des Waldes und das Überleben seines Volkes ausgehen.
Des Herumziehens als Dolmetscher überdrüssig lässt sich Davi Kopenawa schließlich Anfang der 1980er-Jahre dauerhaft in Watorikɨ nieder, nachdem er die Tochter des »Großen Mannes« (pata thë) der Gemeinschaft geheiratet hat, einem renommierten Schamanen, der ihn in seine Kunst einführt und als überzeugter Traditionalist seither sein Mentor ist. Diese Initiation bot Davi Kopenawa die Gelegenheit, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und den Faden einer schamanischen Berufung wieder aufzunehmen, die seit seiner Kindheit manifest gewesen, aber durch die Ankunft der Weißen gehemmt worden war. Sie lieferte ihm anschließend den Stoff für eine eigenständige kosmologische Reflexion über den Warenfetischismus, die Zerstörung des Amazonaswaldes und den Klimawandel.7
Ende der 1980er-Jahre starben in Brasilien mehr als tausend Yanomami an den Folgen von Krankheiten und Gewalt, die mit dem Eindringen von etwa 40 000 Goldgräbern in ihr Gebiet einhergingen. Davi Kopenawa war erschüttert von dieser Tragödie, die seine Kindheitserinnerungen an die Dezimierung seiner Angehörigen wieder aufleben ließ. Nachdem er schon mehrere Jahre in Brasilien für die Legalisierung des Yanomami-Territoriums gekämpft hatte, startete er nun eine internationale Kampagne zur Verteidigung seines Volks und der Amazonasregion. Seine einzigartigen Erfahrungen mit den Weißen, seine...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2024 |
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Übersetzer | Karin Uttendörfer, Tim Trzaskalik |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Ethnologie |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abholzung • Amazonas • Anthropologie • Anthropozän • Brasilien • Claude Lévi-Strauss • Philippe Descola • Regenwald • Schamanismus • Spiritualität • Urwald • Wälder |
ISBN-10 | 3-7518-2014-0 / 3751820140 |
ISBN-13 | 978-3-7518-2014-1 / 9783751820141 |
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Größe: 36,7 MB
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