Frieden verhandeln im Krieg (eBook)
235 Seiten
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-6463-6 (ISBN)
In diesem Punkt sind sich fast alle in der westlichen Welt einig: Wir brauchen dringend Frieden in Europa. Aber wie kommen wir überhaupt an den Verhandlungstisch mit Russland? Welche Herausforderungen stellen sich dabei vor allem für die Ukraine als Opfer des russischen Angriffskriegs? Die Antworten auf diese Fragen betreffen Millionen von Menschen. Basierend auf langjährigen Forschungen beschreibt Cindy Wittke, unter welchen Bedingungen die Ukraine und Russland erfolgreich in Verhandlungen treten könnten. Und wie daraus ein dauerhafter Friedensschluss entstehen kann.
<p>Cindy Wittke ist Leiterin der Politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Sie hat Osteuropastudien an der Freien Universität Berlin studiert. Nach dem Studium lehrte sie als Lektorin der Robert-Bosch-Stiftung Völker- und Europarecht an der Staatlichen Universität Eriwan in Armenien. Anschließend promovierte sie am Fachbereich Rechtswissenschaft der FU Berlin mit einer völkerrechtlichen Dissertation zur Internationalisierung von Friedensabkommen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Konfliktparteien nach dem Ende des Kalten Krieges.</p>
2. Wann sind Kriege »reif« für Frieden?
Wenn einem Stapel Papier das Etikett »Friedensabkommen« angeheftet wird, muss es nicht notwendigerweise so sein, dass es dabei um einen echten Frieden geht. »Frieden« ist ein hart erkämpfter Prozess. Seien es 10-, 12- oder 15-Punkte-Pläne – sie funktionieren nicht, wenn die Pläne mehr vom Wunsch der Vermittler als vom deutlichen Willen der Kriegsparteien getragen werden. Und vor allem funktionieren sie nicht, wenn nicht klar festgelegt ist, wie ein einmal geschlossener Frieden überwacht werden kann. Und zwar so, dass neue Gefechte und Angriffe unterbunden werden können. Das ist das eine. Das andere ist, dass Europa im andauernden Zermürbungskrieg Russlands gegen die Ukraine auf der Suche nach der Friedenslösung zunächst einem Grundproblem gegenübersteht: Zwar wird ständig von Friedensverhandlungen und von Frieden gesprochen, doch jede Seite, insbesondere die russische, versteht etwas grundlegend anderes darunter. Russland meint damit die Friedensverhandlungen, die der Kreml sich wünscht, sprich: Waffenruhe vollumfänglich zu seinen Bedingungen. Der Prozess des Verhandelns, der entlang des Krieges verläuft, beinhaltet zahlreiche Gespräche, informelle Austauschformate, Telefonate und Treffen von Diplomaten, immer wieder und über einen langen Zeitraum hinweg, und verläuft nicht geradlinig auf das Ziel »Frieden« zu. Tatsächlich haben die Gespräche in den ersten beiden Kriegsjahren nicht einmal die Schwelle von »echten« Friedensverhandlungen erreicht. Doch was ist Frieden überhaupt?
Frieden kann unterschiedliche Formen haben. Viele, insbesondere in den deutschen Debatten, wollen einen schnellen Waffenstillstand und damit negativen Frieden, also schlicht die Abwesenheit eines bewaffneten Konflikts. Der Frieden, den die ukrainische Seite in ihrem Zehn-Punkte-Plan anstrebt, ist ein positiver Frieden. Positive Friedensansätze gehen über die bloße Abwesenheit von Krieg und Gewalt hinaus. Sie fügen dem Verständnis dessen, was Frieden ist oder wann ein dauerhafter Frieden erreicht ist, weitere normative Anforderungen hinzu. Dazu gehört etwa die Einhaltung grundlegender Menschenrechte, wirksame politische Beteiligung und Machtteilung sowie Demokratisierung, um nur einige Merkmale zu nennen. Internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen fördern bei ihren Bemühungen in der Regel positive Vorstellungen von Frieden. Beim EU-Gipfel im Dezember 2023 haben die Staaten der Europäischen Union beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Eine Bedingung für die Aufnahme der Ukraine am Ende des langwierigen Beitrittsprozesses ist, dass Frieden herrscht im Land. Auch vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Maßstäbe für Frieden und eine Nachkriegsordnung für die Ukraine in Zukunft der Logik eines positiven Friedensbegriffs folgen. Auch in Deutschland herrscht positiver Frieden, der wesentlich mehr beinhaltet als den Umstand, dass keine Bomben fallen. Warum soll den Ukrainerinnen und Ukrainern ein schlechterer Frieden zugestanden werden als uns? Sowieso stellt sich die Frage, welche Art von Frieden für die Ukraine nicht andere, sondern Ukrainerinnen und Ukrainer sich wünschen: Würden sie sich mit einer geteilten Ukraine arrangieren, um einen negativen Frieden zu haben? Um dann eben mit der Unsicherheit zu leben, auch in Zukunft jederzeit wieder mit russischen Angriffen rechnen zu müssen? Damit leben, dass Teile ihres Landes unter russischer Besatzung sind und europäische und globale Menschenrechtsstandards keine Bedeutung mehr haben? Oder geht es ihnen um mehr als das zeitweise Schweigen von Waffen, etwa darum, dass sie in einer friedlichen Gesellschaft auf ihrem gesamten Territorium leben können? Dass sie überdies entscheiden können, ob sie Teil der Europäischen Union werden, ohne den gewaltsamen Einspruch aus Moskau fürchten zu müssen?
Je länger der Krieg andauert, desto mehr wachsen die existenziellen Sorgen der Menschen in der Ukraine – und damit der Gedanke, dass ein schmutziger Frieden besser sein könnte als der Krieg. Ende Dezember 2023 sprach sich laut einer Umfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) eine wachsende Minderheit dafür aus, territoriale Zugeständnisse an Russland zu erwägen.[1] Im ersten Kriegsjahr konnte sich das nur ein sehr geringer Anteil der Menschen vorstellen, nämlich acht bis 19 Prozent, je nach Region (Stand Mai 2022). Doch bis Ende Dezember 2023 wuchs dieser Anteil auf bis zu einem Viertel (15 bis 24 Prozent, je nach Region) der Befragten. Das Ziel, das den Meinungsumfragen zufolge jedoch nach wie vor eine Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer vor Augen hat (rund 70 bis 80 Prozent, je nach Region), entspricht eher dem Ansatz des positiven Friedens. Dieser, wie jede Art von Frieden, erscheint angesichts der schwierigen Lage allerdings alles andere als zum Greifen nah.
Frieden wird immer als Ideal dargestellt. Doch Frieden ist nicht gleich Frieden. Und egal, welchen Frieden die Ukraine erreicht oder erreichen kann: Der Weg dahin wird nicht dadurch geebnet, Frieden als politische Forderung zu behandeln, die man nur oft genug wiederholen muss, damit das Ergebnis eintritt. Das hat vor allem mit einer Gegebenheit zu tun: dass Russland bis dato keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt hat.
Wie kann unter diesen Bedingungen dann überhaupt Frieden verhandelt werden? Reicht es aus, dass man nur endlich miteinander spricht oder dass jemand die Parteien an einen Tisch setzt und ihnen eine Lösung offeriert? In den ersten zwei Jahren des Krieges war schon das kaum möglich, zumal eine Seite des Konfliktes – Russland – diesen noch nicht einmal als das bezeichnet, was er ist: als Krieg. »Militärische Spezialoperation« lautet in Russland stattdessen die offizielle Sprachregelung; und wer im Land von diesem »gesäuberten« Sprachgebrauch abweicht, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft. Diese Formulierung übernehmen Vertreter Russlands in internationalen Gremien und Formaten, wenn sie gebetsmühlenartig die Sicht der russischen Führung verbreiten, Moskau würde quasi mit einer humanitären Intervention ukrainische Städte und Dörfer »beschützen«. Auf diese Weise entsteht eine Gegenerzählung. Das kann den Konflikt zusätzlich nähren, weil es bestimmte Ansprüche, Akteure und Praktiken delegitimiert. Wie soll etwa bei Sitzungen des UN-Sicherheitsrates effektiv über einen Krieg oder Angriffskrieg gesprochen werden, den russische Spitzendiplomaten negieren? Allein diese Ausgangskonstellation macht es für die Kriegsparteien und Vermittler schwierig, über Lösungen und das Ende des Krieges zu sprechen.
Wer Sitzungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verfolgt, kann das deutlich nachvollziehen – beispielsweise rund um den zweiten Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine im Februar 2024.[2] Russland forderte bei der Sitzung vom 12. Februar eine »Befriedung« des Donbas, ohne den Krieg, den Moskau gegen die gesamte Ukraine führt, auch nur im Ansatz zu erwähnen. Mehr noch: Vertreter der russischen Seite warfen Kyjiw vor, sich nicht mehr an direkten Verhandlungen mit dem Donbas in der Trilateralen Kontaktgruppe (TKG) zu beteiligen. Die Trilaterale Kontaktgruppe war im Jahr 2015 dazu eingerichtet worden, den Krieg im Osten der Ukraine zu befrieden. Das Gremium bestand aus Vertretern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Ukraine, Russlands und der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Doch die TKG und alle beschlossenen Vereinbarungen sind mit der russischen Großinvasion obsolet geworden. Die Brücken, die die Gruppe ein Stück weit gebaut hatte, sind verbrannt. Der Auftritt des russischen Vertreters im Sicherheitsrat im Februar 2024 wirkte allerdings so, als wäre nichts davon passiert, nicht der Großangriff auf Kyjiw, nicht die Besetzung ganzer ukrainischer Landesteile, nicht die ständige (und anhaltende) Zerstörung ziviler Infrastruktur durch die russische Armee. »Die Menschen im Donbas wollen das Mindeste – in Frieden auf ihrem eigenen Land leben, sich selbst verwalten und Russisch sprechen, um es an ihre Kinder weiterzugeben«, trug der Ständige Vertreter Russlands vor und beschuldigte die Ukraine, mit Gewalt und Blut zu antworten. Mit diesem Auftritt im höchsten Gremium der Vereinten Nationen erzeugte Russland als permanentes Mitglied faktisch eine Sprachlosigkeit zum Krieg gegen die Ukraine. Diese wird auf der russischen Seite außerdem mit dem Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr kombiniert, in der sich Russland als Schutzmacht der Rechte russischsprachiger Ukrainer geriert. Der ständige Vertreter der Ukraine hielt entgegen: »Das heutige Treffen – einberufen von der Russischen Föderation, um Abkommen zu diskutieren, die es selbst über Bord geworfen hat – ist einfach Zeit- und Kraftverschwendung.« Mit anderen Worten: Solange nicht über den laufenden Krieg gesprochen werden kann, sind solche Zusammenkünfte nicht dazu geeignet, echte Friedensverhandlungen anzubahnen.
Es gibt wissenschaftlich erforschte Szenarien, wann der richtige Zeitpunkt für Friedensverhandlungen gekommen ist: Eine Konstante in diesen Szenarien ist, dass die Zeit erst an bestimmten kritischen Punkten eines militärischen Konflikts reif dafür sei. Ein eindeutiger Moment der »Reife« ist der Sieg beziehungsweise die Niederlage einer...
Erscheint lt. Verlag | 27.9.2024 |
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Co-Autor | Mandy Ganske-Zapf |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angriffskrieg • Dialoge • Diplomatie • EU • Europa • geostrategisch • Getreide • Gewalt • Hoffnung • Humanitär • Initiative • Interessen • Kalter Krieg • Konflikte • Kornspeicher • Menschenrechte • Militär • Opfer • Osteuropa • Politik • Prozesse • Putin • Risiko • Russland • Sowjetunion • Staaten • Strategien • Täter • Territorialkonflikte • Ukraine • Verhandlung • Verhandlungsbereitschaft • Vermittlung • Versagen • Vision • Waffen |
ISBN-10 | 3-7517-6463-1 / 3751764631 |
ISBN-13 | 978-3-7517-6463-6 / 9783751764636 |
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