Zukunft beginnt im Kopf (eBook)
148 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-2726-8 (ISBN)
Patric I. Vogt, geb. 1968 in Mainz lebt als freischaffender Künstler, Lehrer und Unternehmer. Studium der Eurythmie, Anthroposophie, Sprachgestaltung und Ausbildung zum Instructor der M. Chekhov Acting Technique. Über drei Jahrzehnte Beschäftigung mit der Idee der sozialen Dreigliederung. Staatlich ungeprüft (abgesehen von den Fahrerlaubnissen zu Land und zu Wasser). Vom Leben mit vielen Wassern gewaschen und am liebsten auf eigenem Kiel unterwegs. Motto: Gedanken werden Worte, werden Taten! www.perpektivenwechsel.social #perspektivenwechsel
4 Auf die Beziehung kommt es an
In Kapitel 2 haben wir uns anhand einiger absurder Beispiele vor Augen geführt, wie ein Urteilsprinzip, das für sich genommen tatsächlich ein brauchbares Urteilsprinzip ist, dadurch ad absurdum geführt wird, dass wir es auf falsche Fragen anwenden. Inzwischen haben wir herausgearbeitet, dass wir es 1.) mit drei grundlegend unterschiedlichen Urteilsprinzipien zu tun haben, 2.) uns Grundzüge ihres Verständnisses erarbeitet und ihnen 3.) je einen Namen gegeben: individuelles Urteil, demokratisches Urteil, Kollektivurteil. Wir wollen uns etwas Zeit nehmen, über all das zu reflektieren, genauer zu ergründen, was es für unsere gegenseitigen Beziehungen mit sich bringt und bedeutet. Dabei geht es uns darum, unser Gespür für die ganze Sache und ihr Verständnis zu verfeinern.
Das Prinzip der Einsicht
Können Sie sich an unsere Auseinandersetzung über die Frage »Wie will ich mich selbst verstehen?« erinnern? Sicher können Sie, das ist wirklich eine blöde rhetorische Frage, schließlich reibe ich Ihnen das nun zum x-ten Mal unter die Nase. Sie haben da ganz zu Anfang einer Auseinandersetzung zwischen Hrn. Harari – obwohl er nicht selbst zu Wort kam, sondern sein Standpunkt nur sehr verkürzt durch mich wiedergegeben wurde – und mir – wobei ich mich bemüht habe fair zu sein und meine Wortmeldung entsprechend kurz zu fassen – beigewohnt. Entscheidend dabei war nicht, ob er oder ich Sie überzeugen konnte, denn ich habe Ihnen ja nicht mal wirklich verraten, was ich in dieser Frage denke. Sondern, ob es uns gelungen ist, an den Punkt zu kommen, dass erlebbar wurde: »sich überzeugen« ist ein reflexives Verb. Der Einzige, der Sie, ohne Sie zu manipulieren, überzeugen kann, sind Sie selbst. Alle anderen können Ihnen Gesichtspunkte und Aspekte an die Hand geben, die ihnen selbst als wesentlich erscheinen. Wenn Sie allerdings zu einer Einsicht kommen, ist es Ihre Leistung, niemand anders kann es für Sie tun. Und ob jemand anders wiederum wirklich an unserer Einsicht interessiert ist, erkennen wir daran, ob er uns zugesteht, unsere eigenen Fehler zu machen.
Das heißt zugleich, dass niemand anders als ich selbst verantwortlich bin für meine Einsichten. Ich glaube, das ist der Grund, warum wir so gern übersehen, dass meine Einsicht einzig und allein durch mich hervorgebracht wird: wenn ich die Einsicht einer Autorität übernehme, bleibt mir immer ein Schlupfloch; ich kann die Verantwortung im Zweifelsfall durch Verweis auf die Autorität abschieben. Wenn ich das tue, verbaue ich mir aber den Weg zu lernen, denn lernen können wir nur durch unsere eigenen Fehler.
Es zeichnet einen Menschen in seiner Größe aus, wenn er Fehler einsehen und zugeben kann. Und es zeichnet eine Gesellschaft in ihrer Größe aus, wenn es eine Fehlerkultur gibt, wenn Fehler gemacht werden dürfen und besprochen werden können, und dann differenzierte Konsequenzen gezogen werden. So wird es möglich immer bessere Fehler zu machen. So kommen wir als Gesellschaft in den Genuss einer Kernkompetenz jedes Menschen, nämlich lebenslang lernen zu können.
Wesentlich für die Auseinandersetzung zwischen Hrn. Harari und mir war, zu bemerken, dass die Ausgangsfrage: »Wie wollen wir uns selbst verstehen?« schief gestellt war. Sie muss darum zu einer schiefen Antwort führen. Die zurechtgerückte Frage: »Wie will ich mich selbst verstehen?« ist konstruktiv, weil sie auf den einzelnen Menschen, den unverwechselbaren Kern in ihm, seine Initiative rekurriert. Die Frage: »Wie will ich mich selbst verstehen?« führt zurück zur Initiativkraft des Einzelnen, sie aktiviert. Die Frage: »Wie wollen wir uns verstehen?« hingegen lähmt, weil Einsicht immer ein individueller Prozess ist. Auch das vielleicht ein Grund, warum wir das wahre Wesen von Einsicht gern verkennen, weil es uns vor dem Erlebnis der Einsamkeit, den jeder kreative Prozess und jeder Erkenntnisprozess bedeutet, bewahrt.
Schauen wir noch etwas genauer hin, dann können wir bemerken, dass das Prinzip der Einsicht im Wesentlichen in zwei Phasen verläuft. Die eine der beiden machen wir grade jetzt im Moment durch, es ist die Verstandesphase, die Phase der Zergliederung. Wollen wir eine Einsicht gewinnen, müssen wir im ersten Schritt immer die Geste der Zergliederung vollziehen. Wäre dies nicht von vielen Forschern, die die Anatomie des Menschen studiert haben, immer wieder getan worden, hätten wir nicht das differenzierte Bild unseres Körpers, das wir haben. Die zweite Phase ist in unserer Zeit ziemlich in Vergessenheit geraten, obwohl sie notwendigerweise immer auch stattfindet, es ist die Phase des Vernunftgebrauchs. Nachdem wir zergliedert haben, müssen wir wieder verbinden, zusammenschauen, um sinnvoll erkennen zu können. Tun wir das nicht, bleiben wir mit Einzelteilen in der Hand zurück, die Halbwahrheiten sind. Der sezierte Körper ist immer ein Leichnam, das Leben ist aus ihm entwichen. Um uns dem Leben anzunähern, müssen wir dem Verstandesprozess den Vernunftprozess zur Seite stellen.
Mit diesen wenigen Worten haben wir das Prinzip der Einsicht noch nicht in seiner vollen Tiefe ausgelotet. Wir haben aber angefangen, ein Bewusstsein davon zu entwickeln, dass wir Ergebnissen des Verstandesprozesses immer solche des Vernunftprozesses an die Seite stellen müssen. Ergebnisse des Vernunftprozesses können immer nur Etappenziele sein. Die beiden Phasen überlagern sich ständig, es geht gar nicht anders. Dabei sind wir uns meist des Vernunftprozesses, der Integration, die notwendig auch immer passiert, nicht bewusst.9
An dieser Stelle, um nicht völlig naiv zu erscheinen, eine erkenntnistheoretische Anmerkung. Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass die herrschende Meinung ist, dass es gar keine Erkenntnis geben kann, sondern immer nur Teileinsichten, die solange Gültigkeit haben, bis sie durch andere Einsichten widerlegt werden. Hier haben wir als Kultur, ähnlich wie mit der Frage, ob der Mensch das höchste der Tiere sei, eine Tür hinter uns geschlossen, an der ich zu einer andern Einsicht gekommen bin. Ich würde sehr gern darüber in den Diskurs gehen, es führte uns jedoch weit vom Thema dieses Buches ab, so dass ich mit Bedauern darauf verzichte.
Das Prinzip der Abstimmung
Ich möchte Sie hier etwas herausfordern. Denn ich will das demokratische Urteilprinzip in seiner Anwendung auf ein Beispiel betrachten, das wahrscheinlich erstmal stutzig macht. Was würden Sie sagen, wenn ich vorschlage, dass wir als Bevölkerung über die maximale wirtschaftliche Arbeitszeit in unserer Republik abstimmen sollen? Wichtig ist hier: über die maximale wirtschaftliche Arbeitszeit, also die Zeit, die wir maximal auf eine Tätigkeit in der Produktion oder der Zirkulation von Waren und wirtschaftlichen Dienstleistungen verwenden wollen. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil unser Arbeitsbegriff im Allgemeinen unscharf ist. Also: nicht jede Tätigkeit, die wir heute unter Arbeit verstehen, soll dieser Abstimmung unterliegen, sondern nur die, durch die wir Waren oder wirtschaftliche Dienstleistungen produzieren oder an den nötigen Ort bringen.10
Zeitsprung: Das alte Griechenland war eine Hochkultur, die eine faszinierende Blüte der Kunst und Wissenschaft hervorgebracht hat. So faszinierend wie sie für uns ist, so sehr hat sie auch unsere abendländische Bildung und Kultur beeinflusst und die Entstehung des Humanismus entscheidend geprägt. Und doch, wenn wir auf sie zurückschauen, spüren wir einen Stachel im Fleisch unserer eigenen Kultur: die griechische Hochkultur – also ausgerechnet die Hochkultur, die historisch gesehen die Demokratie hervorgebracht hat! – wäre ohne Sklaverei nicht möglich gewesen. Und keine einzige der historischen, kulturprägenden Persönlichkeiten hatte daran eine Frage, geschweige denn zeigte einen Einsatz für die Abschaffung der Sklaverei! Das können wir heute nicht verstehen. Es ist für uns völlig undenkbar, dass ein Teil einer Gesellschaft – sogar der Größere – rechtlos als Sklaven leben soll, damit der andere, kleinere Teil der Bevölkerung eine kulturelle Blüte hervorbringen kann. Unsere Gefühle sind an dieser Stelle oft sogar so stark verletzt, dass wir die kulturelle Blüte als Scheinblüte ansehen, weil sie nicht alle Menschen auf dem Territorium umfasst hat. Aber können wir uns andererseits wirklich vorstellen, was es bedeuten würde, wenn dieser Kulturimpuls ausgeblieben wäre? Wenn Homer nicht gedichtet hätte, es die Ilias und Odyssee nicht gäbe? Wenn die wunderbar vollkommenen Kapitelle auf der Höhe der griechischen Säulen nicht den Übergang zu den Architraven bildeten? Wenn Aristoteles nicht philosophiert und damit die Grundlage für alle Wissenschaft gelegt hätte? Oder, für die mehr sportlich Interessierten, wenn nicht alle vier Jahre das olympische Feuer in die Welt getragen würde? Ich glaube wir können es uns nicht wirklich vorstellen, zu tief liegt es in den Grundfesten unserer Kultur.
Wie aber ist das mit der Sklaverei zu verstehen? Wie ist es...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-7597-2726-3 / 3759727263 |
ISBN-13 | 978-3-7597-2726-8 / 9783759727268 |
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