Unsagbar (eBook)
208 Seiten
Mosaik (Verlag)
978-3-641-32146-8 (ISBN)
Laut Statistik ist jede siebte Frau in Deutschland betroffen von sexualisierter Gewalt, die Dunkelziffer ist noch erheblich höher.
Jana Baumann musste selbst erfahren, was das bedeutet, als sie im beruflichen Kontext vergewaltigt wurde. Die Tat ist für sie zunächst unfassbar - und doch eine Realität, mit der sie sich nun auseinandersetzen muss. Sie begibt sich zur Gewaltschutzambulanz, sucht Unterstützung bei LARA e.V. und berät sich mit Anwält*innen. Dabei erfährt sie, womit Betroffene sexualisierter Gewalt tagtäglich konfrontiert sind und wie wenig Unterstützung das Rechts- und Gesundheitssystem ihnen bietet.
Sie lernt viel, muss lernen ihren Umgang mit dieser Erfahrung zu entwickeln und setzt sich intensiv mit der Wirkung von struktureller Gewalt auseinander. Über den gesamten Prozess beginnt Jana Baumann Worte zu finden und ihre Stimme zu erheben. Gleichzeitig wirkt der Satz 'Ich bin vergewaltigt worden.' immer wieder unsagbar.
Unsagbar ist der Bericht einer Frau, deren Leben durch eine Vergewaltigung vollkommen umgekrempelt wird. Jana Baumann beschreibt direkt und erschütternd, wie sie ihren Weg gegangen ist, wie sie wieder Halt und Mut fand und warum sie bis heute nicht angezeigt hat, aber über ihre Erfahrungen spricht und sprechen möchte.
Dieses Buch ist Anstoß für einen Diskurs über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt, den es dringend braucht, um durch das Sprechen darüber den Handlungsraum für Täter*innen kleiner zu machen.
Angereichert wird das Buch durch Informationen von Janas Baumanns Beraterin bei LARA, Anne Roth, die traumatherapeutische Hintergründe erläutert.
Jana Baumann, geboren 1980 in Westberlin, ist nach einem Studium der Erwachsenenbildung Unternehmensberaterin mit systemischem Schwerpunkt. Sie begleitet Unternehmen in Prozessen der Organisationsentwicklung mit dem Fokus auf Kommunikation und Zusammenarbeit. Engagement für eine gleichberechtigte und diverse Gesellschaft ist ihr sehr wichtig. Nicht zu schweigen, wenn Unsagbares geschieht, hat sie für sich als eine Kraftquelle erkannt, insbesondere nachdem sie selbst sexualisierte Gewalt erleben musste. Unsagbar ist ihr erstes Buch.
Laufen lernen
Es sind jeden Tag neue Schritte, die ich mache, machen muss, machen möchte. Mit einem klaren Ziel: Dieses Erlebnis, die Vergewaltigung, der Typ sollen mich, mein Leben, so wenig wie möglich nachhaltig kaputt machen. Ich muss, ich möchte mich schützen. Möchte alles versuchen, um die Auswirkungen gering zu halten.
Ich möchte mein Leben zurück!
Also gut überlegen. Nachdenken, Jana. Was sind jetzt die richtigen Schritte?
Und ich merke, es ist ein neues Besinnen auf meine Intuition. Wenn alles »normal« verläuft, dann läuft man einfach. Der Weg ist ungefähr bekannt und berechenbar.
Jetzt ist es anders. Ich habe keine Erfahrung mit dieser Situation. Ich weiß nicht, was richtig, was falsch, was sinnvoll, was notwendig ist. Für mich. Und für all das, was in meinem Leben eine Rolle spielt. Weil diese Erfahrung plötzlich auf alles einen Einfluss zu haben scheint.
Also einen Schritt nach dem anderen. Laufen lernen mit diesem »unsichtbaren Elefanten im Raum«, der plötzlich in meinem Leben ist. Mich begleitet. Es ist das Bild, was dieses Erlebnis für mich am besten beschreibt – aus vielen Gründen. Es soll jedoch auf keinen Fall die Wunderbarkeit von Elefanten angreifen. Er symbolisiert für mich nicht die Tat.
Er symbolisiert die Erfahrung als neuen Begleiter. Er ist da. Ist schwer. Er ist riesig, und ich kenne das Leben mit einem Elefanten neben mir nicht.
Ich muss mich um ihn kümmern. Er ist nicht für alle sofort erkennbar, sichtbar. Aber ich muss und möchte ihn vorstellen, mein Umfeld muss wissen, dass ich jetzt mit einem Elefanten unterwegs bin.
Er braucht Aufmerksamkeit. Er fordert Raum. Er macht mich langsam, vorsichtig. Er fordert Auseinandersetzung mit meinem Leben. Wie bringe ich ihn darin unter?
Die ersten Schritte sind gemacht. Die ersten Gespräche überstanden. Mein Kollege, meine Freundin, mein Mann wissen Bescheid, und wir waren bei der Gewaltschutzambulanz. Ich rufe noch am selben Tag bei der Beratungsstelle LARA an. Ein Termin für wenige Tage später ist vereinbart.
LARA – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Frauen* in Berlin
Bei LARA können Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, kostenfrei und anonym Beratungen in Anspruch nehmen. Jeder Beratungsprozess orientiert sich an der jeweiligen Situation und den Bedürfnissen der Ratsuchenden.
Da jeder Mensch unterschiedlich auf Gewalterfahrungen reagiert und diese verschieden verarbeitet, gibt es kein allgemeingültiges Rezept für die Unterstützung nach sexualisierter Gewalt. Denn gerade nach der Erfahrung eines Kontrollverlustes ist es wichtig, dass die Betroffene die Kontrolle über das Vorgehen hat und ihren je eigenen Weg finden kann. Das Ziel der Beratungen bei LARA ist daher, einen Raum zu schaffen, in dem diese Suche nach den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, den jeweiligen nächsten Schritten stattfinden kann. Es wird versucht, das Geschehene zu bezeugen, den Betroffenen parteilich zur Seite zu stehen, ihnen Hilfsangebote zu machen und Möglichkeiten zu eröffnen. Die Entscheidung, welche der Elemente der Beratung eine Ratsuchende annehmen möchte, liegt bei ihr.
Die Beratungsprozesse sind so verschieden wie die Menschen, die sie in Anspruch nehmen. In manchen Beratungen geht es um akute Krisenbewältigung und um die Vermittlung von Wissen zu möglichen psychischen Gewaltfolgen. In anderen Beratungen stehen Schuld- und Schamgefühle, die Auseinandersetzung mit der auf eine Anzeige drängenden Beziehungsperson oder die Frage nach den nächsten rechtlichen Schritten im Vordergrund. Wieder andere Beratungen drehen sich vor allem um den Umgang mit zunehmenden Ängsten und Konzentrationsstörungen, Ess- und Schlafproblemen, um das Verstehen des Vertrauensverlusts, die möglichen Belastungen durch die Vernehmung oder um Gegenentwürfe zu einer zunehmenden sozialen Isolation.
Wenn nach der Beratungsreihe weiterer Bedarf nach Unterstützung besteht, wird zu entsprechenden Stellen vermittelt oder bei der Therapeut:innensuche unterstützt.
Das gibt mir Sicherheit für das bevorstehende Wochenende. Weil ich auch die Information erhalten habe, dass LARA mit Anwält:innen kooperiert und diese kostenlos beraten. Kontakt zu einer Anwältin ist mir absolut wichtig, um weitere Schritte zu planen und zu überlegen, was ich tun kann. Das stellt sich als eine sehr wichtige und gute Entscheidung heraus.
Als ich dann mein erstes Gespräch bei LARA habe, erfahre ich, dass es okay ist, dass ich mich fühle, wie ich mich fühle. Dass jedes Gefühl, das eine Person nach so einer Erfahrung hat, in Ordnung ist. Ich kann wieder sprechen und erlebe erneut, dass man mir glaubt. Mehr noch: Ich erfahre schon in der ersten Beratung, dass es nicht vorrangig darum geht zu überlegen, was mit dem mutmaßlichen »Täter«* ist und wie ein Vorgehen gegen ihn aussehen könnte.
Sondern, dass es erst einmal darum geht, dass ICH Stabilität bekomme.
Wir konzentrieren uns darauf, zu schauen, was meine Ängste sind und wie ich diesen begegnen kann.
Wir sorgen für mich und meinen neuen großen Begleiter.
Denn sosehr wir auch glauben (wollen), dass es doch ganz klar sei, dass es nur einen Weg gebe – zur Polizei, Anzeige erstatten –, so wenig hat dieser Glaube mit meiner Verfassung zu tun. Weil ich mich gar nicht in der Lage sehe, solche grundlegenden und für die kommenden Jahre bestimmenden Entscheidungen zu treffen. Weil ich Angst davor habe, was diese Schritte für Auswirkungen haben könnten. Weil ich Angst davor habe, was das für mich privat, beruflich, persönlich bedeutet. Weil ich Angst vor dem »Täter« habe. Weil ich noch nie jemanden angezeigt habe und das ganze juristische System nicht kenne. Weil mein Vertrauen in die Welt massiv gestört ist. Weil ich selbst noch gar nicht verstanden habe, was eigentlich passiert ist, und noch immer viel zu sehr damit beschäftigt bin, mich zu fragen, was ich falsch gemacht habe, wie ich die Tat hätte verhindern können, was mein Anteil daran ist.
Auf viele dieser Fragen habe ich bis heute keine Antwort. Und viele dieser Ängste sind auch heute noch sehr spürbar.
Und diese Fragen und Ängste bekommen bei LARA einen Raum. Sie dürfen sein und erfahren keine Verurteilung und provozieren keine Handlungen.
Der Fokus liegt darauf, zuallererst zu schauen, wie ich den nächsten Tag, die nächste Woche überstehen und gestalten kann, um das Gefühl einer inneren Sicherheit aufzubauen.
Und ich bekomme gleich den Hinweis, dass das ein Prozess ist, der dauern kann. Man macht mir das Angebot, dass LARA mich begleiten könne. Mir zur Seite stehen könne. So gut! Weil es nicht nur eine unabhängige Organisation ist, die mir außerhalb meines eigenen Lebenskontextes zur Verfügung steht, sondern weil ihre Mitarbeiterinnen erfahren sind mit solchen Situationen, und das gibt mir ganz viel Sicherheit und Halt.
Ich arbeite mit meiner Beraterin Anne Roth bei LARA über zwölf Monate zusammen. In der ersten Zeit einmal die Woche, dann zunehmend punktuell. Ich lerne dank dieser Organisation unglaublich viel – nicht nur an Werkzeugen für meinen Alltag, es ist für mich ein geschützter Raum, in dem ich meine Ängste und Sorgen ansprechen kann.
Ich erhalte ein Stück weit die »Erlaubnis«, dass es nicht nur in Ordnung, sondern wichtig ist, dass ich meinen eigenen Weg finde. Dass ich das Tempo, die Richtung, das Ziel selbst gestalten und jederzeit ändern darf. Ich habe das Gefühl, einen Ort gefunden zu haben, an dem man mich und meine Situation verstehen und professionell bewerten und sortieren kann. Ohne Urteil, ohne Druck. Mit beständigem Blick auf mich und meine ganz persönlichen Bedürfnisse und den Umgang mit meinem Elefanten.
Durch LARA habe ich verstanden, dass die Bilder, die wir von Vergewaltigungen haben, maßgeblich geprägt sind durch Vergewaltigungsmythen, die beständig reproduziert werden. In Filmen, in Büchern, durch das, was wir von klein auf als Mädchen und Frauen lernen, wovor wir uns zu schützen hätten.
Dass die Realität, oder sagen wir, die Zahlen, Daten und Fakten aber eine ganz andere Geschichte erzählen, hat mich viel lernen und verstehen lassen. Hat mich aufgewühlt und aufgerüttelt.
Vergewaltigungsmythen
Der sozialpsychologische Begriff »Vergewaltigungsmythen« bezeichnet gesellschaftlich wirksame, faktisch falsche Vorurteile über die Umstände sexualisierter Gewalt, die Betroffenen eine Mitschuld geben und die Täter:innen entlasten. Das Hauptmotiv sexualisierter Gewalt, Macht auszuüben und zu demütigen, wird durch diese Vorurteile verdeckt. So kommt es vielfach zu einer Täter-Opfer-Umkehr: Die Übergriffe werden bagatellisiert, und den gewaltbetroffenen Personen wird die Schuld zugewiesen.
Viele Betroffene sind durch die Mythen verunsichert, zweifeln an ihrer Wahrnehmung und fragen sich, ob sie etwas zu dem Übergriff beigetragen haben könnten. Sie suchen die Schuld bei sich und erzählen aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, nichts von der Gewalt. So erhöhen die Mythen die Schwelle, übergriffiges Verhalten öffentlich zu machen oder anzuzeigen.
Vergewaltigungsmythen sind sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch unter Fachkräften aus den Bereichen der Polizei, Justiz und Medizin weit verbreitet.
Beispiele für Vergewaltigungsmythen sind:
Mythos: Frauen provozieren eine Vergewaltigung durch ihr...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Bevor ich falle • Christina Klemm • eBooks • Empowerment • Erlebnisbericht • Feminismus • gegen frauenhass • Hilfe • Jeffrey Epstein • julian reichelt • laura leupi • Lilly Lindner • Machtmissbrauch • #metoo • Me too • Missbrauch • Neuerscheinung • noch wach? • Rammstein • Rape • Row Zero • Sexualisierte Gewalt • Sexueller Missbrauch • Sexueller Übergriff • Sieben Stunden im April • Splitterfasernackt • susanne preusker • Therapie • Till Lindemann • Trauma • Traumabewältigung • Vergewaltigung |
ISBN-10 | 3-641-32146-8 / 3641321468 |
ISBN-13 | 978-3-641-32146-8 / 9783641321468 |
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